#SiMeMatan: Täglich sieben Frauenmorde

Hier steht Araceli Osorio Martínez, die Mutter der ermordeten Lesvy, am Tatort. Foto: Alejandra Leyva/Imago Images/ZUMA Press (2)
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Schon der Anblick der Telefonzelle treibt ­Araceli Osorio Martínez die Tränen ins Gesicht. Die steht mitten auf dem Campus der größten Universität Lateinamerikas, der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM). Unscheinbar sieht sie aus – genau wie jede andere Telefonzelle in Mexiko-Stadt. Und doch hat diese Telefonzelle eine Geschichte.

Am 3. Mai 2017 ist hier frühmorgens eine junge Frau tot aufgefunden worden: Lesvy Berlín Osorio, die Tochter von Araceli Osorio Martínez. Für den folgenden Tag war die Studentin mit ihrer Mutter verabredet. „Ich spürte, dass Lesvy mir etwas Wichtiges sagen wollte“, sagt Osorio Martínez. Was ihre 22-jährige Tochter beschäftigte, hat sie nicht mehr erfahren. Stattdessen informiert man sie am Telefon über deren Tod. „Ein Gerichtsmediziner rief an und bat mich, schnell zu kommen. Ich sollte eine Leiche identifizieren. ,Möglicherweise handelt es sich um Ihre Tochter‘, sagte er. Sie lag da. Regungslos, mit geschlossenen Augen. Ihre Wange war blutig, an ihrem Hals der Abdruck eines Telefonkabels zu sehen. Wie konnte das sein? Was war meiner Tochter zugestoßen?“

Das Urteil wird erst demnächst gesprochen. Doch der Oberste Staatsanwalt von Mexiko-Stadt hatte bereits wenige Tage nach Lesvys Tod eine Erklärung parat. Lesvy sei eine schlechte Studentin gewesen und habe Drogen konsumiert, twittert er. „Mit diesen Behauptungen hat der Staatsanwalt meine Tochter öffentlich erniedrigt. Ich als Mutter wusste, dass sie falsch waren. Doch selbst wenn etwas dran gewesen wäre, hätten so persönliche Informationen über eine tote junge Frau nie in soziale Netzwerke gelangen dürfen.“ Wenig später löscht die Staatsanwaltschaft die Tweets, eine Sprecherin bezeichnet sie als „unpassend“. Doch längst verbreiten sich die Meinungen über Lesvy viral.

Frauen aus ganz Mexiko drücken unter dem Hashtag #SiMeMatan („Wenn sie mich töten“) ihre Empörung aus. Vor der Telefonzelle hängen FreundInnen und KommilitonInnen Plakate auf. Selbst Leute, die Lesvy gar nicht kannten, legen Blumen ab. Ihre Mutter: „Ich habe mich bei den Anwesenden für ihren Zuspruch bedankt und ihnen erzählt, wer Lesvy war: eine junge Frau, die das Leben liebte.“

Zwei Monate nach Lesvys Tod präsentieren Staatsanwälte Osorio Martínez das Ergebnis der bisherigen Ermittlungen: Lesvy habe sich umgebracht, sich mit dem Telefonkabel erwürgt, in Anwesenheit ihres Freundes Jorge Luis. Die Ermittler berufen sich auf Videos, die auf dem Campus installierte Überwachungskameras aufzeichneten.

Nun stellt Lesvys Mutter ihre eigenen Nachforschungen an: „Kurz nach Lesvys Tod begann ich mich zu fragen, ob nicht ihr Freund Jorge der Täter sei. Lesvy war im Dezember 2016 mit ihm zusammengekommen. Im April 2017 hatten die beiden ein gemeinsames Zimmer im Studentenwohnheim bezogen. Jorge war kein Student, hat aber auf dem Campus gearbeitet: als Hausmeister des Instituts für Ingenieurswissenschaften. Ein paar Meter davon entfernt hat man Lesvys Leiche gefunden. Das hat mich stutzig gemacht.“

Die Staatsanwaltschaft nimmt Jorge ins Visier, wirft ihm aber etwas Anderes vor als die Mutter: Jorge habe nicht eingegriffen, als sich Lesvy vor seinen Augen mit dem Telefonkabel erwürgte. Die Polizei nimmt ihn wegen „Totschlags durch Unterlassen“ fest.

Osorio Martínez lässt sich nicht beirren: „Ich halte Jorge für den Täter. Seine Version der Nacht, in der Lesvy starb, klingt für mich unglaubwürdig. Jorge sagte mir, dass Lesvy und er bis in die frühen Morgenstunden bei Freunden gewesen seien. Dann sei er müde geworden und nach Hause gegangen. Lesvy sei noch geblieben. Als er am nächsten Morgen aufwachte, sei sie nicht dagewesen. Er habe nach ihr gesucht. Welche Freunde sie besuchten, sagte Jorge mir nicht – er druckste nur herum. Das kam mir komisch vor. Also habe ich mit Freunden von Lesvy geredet. Mehrere von ihnen sagten mir: Lesvy plante, sich von Jorge zu trennen. Ein Kumpel erzählte, Jorge habe Lesvy geschlagen – schon im März, er sei dabei gewesen. Für mich ergab sich so ein stimmiges Bild: Lesvy wollte sich trennen, weil Jorge sie schlug. Oder Jorge reagierte mit Schlägen, weil er ahnte, dass Lesvy sich trennen wollte. Davon wollte mir Lesvy bei unserem Treffen erzählen, da bin ich mir inzwischen sicher.“

Schließlich werden Osorio Martínez die Videos aus der Todesnacht gezeigt. Auch diverse mexikanische Medien berichten. Demnach ist zu sehen, wie Lesvy und Jorge nachts ihren Hund spazieren führen und hitzig diskutieren. Plötzlich schlägt Jorge ihr mit der Hundeleine ins Gesicht. Lesvy versucht, ihn zu umarmen. Jorge läuft weg, Lesvy hinterher. Vor der Telefonzelle, wo später Lesvys Leiche liegen wird, halten sie an. In diesem Moment dreht sich die Kamera weiter, um einen anderen Bereich zu filmen. Wie Lesvy stirbt, nimmt sie nicht auf. Ein paar Minuten später sieht man, wie Jorge mit dem Hund den Campus verlässt. „Wie konnte die Staatsanwaltschaft angesichts dieser Aufnahmen von einem ­Suizid Lesvys ausgehen?“, klagt Osorio Martínez.

In Mexiko gab es 2016 täglich im Durchschnitt sieben Morde an Frauen, so genannte Femizide. Das belegt der von den Vereinten Nationen verfasste Bericht „Gewalt an Frauen in Mexiko“. Er erfasst die Konstellation zwischen Täter und Opfer – worauf die meisten mexikanischen Bundesstaaten verzichten. Die Nationale Beobachtungsstelle für Frauenmorde, eine Allianz aus Frauen und Menschenrechtsorganisationen, hat die Polizeiberichte aller 31 mexikanischen Bundesstaaten ausgewertet. Fünf von ihnen erfassten im Jahr 2016 bei Morden die Konstellation zwischen Opfer und Täter. Von den 88 dokumentierten Fällen waren 54 die Partner der getöteten Frauen.

Bei ihrer Suche nach Gerechtigkeit wird Araceli Osorio Martínez von zwei Anwältinnen unterstützt. „Ich kämpfe nicht nur für meine Tochter – auch für all die anderen getöteten Frauen.“, sagt Osorio Martínez. „Was mit Lesvy passiert ist, zeigt, was in diesem Land schiefläuft: Der Staat schützt seine Frauen nicht.“

Ana Yeli Pérez Garrido ist eine der Anwältinnen und arbeitet für die „Nationale Beobachtungsstelle für Frauenmorde“. Die Strategie der Behörden kennt sie von anderen Fällen. „Die Staats­anwälte wollten einen Suizid nachweisen und haben die Ermittlungen so konstruiert“, sagt Pérez Garrido. Sie hat vier unabhängige Gutachter beauftragt, die Abläufe vor der Telefonzelle nachzustellen. Ihr Ergebnis: Ein Suizid war rein technisch gar nicht möglich. Osorio: „Das Berufungsgericht für Zivil- und Strafsachen bewertete den Fall meiner Tochter neu: als Femizid statt als ­Suizid. Die Staatsanwälte müssen die vorangegangene Gewalt in der Beziehung einbeziehen.“

Eigentlich sollte das Urteil letztes Jahr gesprochen werden. Doch die Verhandlungen dauern noch immer an. Als der Straftatbestand von Suizid zu „Femizid“ (Frauenmord) geändert wurde, baten Jorges Verteidiger um Aufschub. Sie wollten „die Beweismaterialien überdenken“. Beim nächsten Gerichtstermin legten sie Widerspruch ein: Die Änderung des Straftatbestands sei unzulässig, man solle Jorge wegen „Totschlags durch Unterlassen“ belangen. Anwältin Pérez Garrido plädiert weiter für „Femizid“. So wird das Verfahren jetzt weitergeführt, das Urteil soll demnächst fallen. Wird Jorge wegen „aktiv herbeigeführten Femizids“ verurteilt, kommt er für bis zu 70 Jahre ins Gefängnis.

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