Alice Schwarzer schreibt

Simone de Beauvoir: Die Eine

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Es war einige Monate nach Sartres Tod, also 1980/81. Beauvoir hatte, nach einem lebensbedrohlichen Zusammenbruch, begonnen, die Veröffentlichung seiner Briefe vorzubereiten. Ich fragte sie, was denn mit ihren Briefen sei, denn diese einseitige Korrespondenz mache doch wenig Sinn. „Die sind verschwunden!“ entgegnete sie bestimmt. „Wo? Das weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich sind sie bei dem Attentat der OAS auf Sartres Wohnung in Saint Germain verbrannt.“ Wenige Monate nach ihrem Tod 1986 fand ihre letzte Lebensgefährtin, Sylvie le Bon, die Briefe in der Tiefe eines Wandschrankes in Beauvoirs Domizil Rue Schoelcher.

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„Mein Leben ist mein Werk“, hat Beauvoir einmal gesagt. So ist es nur konsequent, ihrem vielfältigen Schreiben – den Romanen, Essays, Memoiren und Tagebüchern – jetzt dessen intimste Facette, die Briefe hinzuzufügen; die Briefe an ihr Alter ego, diesen geschwisterlichen Gefährten, mit dem sie ein „Zwillingszeichen auf der Stirn“ verband.

Im Alter von 21 und 23 Jahren hatten Beauvoir und Sartre ihren berühmten „Pakt“ fürs Leben geschlossen, der über ein halbes Jahrhundert, bis zu Sartres Tod, währen sollte. Dieser Pakt besagte, dass ihre Beziehung immer vorrangig sei, sie dennoch offen für andere Erfahrungen bleiben, sich aber immer die Wahrheit sagen sollten. Gesagt, getan, nicht ohne Weh und Ach, nicht ohne Kompromisse und immer auf Kosten der „Dritten“.

In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde Simone de Beauvoir zum Mythos: als Frau und Intellektuelle, die mit dem "Anderen Geschlecht" die Jahrhundertanalyse zur Benennung und Befreiung der Frauen schrieb; und als die weibliche Hälfte eines Paares, das nicht nur das Denken und Handeln dieses Jahrhunderts beeinflusste, sondern auch für mehrere Generationen zu dem Modell der „freien Liebe“ schlechthin wurde.

Warum aber leugnete Beauvoir zu Lebzeiten die Existenz ihrer Briefe? War es Vergesslichkeit? Wohl kaum. Denn selbstverständlich muss sie sich voll des Wertes solcher Dokumente bewusst gewesen sein (gerade weil ihre frühen Briefe nicht mit dem Hintergedanken einer späteren Veröffentlichung geschrieben worden sein können). Ihr muss ebenso bewusst gewesen sein, dass ihre Erbin die Briefe finden und veröffentlichen würde – endlich ohne Rücksicht auf die oft so hart betroffenen „Dritten“, was heißt, ohne die Streichungen und Verschlüsselungen, mit denen Beauvoir noch Sartres Briefe entschärft hatte.

Doch nicht nur die Rücksichtnahme auf die „Dritten“, auf die Mitglieder der lebenslangen „kleinen Familie“ des Paares (zu der neben Freunden vor allem Ex-Liebhaber und -Liebhaberinnen der beiden gehörten) hat Beauvoir mit der Veröffentlichung ihrer Briefe zögern lassen. Es gibt noch andere, sehr triftige Gründe: Simone de Beauvoir hatte etwas zu verbergen – und die Briefe enthüllen zwei ihrer bestgehüteten Geheimnisse.

Das eine Geheimnis sind die Schattenseiten ihres Paktes mit Sartre. Und damit ist nicht etwa ihr – mal gelassenes, mal genervtes, mal angstvolles – Tolerieren seiner Affären gemeint. Die hatte sie ja schließlich auch, und zwar noch vor ihm und ebenfalls bis an ihr Lebensende. Nein, damit ist etwas viel Tieferes, Grundsätzlicheres gemeint. Etwas, was vielleicht der Schlüssel zum Innersten dieses Paktes ist. Mehr noch: vielleicht sogar ein Schlüssel zu der Rolle, die die unabhängige Frau von heute in der Liebe und in der Welt überhaupt spielen kann. – Und wovon noch die Rede sein wird.

Das zweite Geheimnis ist Beauvoirs lebenslange Bisexualität. Die hat sie nicht zufällig so gelebt, dass sie weder öffentlich wurde, noch Sartre sich davon bedroht fühlen musste. Im Gegenteil: in zahlreichen Dreiecksverhältnissen profitierte er von Beauvoirs Geliebten. Denn sie ist es, die ihre Liebhaberinnen, meist Ex-Schülerinnen von ihr, mit ihm teilt – nie umgekehrt. Und während er in seinen Briefen an sie seine sexuellen Abenteuer mit einer an Grobheit grenzenden, exhibitionistischen Detailversessenheit schildert, ist sie zurückhaltend und lässt maximal ein gewisses Vergnügen, nie aber Leidenschaft mit Frauen durchblicken.

Die beiden scheinen die Maitres de plaisir zu sein, doch laufen ihnen die „Dritten“ mehrfach aus dem Ruder. Sei es, dass sie die Zweiten werden wollen, wie Nelson Algren bei Beauvoir; sei es, dass sie lästig leiden, wie Olga Kosakiewics, Mitte der 30er Jahre die Dritte im Trio. Beauvoir: „Ich wollte sie ihm nicht streitig machen, da ich keinen Zwist zwischen ihm und mir ertragen konnte.“ Doch schließlich wusste sie sich nicht mehr anders zu helfen, als die Konkurrentin umzubringen: am Schluss ihres ersten, stark autobiographisch geprägten Romans "Sie kam und blieb" ("L’invitee": die Eingeladene). Im Leben fließt kein Blut, sondern werden Ex-Geliebte gern in die „kleine Familie“ integriert. So heiratet Olga den gemeinsamen Freund Bost, der einst Schüler von Sartre und später inniger Geliebter von Beauvoir war, wovon wiederum Olga nichts erfahren darf...

Oder Bianca Bienenfeld, die Anfang der 40er Jahre ihrer Ex-Lehrerin erfolgreich nachstellt und dann zwischen die beiden gerät. Freundin Bianca scheint sich lebenslang nicht von der Karussellfahrt erholt zu haben – und Beauvoir hatte ebenso lebenslang ein schlechtes Gewissen wegen ihr und all der anderen. In einem Interview 1973 sagte sie mir zu ihrer „notwendigen Liebe“ mit Sartre: „Sie ging wirklich ein wenig auf Kosten der Dritten. Das war oft nicht sehr angenehm für sie. Also ist unsere Beziehung durchaus zu kritisieren, denn sie schloss ja manchmal ein, dass man sich den Leuten gegenüber nicht sehr korrekt benahm.“

Als das Erscheinen der Beauvoir-Briefe 1990 in Frankreich enthüllt, dass der „reizende Biber“ (wie er sie nennt) seinem „geliebten kleinen Geschöpf“ (wie sie ihn vorzugsweise anspricht) die Liaisons mit Frauen meist als „lästig“ und unbedeutend darstellt, ist Bianca Bienenfeld – inzwischen verheiratete Lamblin – so verletzt, dass sie, ein halbes Jahrhundert später, zur Abrechnung schreitet. Sie veröffentlicht "Die Memoiren eines getäuschten Mädchens" ("Mémoires d’une fille dérangée" – in Anspielung auf Beauvoirs "Mémoires d’une fille rangée"). Darin beklagt sie sich bitter über die Skrupellosigkeit des allzu freien Paares.

All das ist Wasser auf die Mühlen derer, die schon lange dem Mythos Beauvoir an den Kragen wollen – wenn auch aus ganz anderen Gründen, und obwohl gerade sie früher daran mitgestrickt hatten. Doch die Zeiten ändern sich. Nicht nur Beauvoirs Werk sei fragwürdig, sondern auch ihr Leben sei alles andere als vorbildhaft, heißt es nun. Die ganze Libertinage sei auf seinem Mist gewachsen. Gedemütigt habe sie ein Leben lang Sartres Harem ertragen. Und Frauen gegenüber habe sie sich oft schlimmer verhalten als jeder Kerl. Von den verpassten Wonnen der angeblich so schroff abgelehnten Mutterschaft ganz zu schweigen...

Zu Lebzeiten war Beauvoir geschützt durch den Status der „Frau an seiner Seite“. Die Demontage begann prompt nach Sartres Tod. Flugs wurde sie zu dem degradiert, wogegen sie ein ganzes Leben lang gekämpft hatte: zur relativen Frau. So erschienen ihre beiden Briefbände – die erst jetzt, einfühlsam übersetzt von Judith Klein, auf Deutsch veröffentlicht werden – 1990 in ihrem französischen Verlag Gallimard bezeichnenderweise mit einem Porträt Sartres auf dem Titel und ohne eine einzige Abbildung der Autorin. Als sei nur noch der Adressat relevant...

Gerade die linke und linksliberale Presse, die einst selbst unreflektiert zur Mythenbildung beigetragen hatte, rechnet jetzt mit den einst so Verehrten ab, vor allem mit ihr. Meist sind die kritelnden Autoren weiblich. Was es nicht einfacher macht. Denn deren Verhältnis zu der „Übermutter“ Beauvoir ist fast immer unsouverän und angespannt. So nähert sich selbst ihre Biographin Deidre Bair, mit der Beauvoir in ihren letzten Lebensjahren zahlreiche Gespräche geführt hatte, nicht etwa offen und neugierig ihrem Sujet, sondern voreingenommen und nörgelnd. Sie behauptet sogar, Beauvoir habe in ihren letzten Lebensjahren „kategorisch Mutterschaft und Hausarbeit abgelehnt“ – dabei beklagt Beauvoir die auf Kosten von Frauen gehenden heutigen Umstände von Hausarbeit und Mutterschaft. Sie kritisiert zwar die „Weiblichkeit“ hart, hat aber ein tiefes Mitgefühl mit den Frauen. Ihre distanzlose Biographin geht noch weiter und beklagt allen Ernstes das Fehlen von „stimmigen und daher befriedigenden Antworten“ in Beauvoirs Werk – als schreibe die Philosophin Rezeptbücher.

Überhaupt ist gerade die Reaktion der intellektuellen Frauen auf diese eine Frau, die das Leben von Millionen Frauen – und auch das ihre! – veränderte, kleinlich und engherzig. Sie scheinen sich einerseits blind mit dem Vorbild zu identifizieren, doch das einstige Idol andererseits für ihr eigenes Ungenügen zu hassen. Oder sie leiden daran, von der „großen Schwester“ nicht geliebt worden zu sein. So wie die Psychoanalytikerin Luce Irigaray, die sich fast kindlich über die „Distanz“ Beauvoirs zu ihr beklagt: „Wie kann man das zwischen zwei Frauen verstehen, die doch hätten zusammen arbeiten können, ja sollen?“ fragt sie.

Doch warum sollte die bedeutendste Theoretikerin der Gleichheit der Geschlechter (und damit der Menschen überhaupt) die Nähe einer Frau suchen, die wie Irigaray die Abschaffung der „geschlechtlichen Differenz“ als „Genozid“ bezeichnet, der „vollständiger wäre als jede Vernichtung in der Geschichte“?

Der Konflikt hat also nicht nur psychologische, sondern auch handfeste politische Gründe. Denn die Kritik kommt fast ausschließlich von den sogenannten „Differentialistinnen“, das heißt von Frauen, die, wie die Diskursführerin Helène Cixous, der Auffassung sind: „Geschlecht ist Schicksal“. Sie stellen nicht wie Beauvoir die Machtfrage, sondern beharren auf einer mythischen Differenz zwischen den Geschlechtern. Beauvoir ist in ihren Augen eine Verräterin der „Weiblichkeit“, denn sie habe einen „männlichen Diskurs“. Für Cixous ist Beauvoir heute „einfach ein Niemand, ein Nichts“.

Die Differentialistinnen vergessen dabei geflissentlich zu sagen, dass Beauvoir von einem entgegengesetzten politischen Konzept ausgeht: Sie ist eine Gegnerin der Verherrlichung eines quasi natürlichen, schicksalhaften Unterschiedes, der die weiblichen und männlichen Menschen definiert. Beauvoirs Ziel ist im Gegenteil die Wiedervereinigung des in eine „weibliche“ und eine „männliche“ Hälfte geteilten Menschen. Ihre Utopie ist eine „Geschwisterlichkeit“ der Geschlechter. Ihr Credo ist der berühmteste feministische Satz dieses Jahrhunderts: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht.“

Simone de Beauvoir ist eine Frau, sie hat nicht die Wahl. Und sie genießt es. „Die Frau kann nur dann ein vollständiges Individuum sein, wenn auch sie ein geschlechtlicher Mensch ist“, schreibt sie. „Auf ihre Weiblichkeit verzichten hieße, auf einen Teil ihrer Menschlichkeit verzichten.“ Doch sie begnügt sich nicht damit. Sie nimmt sich auch als „männlich“ definierte Freiheiten. Sie bricht aus der Enge des bürgerlichen Hauses aus und geht in die Welt. Die Tochter einer Hausfrau gehört zu der ersten Generation der weiblichen Elite dieses Jahrhunderts, die Zugang zu der bis dahin ausschließlich Männern vorbehaltenen Bildung hatte. Im Gegensatz zu jemandem wie Virginia Woolf, die lebenslang unter ihrer „Unbildung“ litt, machte Beauvoir Abitur und absolvierte die Pariser Eliteschule ‚Ecole Normale‘. Dort ist sie die neunte Frau, die das Philosophie-Diplom macht und, unabhängig vom Geschlecht, die jüngste Absolventin überhaupt. In ihrem Jahrgang ist sie die Zweitbeste, gleich hinter dem zweieinhalb Jahre älteren Sartre, der allerdings war ein Jahr zuvor durchgefallen.

Simone de Beauvoir wollte von Anfang an beides sein, Objekt und Subjekt, Frau und Mann, Mensch. Sie wollte sich nicht teilen lassen in Kopf oder Körper, in geachtet oder begehrt. „Sie wollte als Intellektuelle und als Frau verführen“, wie Toril Moi in ihrer ‚Psychographie einer Intellektuellen‘ schreibt – einer der wenigen Texte, die ihr gerecht werden.

Kurz vor ihrem Tod 1986 habe ich Simone de Beauvoir gefragt, ob es etwas gibt, was sie als Autorin heute anders machen würde. „Ja, ich wäre ehrlicher“, hat sie geantwortet. „Ich habe nicht alles gesagt über meine Sexualität.“ Was sie verschwiegen hat, ist, dass sie beides hatte: die Leidenschaft, die man Männern zugesteht – und die Sensibilität, die als Frauensache gilt.

Natürlich war der Pakt einer unangefochtenen Hauptbeziehung mit Sartre bei gleichzeitigen Freiheiten mit Dritten schwerer für die Frau, die Liebe und Sexualität nicht so leicht trennen konnte wie der Mann. Und vermutlich hat sie sich auch darum lebenslang auf keine wirklich ernstzunehmende Frauenbeziehung eingelassen, sondern ihre Liebe zu Frauen durch ungleiche, ihr nicht ebenbürtige Beziehungen in Schach gehalten. Und nicht zufällig hat sie erst gegen das, durch Krankheit reduzierte, Ende Sartres erstmals einer Frau, Sylvie le Bon, einen größeren Platz in ihrem Leben eingeräumt.

So kommt es, dass ausgerechnet die Autorin, die die klarsichtigsten Texte über Liebe und Sexualität geschrieben und das auch gelebt hat, einen Blindflecken bei der Frage der weiblichen Homosexualität hat. Sie äußert sich zwar im "Anderen Geschlecht" mit einer für die Zeit unerhörten Aufgeschlossenheit und Toleranz dazu, aber sie kann es nicht zuende denken. Die Folge ist eine schwärmerische Idealisierung der „männlichen“ Sexualität und des Phallus, dessen symbolische Macht sie nicht wirklich erkennt, sondern den sie allen ernstes für einen körperlichen Vorsprung des männlichen Geschlechts hält. Dies mindert jedoch nicht ihre Klarsichtigkeit bei der Analyse der „Weiblichkeit“.

„Ich überlegte mir, dass die erste Frage lauten müsste: Was hat es für mich bedeutet, eine Frau zu sein?“ erinnert  sie sich an die Vorgeschichte zum zwischen 1946 und 1949 geschriebenen "Anderen Geschlecht". „Anfänglich hatte ich geglaubt, schnell damit fertig zu werden. Ich hatte nie an Minderwertigkeitskomplexen gelitten, niemand hatte zu mir gesagt: Sie denken so, weil Sie eine Frau sind. Dass ich eine Frau bin, hatte mich in keiner Weise behindert. ‚Für mich‘, sagte ich zu Sartre, ‚hat das sozusagen keine Rolle gespielt.‘ – 'Trotzdem sind Sie nicht so erzogen worden wie ein Junge: Das muss man genauer untersuchen!' Ich untersuchte es genauer und machte eine Entdeckung: Diese Welt ist eine Männerwelt.“

Beauvoirs Entdeckung wurde – fast ein Jahrhundert nach der ersten und schon wieder vergessenen Frauenbewegung – zum Skandal für die Männerwelt (Camus: „Sie haben den französischen Mann lächerlich gemacht!“) und zum Leuchtfeuer für die Bewusstwerdung und Befreiung der modernen Frauen. Und der Mann an ihrer Seite hatte dazu beigetragen. Denn in der Tat war die lebenslange Arbeitsbeziehung der beiden – keiner veröffentlichte je einen Text ohne die Lektüre des anderen – immer fruchtbarer gewesen als ihre sexuelle Beziehung. Die erlosch sehr früh, nicht zuletzt wegen Sartres „Frigidität“ (wie Beauvoir es einmal in einem öffentlichen Gespräch mit ihm genannt hat) – was sicherlich zu der relativen Gelassenheit der beiden „Dritten“ gegenüber beigetragen hat.

Doch sie muss geahnt haben, dass sie ihren Anspruch auf Ganzheitlichkeit nur mit der Unterstützung eines Mannes würde realisieren können. Ist das ihr eigentlicher Grund für den lebenslangen Pakt mit dem „männlichen Zwilling“? Dann drängt sich allerdings die Frage auf, ob Beauvoir dafür nicht einen hohen Preis bezahlt hat. So stellt das englische Philosophenpaar Kate und Edward Fullbrook nach Erscheinen von Beauvoirs Briefen die minutiös belegte These auf, Beauvoir sei nicht, wie immer behauptet, die „Schülerin Sartres“, sondern es sei genau umgekehrt: Sie sei die eigentliche Schöpferin des französischen Existentialismus und Sartre ihr „Plagiator“.

Fullbrooks belegen in ihrem Buch "The Remaking of a Twentieth Century Legend", wie Beauvoir das philosophische Konzept des "Anderen", der "Entfremdung" und der "Transzendenz" in ihrem literarischen Text "Sie kam und blieb" einflocht – und sie beweisen anhand der Tagebücher von Beauvoir und Sartre, dass er diesen Text nicht etwa, wie auch sie bis zuletzt behauptete, erst nach dem Schreiben von "Das Sein und das Nichts" las, sondern davor. Und dass er zuvor völlig konzeptlos gewesen sei, sie aber über Jahre philosophisch zielstrebig auf diese Erkenntnis hingearbeitet habe. Doch Beauvoir selbst habe lebenslang versucht, das zu vertuschen.

War es also etwa die unausgesprochene Bedingung dieses Paktes zwischen einer Frau und einem Mann, dass sie nicht nur mit ihm teilte, sondern ihm Teile ihres Lebens und Denkens abtrat – von den Geliebten bis zu den Erkenntnissen? Und ist es vielleicht überhaupt so, dass Frauen, denen Männer die Gnade der Gleichheit gewähren, sich diese erkaufen müssen – durch Zuarbeit?

Hatte die junge Beauvoir also den unattraktiven aber brillanten Jean-Paul Sartre vor allem gewählt, um an seiner Seite Zugang zu der ihr als randständiger Frau verschlossenen Welt zu haben? Und durfte gerade sie genau darum die Symbiose auf keinen Fall gefährden?

Denn auch einer Ausnahmefrau wie ihr waren ja Grenzen gesetzt. So erzählen die Fullbrooks eine bezeichnende Episode: Als Beauvoir 1937 bei Gallimard, der bereits Sartres "Ekel" veröffentlicht hatte, ihre ersten Erzählungen einreicht, werden die abgelehnt mit der Begründung, diese Texte seien unpassend für eine Frau. Es wird nicht ihre erste und auch nicht ihre letzte Erfahrung dieser Art gewesen sein.

War darum die Symbiose mit Sartre vielleicht auch Beauvoirs Art, sich einen männlichen Spielraum zu holen? Hat sie über ihn das ausagiert, was sie nicht tun durfte? War Sartre also auch für sie nicht nur ein Gegenüber, sondern die ihr fehlende „eine“ Hälfte? Eine Art Medium, über das sie, die Frau, „männlich“ denken und handeln durfte?

Es ist wahrscheinlich, dass die bedeutendste Intellektuelle dieses Jahrhunderts ohne den Mann an ihrer Seite nie die hätte werden können, die sie ist. Doch: Sie wäre auch nicht Gefahr gelaufen, in seinem Schatten posthum zur relativen Frau, zur „anderen“ degradiert zu werden. Allerdings scheint ihr Werk so eindeutig und unverrückbar dazustehen, dass es aktuelle Moden wie die des „Ewigweiblichen“ und einer „schicksalhaften Natur des Menschen“ auf Dauer wohl unbeschadet überleben wird.

Simone de Beauvoir selbst hat auf jeden Fall nicht nur überlebt, sondern gelebt. „Ich bin in meinem ganzen Leben niemandem begegnet, der so zum Glück begabt gewesen wäre wie ich“, schrieb sie. Dass dieses „Glück“ für alle Menschen, aber gerade für Frauen Grenzen hat, dass es Kompromisse wie Wagnisse fordert, das wusste sie um so vieles besser als ihre kleinlichen Kritikerinnen. „Die heutige Frau ist zwischen der Vergangenheit und der Zukunft hin und her gerissen“, schreibt sie im "Anderen Geschlecht". „Sie muss sich häuten und sich ihre eigenen Kleider schneidern.“

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