Alice Schwarzer schreibt

Der Film „Smoke Sauna Sisterhood“

Foto: Ants Tammik/Alexandra Film
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Wenn eine gerade verzweifeln will über das entfremdete Niveau des westlichen Neofeminismus, erreicht sie die lebendige Sisterhood aus später erwachten Ländern. Wie dieser Dokumentarfilm aus Estland: „Smoke Sauna Sisterhood“. Allein schon das Wort: Sisterhood. Ja, ist das nicht von gestern? Nein, es ist von gestern, heute und morgen, wie dieser Film von Anna Hints zeigt.

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Die erste Szene: Eine Frau schlägt in einem tief vereisten See im Wald kraftvoll das Eis auf. Sodann schmilzt auch in der Rauchsauna der Eispanzer, den die Frauen um sich gelegt haben, zum Schutz. In dieser Rauchsauna – ein Gemisch aus offenem Feuer, Dampf und Sisterhood – brechen die Frauen ihr langes Schweigen. Sie reden. Sie vertrauen diesem kollektiven Frauenkörper nie Gesagtes an. 

Ein Ritual in Süd-Estland: Die Frauen treffen sich in der Rauchsauna. - Foto
Ein Ritual in Süd-Estland: Die Frauen treffen sich in der Rauchsauna.

Sie treiben den Schmerz aus sich heraus. Mit Wasser, mit der Blätterrute – und gemeinsam. Geständnisse über Gewalt. Die Gewalt früher Demütigungen durch Männer und Mütter, die die patriarchale Botschaft weitertragen. Gewalt durch Lieblosigkeit. Gewalt durch Vergewaltigung. Und
trotzalledem müssen die Frauen zwischendurch auch immer wieder lachen. Dieses mädchenhafte Kichern, das in intimen Situationen unter Frauen aufflammen kann.

Kathartische Stunden. Mystische Stunden. In der einsamen Hütte mitten im Wald

Ich kenne das aus der frühen Frauenbewegung. Wir hatten keine Sauna, aber das Consciousness Raising, die Bewusstwerdungs-Gruppe, in der wir uns im kleinen Kreis alles erzählten – ohne uns je dafür zu verurteilen. Es war die Geburtsstunde der Frauenbewegung.

In Süd-Estland ist es eine Tradition, die inzwischen sogar als „immaterielles Kulturerbe“ gilt. Die Frauen ziehen sich in eine einsame, autarke Hütte im Wald zurück und verbringen dort Stunden, bevor sie wieder auftauchen. Kathartische Stunden. Mystische Stunden. Sie reden – und sie hören sich zu. „Schmerz geh raus! Schmerz geh raus!“ Dieser rituelle Singsang wird begleitet von Schlägen mit einem Blätterbüschel auf den schweißüberströmten Körpern.

Die Doku wirkt so intim, als seien die Frauen ganz unter sich. Ist aber nicht so.
Die Doku wirkt so intim, als seien die Frauen ganz unter sich. Ist aber nicht so.

Früher wurden in solchen Hütten auch Kinder geboren und Tote gewaschen. Die elfjährige Anna Hints hat das erstmals mit ihrer Großmutter erlebt. Nach dem Tod des Großvaters ging die Großmutter mit ihr in die Rauchsauna und schrubbte sich das Jahrzehnte währende Martyrium ihrer Ehe vom Körper. Am nächsten Tag beerdigte sie ihren Mann, befreit. 

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Der Dokumentarfilm wirkt so intim, als seien die Frauen ganz unter sich. Die Fotografin, Filmemacherin und Sängerin Anna Hints hatte jedoch durchaus eine beachtliche Crew beim Dreh, die Kamera und den Ton machten Männer. Sie alle müssen sehr viel verstanden haben, um den betroffenen Frauen diesen Raum und das Vertrauen geben zu können. Die Frauen sind nackt, manche Gesichter sind zu sehen, manche nicht. Es geht um die Körper, die im Verlauf des Films zu einem kollektiven Frauenkörper verschmelzen. Verletzlich und stark zugleich.

Die Regisseurin hat an dem Film gesamt sieben Jahre lang gearbeitet und in der einen Hütte immer neue Gruppen begleitet. Manche Frauen kannte sie. Manche kamen dazu. Jede Frau hat ihren Part vor und nach dem Schnitt gesehen. Manche haben nachträglich bedauert, ihr Gesicht nicht gezeigt zu haben. Sie sind alle stolz auf ihren Film.

„Smoke Sauna Sisterhood“ erhielt auf dem internationalen Dokumentarfilm-Festival Sundance den ersten Preis für die beste Regie 2023. Der Film läuft am 23. November in den Kinos an.

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