Sima Samar: Afghanin im Widerstand

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Die Ärztin im pakistanischen Exil lässt sich noch nicht einmal von den Taliban einschüchtern. Selbst in der Hölle der Gotteskrieger betreibt sie Schulen und Krankenhäuser für Frauen.

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Die Afghanin Sima Samar hat das Unmögliche möglich gemacht: Sie hat von Pakistan aus, wo sie seit 1984 im Asyl lebt, Kliniken und Schulen mitten in Afghanistan aufgebaut. Kliniken, in denen Mädchen und Frauen nicht nur behandelt werden, sondern sich auch als Krankenpflegerinnen und Hebammen ausbilden lassen können; Schulen, auf denen sie das Abitur machen können. Im Grenzgebiet in Pakistan, wo vier Millionen afghanische Flüchtlinge in Lagern leben, unterhält die Ärztin ähnliche Projekte. Im März 2001 hat sie "für ihr mutiges Engagement" in St. Gallen den mit 50.000 Schweizer Franken dotierten Paul-Grüninger-Preis erhalten.
Als Mädchen hatte sie selbst darum kämpfen müssen, zur Schule gehen zu dürfen. Als Studentin verteilte sie Flugblätter gegen die sowjetischen Besatzer. Als Sima Samar 1984 mit ihrem fünfjährigen Sohn im pakistanischen Quetta ankommt, ist sie entsetzt über die Not in den Lagern. Dazu kommt die Verachtung der pakistanischen Ärzte, die die Flüchtlinge für schmutzig und dumm halten. Als eine schwangere Afghanin stirbt, weil niemand sich um den Notfall kümmert, beschließt Sima, eine Klinik für Frauen einzurichten. Keine Hilfsorganisation will das Frauenprojekt unterstützen. Endlich findet sich ein Geldgeber, sie kann eine Klinik einrichten. Damit fangen die Probleme aber erst an: Schikanen der pakistanischen Regierung und Polizei, Drohungen von islamistischen Parteien. Aber auch die eigenen Brüder, die um die "Familienehre" fürchten, machen ihr Angst. Als alleinerziehende, berufstätige Frau wird die Ärztin automatisch beschuldigt, eine "Prostituierte" zu sein. Ein potentiell tödlicher Vorwurf. Oft liegt sie nachts wach vor Angst, den kleinen Sohn neben sich, der sie zu trösten versucht.
Acht Krankenhäuser mit täglich je 40 bis 70 Patientinnen, 12 Kliniken sowie 49 Schulen, in die 20.000 Mädchen und Jungen gehen - das ist heute Simas Bilanz. Dafür brauchte es nicht nur viel Mut, sondern auch geschicktes Lavieren. Die Ärztin, die aus der Provinz Ghazni im Südwesten stammt, gehört zur ethnischen Minderheit der Hazara. Die Hazara sind Shiiten und erbitterte Gegner der Taliban, die meist sunnitische Paschtunen sind. Vor kurzem ordneten die Taliban die Schließung ihrer Mädchenschule in Ghazni an. Da Verhandeln auf der höheren Ebene unmöglich ist, hielten ihre Mitarbeiter sich an die Taliban im Ort.
Sie gaben ihnen Aspirin, wenn sie die Klinik besuchten, luden sie zum Essen ein und sagten: "Wir halten die Leute beschäftigt, dass sie nicht gegen euch kämpfen." Die Schule durfte offen bleiben. In jeder neuen Schule lässt Sima im ersten Jahr nur Jungen unterrichten. Dann geht sie zu den Eltern und verkündet: "Wir machen nur weiter, wenn ihr auch die Mädchen zu uns schickt". Die Mädchen selbst muss niemand überreden, viele gehen zwei Stunden zu Fuß, um zur Schule zu kommen.
Eines Tages sitzt ein Ehepaar in der Sprechstunde der Ärztin. "Untersuchen Sie meine Frau", fordert der Mann, "ich will Kinder". Seine Frau, die stumm neben ihm sitzt, nickt. Sie hat sieben Töchter - aber keinen Sohn. "Mädchen werden einfach nicht gezählt." In Simas Familie war es nicht anders. Ihr Vater nahm sich früh eine Zweitfrau, beide Familien lebten unter einem Dach.
Ihre Schwester wurde zwangsverheiratet, sie sieht das Bild noch wie heute vor sich: "Ich sah, wie sie meine Schwester, die sich sträubte, nachts zu ihrem Ehemann brachten. Für mich war das ein Schock." Als der Vater auch Sima nicht studieren lassen wollte, heiratete sie - aber nur, um zur Universität zu können. Ihr Mann, "der einzige, der mich je unterstützte", verschwand beim prosowjetischen Putsch 1978.
Internationale Auszeichnungen, sagt Sima, schützen sie in Pakistan. In Afghanistan ist sie nicht mehr gewesen, seit einer ihrer Ärzte vor drei Jahren verhaftet wurde. Sie hält von Quetta aus Verbindung mit ihren Mitarbeiterinnen. Zu der von ihr gegründeten Shuhada-Organisation gehören inzwischen auch Einkommen fördernde Projekte wie Teppichweben und Schafzucht. "Der Rückhalt der Taliban in der Bevölkerung bröckelt", weiß die erfahrene Fighterin. Laut Agentur-Meldungen haben die shiitischen Hazara Ende Januar die Stadt Jakaolang von den sunnitischen Taliban zurückerobert.
Die Zukunft von Sima Samar liegt in den Sternen. In den letzten Monaten haben die Taliban zwei ihrer Kliniken in Zentral-Afghanistan mit Gewalt übernommen. Ein mit Medikamenten beladener Lastwagen wurde gekapert, der Fahrer getötet. Trotzdem hofft sie, dass sie weitermachen kann - so lange sich die Shiitin an die unsichtbare Grenze hält, die zwischen der Hazara-Region und dem übrigen Afghanistans verläuft. Und sie hofft, dass sie in ihre Heimat zurückkehren kann. Irgendwann.

Shuhada

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