Alice Schwarzer schreibt

Beauvoir - Eine solitäre Vordenkerin

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Das erste Mal traf ich sie im Mai 1970. Es war eine eher reservierte Begegnung. Ihrerseits. Und eine zufällige. Denn eigentlich war ich wegen Jean-Paul Sartre da. In dieser Zeit war ich freie Korrespondentin in Paris und zu einem Interview mit dem Philosophen zu der Frage der "revolutionären Gewalt" verabredet: Hat man das Recht zum Widerstand, und wenn ja, wie weit darf die "Gegengewalt" gehen?

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Da saß ich nun in seiner Ein-Zimmer-Wohnung am Boulevard Raspail. Interviewzeit dreißig Minuten. Kurz vor Ende des Gesprächs dreht jemand den Schlüssel im Schloss und betritt die Wohnung: Simone de Beauvoir. Sie wirft einen kurzen, irritierten Blick auf mich (und meine halblangen blonden Haare plus Minikleid) und erinnert Sartre knapp, fast schroff daran, dass sie beide gleich eine Pressekonferenz hätten. Dann setzt sie sich an Sartres Schreibtisch im Hintergrund des Zimmers und arbeitet.

Ich spüre ihre Verärgerung über die Verzögerung und werde verlegen. Erstmals lerne ich Beauvoirs "tête de chameau" (wörtlich übersetzt: Kamelkopf) kennen, das heißt ihre berüchtigt abweisende Miene, wenn ihr Situationen oder Menschen nicht passen. Sie ist, das begreife ich später, ein sehr absoluter Mensch. Kehrseite der Medaille: Wen sie einmal ins Herz geschlossen hat, der ist da auch nur schwer wieder zu entfernen.

Noch heute spüre ich, wie aufgeregt ich damals war. Schon wegen Sartre, der ja in Frankreich zu der Zeit der "Compagnon de route", der Wegbegleiter der 68er-Generation war, und in diesen Jahren mit seiner radikalen Solidarität mit der Jugendrevolte Furore machte. Und dann auch noch Beauvoir … Mit ihr hatte ich doch eigentlich noch viel, viel mehr zu tun als mit Sartre.

Hätte mir damals jemand gesagt, dass wir Freundinnen werden würden, ich hätte es wohl kaum geglaubt. Noch weniger aber hätte ich mir vorstellen können, dass Simone de Beauvoir, die damals weltweit rezipiert und geschätzt wurde, nur wenige Jahre später missverstanden, ja missachtet oder gar fast vergessen sein könnte.

Am 9. Januar 2008 wäre Simone de Beauvoir hundert Jahre alt geworden. Ein guter Anlass, Beauvoir zu lesen, Beauvoir wieder zu lesen. Und in der Tat: Selbst ich, die ich relativ vertraut bin mit ihrem Werk, entdecke Neues, Überraschendes. Immer wieder hingerissen bin ich von der Klarheit ihres Denkens, der Unteilbarkeit ihres Gerechtigkeitssinns und der Kühnheit ihrer Visionen in den politischen Essays, allen voran "Das andere Geschlecht". Gerührt bin ich von ihrer Leidenschaft und Verletzlichkeit, die in den Memoiren und Briefen so offenkundig werden. Und beschämt bin ich, dass ich zwei ihrer schönsten Bücher bis heute nicht gelesen hatte: "Die Welt der schönen Bilder" und "Eine gebrochene Frau".

Dabei erschienen diese Erzählungen nur wenige Jahre vor unserer persönlichen Begegnung. Doch das waren die bewegten Jahre um den Mai ’68 und den Aufbruch der Frauenbewegung. Jahre, in denen Beauvoir selbst erklärt hatte, sie wolle in Zukunft keine Literatur mehr schreiben, das schiene ihr nur noch "eitel" – was falsch war, aber auch unkonventionelle Geister stehen eben nie außerhalb ihrer Zeit.

Beim Wiederlesen bestätigt sich, dass die Literatur, Philosophie, Essays und Memoiren sowie, posthum, die Briefe von Simone de Beauvoir eine untrennbare Einheit bilden. Alle Genres bedingen und befruchten sich gegenseitig, ihre Quelle sind Beauvoirs Leben und ihre (noch unveröffentlichten) Tagebücher. "Mein Werk ist mein Leben", hat sie selbst einmal gesagt. Und in der Tat: Es sind Werk und Leben, die diese einflussreichste weibliche Intellektuelle des 20. Jahrhunderts zum Role Model für mehrere Frauengenerationen gemacht haben.

Selbstverständlich ist das Erbe von Simone de Beauvoir nicht auf den feministischen Aspekt zu beschränken – doch es gibt keine Zeile, die nicht durchdrungen wäre von der Tatsache, dass sie eine Frau ist in einer Männerwelt. Auch ihre Philosophie ist davon geprägt. Im "französischen Existentialismus" ist der Mensch kein Getriebener mehr, sondern ein frei Handelnder; ja, er entwirft sich überhaupt erst durch sein über ihn hinausgehendes Handeln, das er nicht einer übergeordneten Macht überlässt, sondern für das er die Verantwortung übernimmt. Doch nicht zufällig ist sie es, die Frau, die darauf hinweist, dass nicht alle Menschen gleich frei sind zu handeln.

So wie Sartre für einen Teil der neuen Linken zum "compagnon de route" geworden war, so wurde nun auch Beauvoir für eine bestimmte Strömung der Frauenbewegung zur Wegbegleiterin – für die Antibiologistinnen bzw. Universalistinnen, die gegen eine "natürliche Rolle der Frau" und damit des Menschen überhaupt und für die Gleichheit aller Menschen eintreten.

Im September 1970 stieß ich zu dem Häuflein Pionierinnen. Bereits im Frühling galten wir als Bewegung und hatten auch schon einen Namen: "Mouvement de Libération des Femmes", kurz MLF genannt. Wir lancierten eine spektakuläre Kampagne nach der anderen, unter anderem die gegen das Abtreibungsverbot. 343 Frauen, darunter etliche bekannte, erklärten öffentlich: "Ich habe abgetrieben, und ich fordere dieses Recht für jede Frau!" Simone de Beauvoir war eine von ihnen. (Und ich exportierte die Idee von Frankreich nach Deutschland.) Von da an hat Beauvoir mit den Feministinnen, denen sie politisch wie emotional vertraute, zusammengearbeitet. Sie hat uns nie etwas abgeschlagen.

Zu unseren Terminen, egal, ob es um politische Aktionen oder ein privates Essen ging, erschien Simone de Beauvoir immer sehr pünktlich. Wenig hasste sie so sehr wie Unpünktlichkeit. Sie hatte keine Zeit zu verlieren, war in den Diskussionen von schneidender Klarheit und mitreißendem Anarchismus: Nichts war ihr zu radikal. Doch in ihrem Auftritt war sie oft überraschend wohlerzogen – die Art, wie sie ihre Handtasche auf den Knien umklammert halten konnte …

Es war eine Zeit des Aufbruchs, alles schien möglich, die politische Arbeit war wie ein Rausch, der unser ganzes Leben erfasste. Abende, ausgefüllt mit Treffen, Gesprächen, Essen, Aktionen. "Les bouffes avec Simone" wurden bald zur lieben Gewohnheit. Alle paar Wochen wurde reihum gekocht, allerdings nie bei ihr: Sie hasste es zu kochen. Meist bei mir: Ich liebe es zu kochen. Sechs bis acht Frauen waren wir, gevöllert wurde, getrunken und gelacht – und Pläne wurden geschmiedet.

Bei einem dieser "bouffes" entstand 1971 die Idee meines ersten Interviews mit Beauvoir. Ich fand es wichtig, dass die "Bekehrung" der einst distanzierten Theoretikerin zum aktiven Feminismus öffentlich gemacht wurde. Denn mit dem Erscheinen ihres Buches "Das andere Geschlecht" 1949 hatte ja ausgerechnet die von nun an bedeutendste feministische Philosophin des Jahrhunderts sich von der Notwendigkeit der Existenz einer Frauenbewegung distanziert. Sie hatte immer wieder erklärt, sie glaube an "eine automatische Lösung der Frauenfrage innerhalb des Sozialismus". Doch der "reale Sozialismus" sollte in der Folgezeit nicht nur Beauvoir und Sartre dank Stalinismus und Poststalinismus desillusionieren.

Dieses erste Interview machte auch wegen dieser politischen Wende Geschichte. Es erschien Anfang 1972, also zu einer Zeit, in der die beginnenden Frauenbewegungen in allen westlichen Ländern in einem zäh-legitimatorischen Clinch mit den Linken lagen, aus deren Reihen sie zum Teil kamen. "Ich bin Feministin!", erklärte die Gefährtin von Jean-Paul Sartre, der ja mit der radikalen Linken verbandelt war, nun öffentlich. Sie bekannte sich zu der Notwendigkeit einer autonomen, von der Linken unabhängigen Frauenbewegung und kritisierte die "Genossen" in den kapitalistischen wie in den sozialistischen Ländern. Unser Gespräch wurde weltweit übersetzt, bis ins Japanische, und kursierte in zahllosen Frauengruppen als Raubdruck.

Schon Mitte der 70er-Jahre warnte Simone de Beauvoir dann in unserem dritten Interview vor den sich – bereits jetzt! – abzeichnenden Tendenzen einer Renaissance des Glaubens an die "Natur der Frau" (und damit auch des Menschen überhaupt). Sie spottete: "Da man den Frauen nicht die Schönheit des Geschirrspülens preisen kann, preist man ihnen die Schönheit der Mutterschaft."

Beauvoirs Aussagen zur Frage der Mutterschaft lösten wahre Proteststürme aus (Ganz wie beim Erscheinen von "Das andere Geschlecht", wo die Kapitel über Liebe, Homosexualität und Mutterschaft tumultartige Reaktionen hervorgerufen hatten). Bis an ihre Pariser Privatadresse schrieben Frauen aus aller Welt der Schriftstellerin: Sie haben etwas gegen Mütter! Sie sind wohl frustriert! Schütten Sie das Kind doch nicht mit dem Bade aus! Und bis heute beharren alle, die die Radikalität und mangelnde Bereitschaft zum (Selbst)Betrug im Denken von Simone de Beauvoir nicht aushalten, darauf sie misszuverstehen.

Wie oft eigentlich hat Beauvoir in ihrem Leben auf die Frage antworten müssen, ob ihr als Nicht-Mutter nicht doch etwas Entscheidendes fehle …? Hat man jemals Sartre gefragt, ob er sich trotz seiner fehlenden Vaterschaft als vollständiger Mensch fühle? Bei einigen ihrer Statements zum Thema Mutterschaft scheint darum eine gewisse Gereiztheit durch, aber auch der heilige Zorn über die Tendenz zum Selbstbetrug der Frauen, zur "mauvaise foi".

Was also sagt Simone de Beauvoir wirklich zur Mutterschaft? Dass die Mutterschaft an sich kein kreativer Akt, sondern eine biologische Gegebenheit sei. Dass im Namen der Mütterlichkeit vor allem die Frauen für das Versorgen der Kinder verantwortlich gemacht würden, jedoch Mütterlichkeit keineswegs angeboren, sondern anerzogen sei. Dass sich aus der Fähigkeit zur biologischen Mutterschaft (zum Gebären) nicht zwangsläufig die Verpflichtung zur sozialen Mutterschaft (zum Aufziehen) ergebe. Dass die Mutterschaft keine Lebensaufgabe für eine Frau sei. Dass die Mutterschaft Frauen unter den heutigen Bedingungen oft zu wahren Sklavinnen mache und sie ans Haus binde. Und dass es darum um die Aufkündigung dieser Art von Mutterschaft gehen müsse, das heißt der traditionellen Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern. Etwas anderes sagt heute die CDU-Familienministerin auch nicht. Allerdings: Sie sagt es dreißig Jahre später.

In unserem 1976 geführten, dritten Interview hielten wir es beide für wichtig, auch und gerade den Weiblichkeitswahn im Namen des Feminismus zu thematisieren. Simone de Beauvoir attackiert in aller Schärfe jeden Glauben an ein "Anders-" und ein "Besser-Sein" von Frauen: "Das wäre finsterer Biologismus und steht in krassem Gegensatz zu allem, was ich denke. Wenn man uns sagt: Immer schön Frau bleiben, überlasst uns nur all diese lästigen Sachen wie Macht, Ehre, Karrieren, seid zufrieden, dass ihr so seid: erdverbunden, befasst mit den menschlichen Aufgaben … Wenn man uns das sagt, sollten wir auf der Hut sein!"

Soweit die Feministin Beauvoir. Beim Lesen des Gesamtwerkes der Schriftstellerin Beauvoir fällt auf, dass nach den frühen philosophischen Essays und den im und nach dem Krieg veröffentlichten "Ideenromanen" eine Wende stattfindet in Beauvoirs Werk. In den frühen Romanen sind die ProtagonistInnen und Handlungen noch Träger moralischer Fragen und existentialistischer Überzeugungen. Doch ab Mitte der 50er Jahre konstruiert sie die Personen nicht mehr von der Idee her, sondern schlüpft in die Haut ihrer ProtagonistInnen und überlässt ihre Entwicklung dem ganz und gar nicht immer politisch korrekten, widersprüchlichen Leben.

Es beginnt mit ihr selbst, mit ihrem 1958 veröffentlichten ersten und dichtesten Memoiren-Band, dem über ihre Kindheit und Jugend ("Memoiren einer Tochter aus gutem Hause"); es geht weiter mit dem 1964 veröffentlichten Essay über die Agonie und den Tod ihrer Mutter; und es reicht bis Laurence und Monique, diesen so erschütternd einfühlsam geschilderten "ganz normalen" Frauenleben (in "Die Welt der schönen Bilder" und "Eine gebrochene Frau").

Ausgerechnet dieser Autorin wird bis heute immer wieder Ignoranz gegenüber dem traditionellen Frauenleben oder gar "Frauenfeindlichkeit" vorgeworfen. Nach Lektüre dieser Texte ist das kaum zu verstehen. Denn das Gegenteil ist der Fall: Sie versteht auf eine fast unheimliche Weise alles.

Aber wer ist sie? Sie ist eine Frau, die sich, geprägt vom 19. Jahrhundert, im 20. in das 21. Jahrhundert hinein schrieb; eine Frau, die zu einer Zeit für uneingeschränkte Gleichberechtigung plädierte, als das noch unerhört war – und die gleichzeitig um ihre "weibliche" Prägung nur allzu gut wusste; eine Frau, die nie ein Mann sein wollte: "Die Frau kann nur dann ein vollständiges Individuum sein, wenn sie auch ein geschlechtlicher Mensch ist", schreibt Beauvoir im "Anderen Geschlecht". Denn "auf ihre Weiblichkeit verzichten hieße, auf einen Teil ihrer Menschlichkeit verzichten".

"Nie habe ich die Hilferufe vergessen", schreibt Simone de Beauvoir in ihrem zweiten Memoiren-Band, "die ich als junges Mädchen an die Frau richtete, die mich – Leib und Seele – in sich aufnehmen würde. (…) Mein erinnerndes Bewusstsein hat für das Kind und das junge Mädchen – die beide auf dem Grund der verlorenen Zeit ausgesetzt und mit ihr verloren sind – das Wort ergriffen." Insgesamt schrieb Beauvoir vier Memoiren-Bände: rund 2.000 Seiten Spurensicherung und Selbstversicherung zugleich. Am Beispiel ihres eigenen Lebens macht sie die Wechselwirkung zwischen Erfahrung, Prägung und Erkenntnis transparent. Zu ihren philosophischen Essays und Romanen treten als dritter Strang ihres Werkes die Lebenserinnerungen. Die Zeitspanne des ersten Memoiren-Bandes reicht von der Geburt bis zur ersten Begegnung mit Sartre.

Beauvoir schildert minutiös, wie das am 9. Januar 1908 in Paris geborene kleine Mädchen zu der jungen Frau wurde, die sie war – und was die erwachsene Frau daraus gemacht hat. Ganz im Gegensatz zum Klischee von der kopflastigen Intellektuellen sind ihre Erinnerungen bilderreich, sinnlich, ja leidenschaftlich. Wir erleben, wie das Mädchen – zunächst nur heimlich in seinen Träumen und dann zunehmend offen – aus der Enge der bürgerlichen Welt ausbricht und darum ringt, ein Recht auf Kopf und Herz zu haben – und wie sie den Glauben an Gott verliert.

Der Vatertochter Simone war als junges Mädchen wegen des materiellen Abstiegs ihrer großbürgerlichen Familie und der fehlenden Mitgift schon früh die Flucht in die Ehe verbaut. Nach einer frühkindlichen, zärtlichen Verbundenheit begann sie, ihre abhängige, in der Passivität verharrende Mutter zu verachten und sich nicht mit ihrem Frausein zu begnügen. Es dürstet sie nach "männlichen" Freiheiten – im Denken wie im Leben. Doch sie bleibt gleichzeitig ein emotional "weiblich" geprägter Mensch, was sich vor allem in ihrem Verhältnis zu Sartre zeigt. Für seine oft kindlich grausame, emotionale Enthemmtheit als Verführer bringt sie lebenslang ein im Rückblick schwer nachvollziehbares Verständnis auf.

Sie ist 21, er drei Jahre älter, als die beiden auf einer Steinbank am Louvre ihren berühmten Pakt schließen, der in den folgenden Jahrzehnten noch zweimal erneuert werden wird. Der Pakt besagt, dass es sich bei ihrer Beziehung um eine "notwendige Liebe" handele, die nicht in Frage gestellt werden dürfe und lebenslang Priorität haben solle – die jedoch gleichzeitig "Zufallslieben" nicht ausschließe. Es war Sartres Idee, er gab den Takt vor. Was ihn gleichzeitig nicht hinderte, Beauvoir in heiklen Situationen, wenn sie verunsichert war, mehrfach einen Heiratsantrag zu machen – den sie jedes Mal ablehnte, im Namen der gemeinsam beschlossenen Freiheit.

In den folgenden Jahrzehnten spielten immer wieder "Dritte" eine Rolle im Leben beider; bei ihr einmal bis zur Schmerzgrenze (im Fall Nelson Algren), bei ihm dreimal (bei Wanda Kosakiewicz, Dolorès Vanetti und Arlette Elkaïm). Hinzu kam sein sich immer schneller drehendes Frauenkarussell. Am Lebensende hatte er neben Simone de Beauvoir drei Hauptfrauen, mit denen er seit Jahrzehnten verbunden war, und die alle ökonomisch von ihm abhängig waren; plus bis zuletzt wechselnde Nebenfrauen.

Bei der 34 Jahre jüngeren Arlette Elkaïm, einer algerischen Jüdin ohne französische Staatsangehörigkeit, ging Sartre sogar so weit, sie 1965 zu adoptieren. Und da Sartre es nicht für nötig hielt, ein Testament zu hinterlassen, hatte die Adoption die absehbaren desaströsen Folgen. Arlette Elkaïm missbrauchte nach dem Tod Sartres ihre formale Macht als Adoptivtochter, räumte innerhalb von Tagen die Wohnung Sartres aus, während Beauvoir unter dem Schock des Verlustes ihres "Zwillings" im Krankenhaus mit dem Leben kämpfte, und ließ die Schlüssel austauschen. Simone de Beauvoir erhielt von ihrem Gefährten kein einziges Erinnerungsstück, noch nicht einmal den Melkschemel aus dem Elsass, der den spartanisch wohnenden Sartre lebenslang begleitet hatte.

Es lässt sich also durchaus auch Kritisches über die Beziehung der beiden sagen, über die Freiheiten, die er sich nahm, und die Zumutungen, die sie hinnahm. Und dennoch. Dennoch sind sie eines der größten Liebespaare des 20. Jahrhunderts und verband die beiden bis zum letzten Atemzug nicht nur ein immenses intellektuelles und politisches Einverständnis, sondern auch eine zärtliche Liebesbeziehung, mehr noch: "das Zwillingszeichen auf unserer Stirn" (Beauvoir). Die unerschütterliche Basis der Beziehung war beider Leidenschaft für das Denken, Schreiben und Handeln.

Wobei ihr Verstand schon auf der École Normale, der Eliteschule, die beide mit Bravour absolviert hatten, als "männlicher" galt als seiner – und sie im Rückblick als eine "in der Literatur kaschierte Philosophin" gilt und er als "philosophierender Schriftsteller".

Noch kurz vor seinem Tod 1980 sagte Sartre über ihre Art der Zusammenarbeit: "Ich konnte Simone de Beauvoir gegenüber Gedanken formulieren, die noch nicht ganz zu Ende gedacht waren. Ich habe ihr alle meine Ideen dargelegt, als sie im Entstehen begriffen waren. Nicht nur deshalb, sondern auch, weil sie mich und das, was ich vorhatte, genauso gut kannte wie ich selbst. Sie war daher der ideale Gesprächspartner, ein Partner, wie man ihn kaum jemals findet. Aber das Einzigartige bei Simone de Beauvoir und mir ist unser Verhältnis der absoluten Gleichberechtigung."

Und sie? Auch er hörte ihr zu, interessierte sich wirklich für sie. "Wenn andere Leute mein Wesen zu deuten behaupteten, so taten sie es, indem sie mich als einen Annex ihrer eigenen Welt betrachteten", sagte Beauvoir. "Sartre hingegen versuchte, meinen Platz in meinem eigenen System zu respektieren, er begriff mich im Licht meiner Werte und Projekte."

Und nach seinem Tod sagte sie zu ihrer Biographin Deirdre Bair (deren Herangehensweise sie später missbilligte, da sie sie zu interpretativ fand): "In den Memoiren habe ich geschrieben, dass, sollte Sartre sich mit mir zu einer bestimmten Stunde eines bestimmten Tages und Jahres an einem weit entfernten Ort verabreden, ich mich im vollen Vertrauen darauf, ihn anzutreffen, dorthin begäbe. Denn auf Sartre konnte ich mich immer absolut verlassen. Nun, das stimmte auch nach so vielen Jahren noch. Trotz allem, was wir durchgemacht hatten – nein, vielleicht gerade deswegen –, konnten wir uns stets aufeinander verlassen. Er würde mich niemals enttäuschen – ich würde ihn niemals im Stich lassen." Ersteres traf vielleicht nicht immer ganz zu, zweiteres jedoch uneingeschränkt.

Und dann ist da noch etwas: Simone de Beauvoir erlaubte sich einen "männlichen Verstand" zu einer Zeit, in der dieses keineswegs selbstverständlich war für eine Frau (und es ja bis heute nicht ist). 1937 wurden ihre ersten Erzählungen von zwei Verlagen abgelehnt, darunter Gallimard, mit der Begründung, dass man "Bücher nicht verstehe, die von Frauen über Frauen meiner Generation und Herkunft geschrieben wurden; dass das moderne Frankreich und die französischen Verlage sich noch nicht dafür interessierten, was Frauen dachten, fühlten und wollten" (Simone de Beauvoir gegenüber Bair). Die "moderne Frau" war also noch stumm. 42 Jahre später veröffentlicht Beauvoir 1979 die Texte unter dem Titel "Marcelle, Chantal, Lisa …". Jetzt war die Zeit reif.

Es stellt sich also die Frage, ob Sartre für Beauvoir nicht noch viel mehr war als "nur" der Gefährte und Zwilling. War er nicht darüber hinaus eine Art Medium, das ihr, der stummen Frau, erlaubte, sich "männlich" zu artikulieren? Dafür spricht auch ihre lebenslange intensive Mitarbeit an Sartres Denken und Schreiben – bis hin zu Texteinfügungen in seine Manuskripte, die er wortwörtlich übernahm.

Eines der weiteren Geheimnisse, warum der "Pakt" letztendlich trotz aller Belastungen lebenslang gehalten hat, war wohl auch der geringe Stellenwert der Sexualität zwischen Beauvoir und Sartre. Denn Sartre war, eingestandenermaßen, nie ein großer Liebhaber gewesen, im Gegenteil: Er galt auf diesem Gebiet eher als tollpatschig und unsensibel. Ihn interessierte vor allem das Erobern und Verführen, aber nicht der Akt an sich. In den späten Gesprächen, die Beauvoir in ihrem Buch über Sartres Agonie und Tod veröffentlichte ("Zeremonie des Abschieds"), spricht sie ihn auf seine "Frigidität" an und er bestätigt: "Ich war eher ein Frauenmasturbierer." Das Dynamit, das Sexualität in einer Beziehung sein kann, war in diesem Fall nur Knetmasse. Auf dem Gebiet also war die Infragestellung der Exklusivität von Sartre kein großer Verlust für Beauvoir.

Im Gegenteil: Die von Sartre vorgegebene offene Beziehung gab auch Beauvoir die Freiheit anderer Liebesbeziehungen. Das begann mit einer zärtlichen Liebschaft mit dem jungen Bost, einem Ex-Schüler und Anhänger von Sartre, ab Ende der 30er Jahre; und ging bis zu der leidenschaftlichen Affäre mit Nelson Algren (in der Beauvoir ihren ersten Orgasmus hatte, im Alter von 39 Jahren, wie sie mir Ende der 70er Jahre anvertraute), bis hin zu der späten Beziehung mit Sylvie le Bon, die neben dem kranken Sartre zunehmend Raum griff. Ganz zu schweigen von ihren lebenslangen Liebesbeziehungen mit Frauen.

Ihre Bisexualität hat Simone de Beauvoir in den Memoiren nur gestreift, in den Briefen an Sartre jedoch offen thematisiert: von Olga über Bianca bis Sorokine. Dabei fällt auf, dass sie keiner Frau in ihrem Begehren jemals einen so bedeutenden Platz eingeräumt hat wie den in ihrem Leben wichtigen Männern, ja mehr noch: In den Briefen an Sartre versucht sie, die erotische und emotionale Bedeutung der Frauen herunterzuspielen.

Frauenliebe, das war für Simone de Beauvoir offensichtlich Verlockung und Gefahr zugleich. Denn schon die heftigen und abwertenden Reaktionen auf den frühen Verdacht ihrer Bisexualität hatten ihre gesellschaftliche Stellung ins Wanken gebracht. Und sie muss gespürt haben, dass sie ihren Anspruch auf Ganzheitlichkeit nur mit der Unterstützung eines Mannes realisieren konnte, bzw. mit einem Mann an ihrer Seite.

Nur eine Frau hat in ihrem späteren Leben einen vorrangigen Platz eingenommen: das ist Sylvie le Bon, die jüngere Philosophielehrerin. Beauvoir begegnete Sylvie 1960 zum ersten Mal, nachdem die damals 18-jährige Schülerin sie um eine Unterredung zu ihren philosophischen Schriften gebeten hatte. Die Beziehung zu Sylvie wird ab 1965 enger, als sie mit der nun 23-Jährigen eine Reise nach Korsika macht. Von da an werden die beiden Frauen immer unzertrennlicher und sprechen von "Liebe" – aber schweigen über Sexualität. In dem Interview, das ich 1978 mit Simone de Beauvoir führte, antwortete sie auf die Frage, ob es Dinge gäbe, die sie in den Memoiren nicht gesagt habe, aber heute schreiben würde: "Ja. Ich hätte gerne eine wirklich sehr ehrliche Bilanz meiner eigenen Sexualität gezogen. Und zwar vom feministischen Standpunkt aus. (…) Doch ich werde voraussichtlich heute nicht mehr darüber schreiben, weil von dieser Art von Geständnis nicht nur ich, sondern auch einige Personen, die mir sehr nahestehen, betroffen wären."

Sylvie füllt ab Mitte der 70er Jahre die Lücke, die der allmählich in der Krankheit versinkende Sartre lässt. Nach dem Tod Sartres adoptiert Beauvoir die 34 Jahre Jüngere, damit sie sich später uneingeschränkt um ihr Erbe kümmern kann. In der Tat ist es Sylvie le Bon, die in den vergangenen Jahren die Briefe und Tagebücher aufgespürt, Beauvoirs quasi unleserliche Schrift entziffert und die Texte herausgegeben hat.

Als das posthume Erscheinen der Beauvoir-Briefe 1990, vier Jahre nach ihrem Tod, enthüllt, dass der "reizende Biber" (castor, wie Sartre und die "kleine Familie" sie nennen) seinem "geliebten kleinen Geschöpf" (wie sie ihn vorzugsweise anspricht) die Liaisons mit Frauen meist als unbedeutend, ja "lästig" dargestellt hat, ist eine ihrer frühen Freundinnen, Bianca Bienenfeld (in den Memoiren Védrine), so verletzt, dass sie, ein halbes Jahrhundert später, zur Abrechnung schreitet. Sie veröffentlicht 1993 die "Memoiren eines getäuschten Mädchens" ("Mémoires d’une jeune fille dérangée" – in Anspielung auf Beauvoirs "Mémoires d’une jeune fille rangée"). Darin beklagt die Gekränkte sich bitter über die "Skrupellosigkeit" des allzu freien Paares.

Das ist Wasser auf die Mühlen derer, die schon lange dem Mythos Beauvoir/Sartre an den Kragen wollten, an dem sie zuvor selber fleißig mitgestrickt hatten. Nicht nur Beauvoirs Werk sei fragwürdig, hieß es nun, auch ihr Leben sei alles andere als nachahmenswert. Gedemütigt habe sie ein Leben lang Sartres Harem ertragen, und Frauen gegenüber habe sie sich schlimmer verhalten als jeder Kerl. Von den verpassten Wonnen der angeblich so schroff abgelehnten Mutterschaft ganz zu schweigen …

Zu Lebzeiten Sartres war Beauvoir geschützt gewesen durch den Status als "Frau an seiner Seite". Die Demontage begann prompt nach seinem Tod 1980 und mit Aufkommen des Differenzialismus, dieser dem uneingeschränkten Gleichheitsgedanken von Beauvoir diametral entgegengesetzten Überzeugung von einem "wesensmäßigen" Unterschied zwischen den Geschlechtern, qua Geburt oder Prägung, auf jeden Fall irreversibel. Gerade Linke und Feministinnen, die einst selbst zur adorierenden Mythenbildung beigetragen hatten, rechneten jetzt mit den einst so Verehrten ab. Vor allem mit ihr. Was nicht neu ist. Auch bei Erscheinen des "Anderen Geschlechts" kamen die hämischsten Reaktionen aus den eigenen Reihen, von Linken und aus dem akademischen Milieu, das diesen Jahrhunderttext als "unwissenschaftlich" abqualifizierte.

Und bis heute sind die Reaktionen gerade intellektueller Frauen auf diese eine Frau, die das Leben von Millionen Frauen beeinflusst und verändert hat, so manches Mal kleinlich und engherzig, nicht ambivalenzfähig. Sie scheinen sich einerseits blind mit dem Vorbild zu identifizieren, andererseits das zu menschliche Idol für ihr eigenes Ungenügen zu verurteilen. Oder sie leiden daran, von der Adorierten nicht geliebt worden zu sein.

Der Konflikt um Simone de Beauvoir hat allerdings keineswegs nur psychologische, sondern auch handfeste politische Gründe. Denn die Kritik an der führenden Denkerin des universellen Feminismus ist immer auch eine Kritik am universellen Feminismus. Doch wie auch immer die jeweiligen Moden und Gewichtungen waren und sein werden: Niemand hat so brillant Zeugnis abgelegt über das Frausein im 20. Jahrhundert und die Kulturgeschichte der Frauen – und niemand ist mit solchen Siebenmeilenstiefeln in das 21. Jahrhundert vorangeschritten. Kein Zweifel: Die Neue Frauenbewegung wäre ohne diese eine solitäre Vordenkerin in ihrer Konsequenz nicht denkbar gewesen.

Simone de Beauvoir gehörte zu der ersten Generation der weiblichen Elite des 20. Jahrhunderts, die Zugang zu der bis dahin ausschließlich Männern vorbehaltenen Bildung hatte. Die Pariser Intellektuelle brach aus der Enge des Bürgertums aus und stürmte hinein in die Welt. Von Anfang an wollte sie beides sein: Objekt und Subjekt, Frau und Mann, Mensch. Sie wusste um die unterschiedlichen Prägungen und Realitäten der Geschlechter – aber sie nahm sich dennoch die existentialistische Freiheit der Wahl. Diese Frau wollte sich nicht länger teilen lassen in Kopf oder Körper, in geachtet oder begehrt. "Sie wollte sowohl als Intellektuelle als auch als Frau verführen", schreibt Toril Moi in ihrer differenzierten "Psychographie einer Intellektuellen".

Die Erfahrungen dieser Generation, in der einzelne Pionierinnen glaubten, es bereits geschafft zu haben, ist darum lehrreich für die Enkelinnen, die heute alle einen uneingeschränkten Zugang zu Bildung und Beruf haben. Zumindest in den Demokratien. Und zumindest auf dem Papier. Denn die Enkelinnen der Emanzipation stehen heute vor derselben Aufgabe wie einst Simone de Beauvoir: Erkenntnis und Handeln, Verstand und Gefühl auf einen Nenner zu bringen. Simone de Beauvoir hat es ihnen in einsamer Größe vorgelebt. Sie ist manchmal gescheitert, aber sie hat auch viele Siege davongetragen. Sie hat ganz einfach ihr Leben in die Hand genommen – entschlossen, glücklich zu sein.

Der Text basiert auf den einleitenden Essays von Alice Schwarzer zu ihren beiden Büchern über Simone de Beauvoir, die gerade erschienen sind: "Alice Schwarzer/Simone de Beauvoir – Weggefährtinnen im Gespräch", die neu aufgelegten Gespräche aus den Jahren 1972–1982 (KiWi), und dem "Lesebuch mit Bildern", eine von Alice Schwarzer ausgewählte Anthologie aus Beauvoirs Schriften (Rowohlt) (erhältlich im EMMA-Shop)

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