Sehr geehrte Frau Ministerin Schröder

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Seit Ihrem Amtsantritt als Frauenministerin sind Sie schwer damit beschäftigt, sich die „Jungenpolitik“ auf ihre Fahnen zu schreiben. Und wissen Sie was? Das ist super! Das heißt: Es könnte super sein, wenn Sie dabei ein paar Dinge bedenken würden.

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Fangen wir ganz vorne an. Zunächst mal scheint es ja so, dass Sie Jungen- und Männerpolitik für Ihre ureigenste Erfindung halten. Diese aus Ihrer Sicht brandneue Idee müssten Sie aber, sagen Sie, heroisch gegen den erbitterten Widerstand so genannter „Altfeministinnen“ verteidigen. Sie schreiben: „Wir haben uns so sehr an den Monopolanspruch der Frauenpolitik auf alle Belange der Gleichberechtigung gewöhnt, dass der Gedanke, Jungen und Männer stärker in die Gleichstellungspolitik einzubeziehen, im besten Fall ignoriert und im schlechtesten Fall als Verrat an den Zielen der Frauenbewegung gebrandmarkt wird.“

Denn: „Dieses Denken ist geprägt vom Feminismus des vorigen Jahrhunderts, der zum Geschlechterkampf blies und Frauen- und Männerpolitik nicht selten gegeneinander ausspielte.“

Liebe Kristina Schröder, Sie müssen jetzt ganz tapfer sein, denn es ist so: Die Forderung nach Jungenarbeit ist schon ungefähr so alt wie Sie selbst. Denn, und das ist nun sicher ein Schock für Sie: Sie ist eine Idee der Frauenbewegung. Das heißt, es waren die aus Ihrer Sicht so vorgestrigen „Altfeministinnen“, die gleich mit der Entstehung der Mädchenarbeit erklärten, dass es für ein gleichberechtigtes Zusammenleben der Geschlechter natürlich nicht nur wünschenswert, sondern unumgänglich sei, dass sich auch Jungen (und Männer) mit ihrer Rolle auseinandersetzen. Und es sind Feministinnen und mit ihnen solidarische Männer (die gibt’s!), die seit langem beklagen, dass die Jungen mit ihrer Verwirrung und Verunsicherung, die mit Siebenmeilenstiefeln vorangepreschte Emanzipation der Frauen und Mädchen bei ihnen verursacht, so sträflich allein gelassen werden.

Es ist also, mit Verlaub, etwas überraschend, wenn Sie ausgerechnet bei Feministinnen das „wenig ausgeprägte Bewusstsein“ beklagen, dass zu einer modernen Gleichstellungspolitik „auch eine Männerpolitik gehört, die es Männern ermöglicht, ihre Rolle abseits von Rollenklischees neu zu definieren“. Um es mit Loriot zu sagen: Ach was.

Neu ist diese für Sie offenbar bahnbrechende und rasend moderne Erkenntnis allenfalls für Ihre Partei, die jahrzehntelang keinerlei Anlass sah, das traditionelle Geschlechtermodell in Frage zu stellen und es gerade mal seit Beginn der von-der-Leyen-Ära anno 2005 tut. Gut, das hätten wir also geklärt.

Nun aber ist die Frage: Was verstehen Sie unter „Jungenpolitik“ bzw. „Jungenförderung“? Und warum möchten Sie die Jungen unter Ihre Fittiche nehmen? Sie sagen: Weil die Jungen „benachteiligt“ sind. Dass dies so sein soll, kann man seit etwa zehn Jahren regelmäßig in den Gazetten lesen unter martialischen Überschriften wie „Krieg gegen die Jungen!“, „Die Prügelknaben der Nation“ oder „Wie die Schulen unsere Jungs verdummen“.

In der Tat, die Zahlen stimmen bedenklich. Wir kennen sie inzwischen alle: Jedes dritte Mädchen macht Abitur, aber nur jeder fünfte Junge. Dafür macht jeder dritte Junge einen Hauptschulabschluss, aber nur jedes fünfte Mädchen. Zwei Drittel aller Schulabgänger ohne Abschluss sind männlich. Ganz klar, wir haben ein Problem: Die Jungen, oder jedenfalls ein gewisser Teil von ihnen, sind bildungsmäßig abgehängt.

„Früher hatte das katholische Arbeitermädchen vom Land die größten Probleme in der Schule, heute sind es die Jungs aus bildungsfernen Schichten“, sagen Sie. Und Sie kennen auch die Schuldigen an der Misere: Es ist die „Übermacht“ der Lehrerinnen und Erzieherinnen in Schulen und Kindergärten. Eine Art Matriarchat in den Klassenzimmern also, das Jungen und ihre Bedürfnisse aufs Gemeinste unterdrückt.

„Schreiben wir genug Diktate mit Fußballgeschichten? Dafür interessieren sich auch die Jungs. Oder geht es immer nur um Schmetterlinge und Ponys?“ fragen Sie. Ein denkwürdiger Satz, der es zum, à propos Schmetterlinge, geflügelten Wort geschafft hat. Und hier kommen wir an den Punkt, wo sich Ihre Auffassung von Jungenförderung dann doch ein wenig von der unseren unterscheidet.

Denn die Logik, aus den schlechteren Noten der männlichen Schüler zu schließen, dass sie von einer Armada männerfeindlicher Pädagoginnen diskriminiert werden, ist reichlich verquer. Das ist in etwa so, als ob man die DLRG der Diskriminierung von Nichtschwimmern beschuldigen würde – weil die häufiger ertrinken als Schwimmer. Wer nämlich mehr als die Überschriften der besagten Artikel liest, stellt sehr schnell fest, dass das Gerede von der „Benachteiligung“ der Jungen durch nichts belegt und folglich reine Propaganda ist. Eine Propaganda, in die unsere Frauenministerin fröhlich einstimmt. Hingegen zeigt eine ganze Reihe Studien, dass es andere Gründe für ihr vergleichsweise schlechtes Abschneiden gibt. Kurz gesagt: Das katholische Mädchen der 60er durfte nicht, der „Bildungsverlierer“ von heute möchte nicht.

Schon in der Grundschule, so hat die „World Vision Kinderstudie“ festgestellt, gibt es „große Geschlechtsunterschiede im Blick auf die Bildungsziele. Mädchen wollen häufiger als die Jungen eine anspruchsvolle Bildungslaufbahn am Gymnasium mit Abitur als Fernziel durchlaufen.“ Und eine Studie des „Berlin Instituts für Bevölkerung und Entwicklung“ stellt fest: „Ein schlechter Arbeitsmarkt scheint jüngere Frauen geradezu anzuspornen, mehr in der Schule zu leisten und so ihre Jobchancen zu verbessern. Jungen hingegen reagieren nicht mit messbaren Bildungsanstrengungen.“

Auch der Bildungsforscher und Pisa-Erfinder Andreas Schleicher bestätigt: „Mädchen begreifen eher, dass ihre Berufsperspektiven von einer guten Ausbildung abhängen, während Jungen immer noch glauben, es würde sich schon ein Job finden.“ Der „Bildungsverlierer“ glaubt also, dass er Bildung gar nicht nötig hat. Und das hängt mit seinem Rollenverständnis zusammen. Er hat als uncool deklariert, wonach Mädchen streben. „In dem Zwiespalt zwischen der Anerkennung als guter Schüler oder ein richtiger Junge zu sein, entscheiden sich viele für die Männlichkeit und gegen die Schule“, erklärt der Hamburger Erziehungswissenschaftler Jürgen Budde.

Mit dieser Entscheidung einher geht die Flucht in virtuelle Welten, in denen die Geschlechterwelt noch in Ordnung ist: in Ballerspielen und Pornos zum Beispiel. Auch hier belegen Studien einen direkten Zusammenhang: „Die seit Anfang der 90er Jahre konstant anwachsenden Leistungsdefizite von Jungen und jungen Männern beruhen in hohem Maße auf ihrem exzessiven und inhaltlich problematischen Medienkonsum“, resümiert der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachen, Christian Pfeiffer, nach einer Befragung von 23000 SchülerInnen. „Je brutaler die Computerspiele sind und je häufiger sie gespielt werden, desto schlechter die Noten.“

Zu all diesen Erkenntnissen haben wir von Ihnen bisher noch kein einziges Wort gehört. Das ist bedauerlich, nicht nur wegen der abgehängten Jungen, denen ihr Leben zwischen Geprotze und Geprügel sicher nicht immer zur Freude gereicht. Sondern auch, weil kaum etwas heikler ist als verunsicherte Männlichkeit. Es bleibt ihr nämlich nichts anderes übrig, als sich in Abgrenzung zum und in der Abwertung des „Anderen“ zu definieren. Manchmal sind diese „Anderen“ Türken oder Schwule, aber immer sind es Frauen und Mädchen. Und das kann tödlich enden. Zum Beispiel in einem Amoklauf. Es ist kein Zufall, dass alle großen Amokläufe in Ländern stattfanden, in denen Gleichberechtigung und die Durchlässigkeit der Geschlechterrollen weltweit am weitesten fortgeschritten ist: Amerika, Kanada, Deutschland und jüngst Skandinavien. Der Amokläufer an der Uni von Montreal schrie „Ich will die Frauen!“, bevor er 14 Studentinnen, allesamt angehende Ingenieurinnen, erschoss. Tim K., der zu Hause Hunderte SM-Pornos hortete, erschoss – mit einer Ausnahme – ausschließlich Mädchen. Und Anders Breivik hat das erklärte Ziel, „das Patriarchat wieder einzuführen“, nicht nur in Norwegen, sondern in der gesamten westlichen Welt, in der die Männer so „verweichlicht“ sind.

Es ist also nicht ganz uneigennützig, wenn Feministinnen fordern, dass Jungen Gelassenheit in ihrer Geschlechterrolle brauchen. Dringend. Auch die Männer, die Jungenarbeit schon seit 20 Jahren betreiben und das meist völlig unterfinanziert, warnen seit langem vor der Zeitbombe, die da tickt.

Auf diesem Weg gibt es zwei Möglichkeiten: Man geht vorwärts – oder rückwärts. Vorwärts gehen bedeutet: Wir gehen nicht davon aus, dass Gewalt, Härte und Bewegungsdrang genuin männliche Eigenschaften und naturgegeben sind, und daher ungehemmt ausgelebt werden müssen. Wir gehen auch nicht davon aus, dass Jungen so unumstößlich testosterongesteuert sind, dass sie ihr Verhaltensrepertoire nicht um Komponenten erweitern könnten, die wir „weiblich“ zu nennen pflegen, die aber eigentlich menschlich sind.

Die Weltgesundheitsorganisation hat in ihrer Studie „Health Behaviour in School Children“ (Gesundheits-Verhalten von Schulkindern) festgestellt, dass die schulischen Leistungen der Jungen auch daran kranken, dass Jungen nicht wagen, Druck und seelische Belastung auszusprechen. Denn das gilt als „unmännlich“.

Gute Jungenförderung würde also das tun, was Jungen hilft, ihr klassisches Rollenrepertoire zu erweitern: um Qualitäten wie Empathie (auch mit sich selbst) und Fürsorglichkeit zum Beispiel. Die „Bundesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit“ sieht das genauso: „Ziel ist es, Jungen und junge Männer wahr- und ernst zu nehmen und mit ihnen Partizipation zu leben. Jungen und junge Männer sollen darin unterstützt werden, ihre Geschlechterbilder zu erweitern, darauf bezogene Handlungs- und Bewältigungskompetenzen sowie die Fähigkeit zu einer konsensorientierten Auseinandersetzung zu entwickeln. Emanzipatorische Persönlichkeitsentwicklung, Selbstverantwortung und die reflexive Betrachtung der eigenen Beteiligung an der Konstruktion von Geschlecht und der Geschlechterverhältnisse sind hierfür notwendig.“

Und auch das im Oktober 2010 gegründete und von Ihnen geschätzte „Bundesforum Männer“ erklärt: „Ziel des Bundesforums ist es, einengende und dominante Männlichkeitsstrukturen und Rollenbilder zu überwinden. Es trägt aktiv zur Entwicklung vorurteilsfreier, reflektierender, solidarischer und befreiender Rollenperspektiven bei.“

Man kann bei dem Weg, den ins Schwimmen geratenen Jungen wieder Boden unter die Füße zu geben, aber auch rückwärts gehen. Das ist im Zweifel einfacher, weil kürzer. Man kann den Jungen erklären, dass sie diese ganzen anstrengenden Sachen mit den Rollenbildern einfach lassen können, weil Aggression und Macho-Gehabe nun mal typisch Junge sind. „Lasst sie Männer sein!“ fordert der Bielefelder Jugendforscher Klaus Hurrelmann. Sein „Förderprogramm“ für eine Aufhebung der „Benachtei­ligung“ von Jungen an Schulen: „Sie müssen die Gelegenheit haben, als machtvoll und überlegen aufzutreten, den sozialen Raum um sich herum zu erobern und die besonderen Formen der männlichen Selbstbehauptung zu praktizieren. Sie müssen ‚Mann‘ sein dürfen.“ Wir wüssten gern, welche Rolle Herr Hurrelmann dabei den Mädchen und Frauen in den Klassenräumen zudenkt. Und wem man zumuten soll, in einer solchen Klasse zu unterrichten.

Auch Sie selbst, liebe Frau Schröder, hängen ja als aktive Evangelikale und Mitglied der „Selbstständigen Evangelisch-­Lutherischen Kirche“ (SELK) der Idee vom „natürlichen“ Unter­schied der Geschlechter an. Und diese geschätzten Unterschiede wollen Sie auch nicht in einem „staatlichen Umerziehungsprogramm“ verwischen. „Die Linken“, sagen sie (und ich fürchte, damit sind auch wir Feministinnen gemeint), wollen die Menschen umerziehen.“ Das klingt nach Gehirnwäsche und 1984, Kommunismus und Sibirien. Womöglich haben Sie bei diesem Wort, das Sie gebetsmühlenartig im Munde führen, ein von finsteren Feministinnen geführtes Arbeitslager im Kopf, in dem Aufseherinnen mit Kurzhaarschnitten und Holzfällerhemden (oder lila Latzhosen?) die Jungen unter Androhung drakonischer Strafen zum Tragen von Röcken zwingen und sie bei der ­geringsten Bewegung an ihren Stuhl fesseln.

Liebe Kristina Schröder, auch dies wird Sie vielleicht überraschen, aber die Wahrheit ist: Ein solches Arbeitslager gibt es nicht. Diese ideologischen Kampfbegriffe haben Sie von Ihren Freunden an der Maskulistenfront übernommen oder vielleicht ja auch von den Gemeindemitgliedern der SELK. Was es sehr wohl gibt, sind Erzieherinnen, die dem kleinen Pascha im Kindergarten nach dem Mittagessen erklären, dass er seinen Teller bitteschön selbst wegräumt – und dies nicht automatisch der Job der Mädchen ist. Aber sollten Sie Erfolg haben mit Ihrer Umerziehungs-Rhetorik, dürften sich bald die ersten erbosten Väter (oder Mütter) bei den Erzieherinnen darüber beschweren, dass ihr Sohn mit solchen Maßnahmen „umerzogen“ wird.

Im Pons-Verlag sind übrigens bereits Schulbücher erschienen, die Ihnen gefallen dürften: Das für die Mädchen ist rosa, das für die Jungen blau. Auf dem Cover des Mädchenbuches umarmen sich zwei Mädchen im Engelskostüm, auf dem des Jungenbuches stehen sechs schmutzige kleine Fußballer. Im Mathebuch für Mädchen müssen die Glitzersteinchen von Prinzessin Rosarot subtrahiert werden, im Jungsbuch addiert Oskar seine Freunde auf dem Fußballplatz. Im Diktat-Buch der Mädchen reimt sich „piep“ auf „lieb“, im Jungsbuch auf „Sieb“. Weibliche Wesen gibt es im Diktate-Buch für die Jungen so gut wie keine.

Eins davon ist ein Burgfräulein, das von einem Ritter gerettet wird. Das zweite ist die Hexe Warzana, die via Erweckung von Monstern ihre Kraft beweisen will. Sie wird deshalb von einem Monster verschlungen. Was lernen wir daraus? Dass die Familienministerin im Trend liegt. Aber Zukunft hat er nicht, dieser Trend.

Ihre Chantal Louis

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