Alice Schwarzer schreibt

Liebe oder Leben?

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Als es endgültig vorbei ist, schreibt sie ihm am 31. Oktober 1951: „Ich gab Ihnen mein Herz, aber nicht mein Leben.“ Und sie macht die vergangene Passion zum Stoff zukünftiger Bücher. Was er ihr nie verziehen hat. Noch 30 Jahre später pöbelt er: „Ich habe alle Bordelle der Welt frequentiert, überall haben die Frauen die Zimmertür geschlossen. Nur diese da hat die Tür sperrangelweit für Publikum und Presse geöffnet.“ Vier Jahre später wird „diese da“ mit seinem Ring am Finger beerdigt.

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Die von 1947 bis 1950 währende Passion zwischen Simone de Beauvoir und Nelson Algren ist seit letztem Jahr auch in ihrer intimsten Version der Öffentlichkeit zugänglich: in Beauvoirs Briefen an Algren – seine Erben verweigerten die Veröffentlichung seiner Briefe. Es ist also nur die Hälfte dieser „transatlantischen Liebe“ einsichtbar, aber eine sehr aufschlussreiche.

Wie bekannt, waren nicht Beauvoir und Algren, sondern Beauvoir und Sartre das Jahrhundertpaar: ihrem so nahen „Kleinen“ gab sie Herz und Leben, ihrem so fernen Helden nur das Herz.

Denn Simone de Beauvoir, die schon lange vor der Begegnung mit Sartre von der „Transzendenz“, von der Erfüllung durch ihr Werk geträumt hatte, hatte in Sartre genau den Gefährten gefunden, mit dem das möglich war. Seine Kreativität und seine Ansprüche forderten sie geradezu dazu heraus.

Le Castor, der Biber, wie er sie lebenslang eher kumpelhaft nannte, war für Sartre die andere Hälfte, die er zur vollen Entfaltung, aber auch zur Bewältigung seines Arbeitspensums brauchte – und er war in ähnlicher Weise für sie ebenso unentbehrlich; auch wenn sie, das schimmert selbst in den Briefen an Algren durch, lebenslang mehr in ihn investiert hat als er in sie.

Dennoch und gerade darum war der Autor vom „Mann mit dem goldenen Arm“ für sie eine große Passion, um nicht zu sagen eine Folie – die allerdings bei aller Leidenschaft immer besonnen blieb und so passend anfing wie sie zuende ging. So ist es keineswegs ein Zufall, dass Beauvoir sich ausgerechnet auf ihrer ersten Amerikareise stärker verliebte, als im Pakt Beauvoir/Sartre vorgesehen war: fern der Heimat und in einem Moment, in dem auch Sartre in Amerika mehr Feuer gefangen hatte, als es für die beiden gut war.

Der junge Schriftsteller polnisch-jüdischer Herkunft im Chicagoer Loserviertel eröffnet der Pariser Bürgerstochter eine ganz neue Welt. Und mit ihm erfährt die inzwischen 39-jährige erstmals wirklich Lust; erlebt sie ihren, wie sie ihrer Biographin Deidre Bair anvertraute, „ersten Orgasmus“. Für Simone de Beauvoir, die ihre früh erwachte sexuelle Leidenschaft bis dahin mit niemandem hatte teilen können – weder mit dem sexuell desinteressierten Sartre, noch mit ihrem jungen Liebhaber und den jüngeren Liebhaberinnen – ist diese Erfahrung überwältigend. Sie verliert sich mit Wonne in Algrens Armen.

Zurück in Paris erkennt Simone de Beauvoir die Gefahr für ihre Beziehung mit Sartre – und damit auch für ihr Leben als Intellektuelle, die schreibend und handelnd die Welt prägen will. Sie entscheidet sich für ihren Gefährten und gegen den Liebhaber.

Doch auch über die amour fou hinaus sind Beauvoirs Briefe an Algren eine Fundgrube. Und das nicht nur, weil diese ganz gewiss nicht zur Veröffentlichung geschriebenen Briefe eine sehr private, rührende, politisch unkorrekte Simone de Beauvoir zeigen; sondern auch, weil sie – trotz der spürbaren Auslassungen zur Schonung Algrens – ganz alltäglich belegen, wie untrennbar bei Simone de Beauvoir Leben und Werk sind: wie ihre alltäglichen Erfahrungen, Lektüre, Menschen, Ereignisse in ihre Arbeit einfließen; und wie früh und heftig die Welt auf sie reagiert.

22. November 1949: „Nelson, mein liebster Geliebter. Wissen Sie, warum Sie so lange keine Post von mir Unglückseligen erhalten haben? Nicht, weil ich Sie nur halb soviel liebte wie sonst, sondern weil mein zweiter wöchentlicher Brief verloren gegangen ist. (...) Queneau hat mich gebeten, mich vormittags für einen Film über Saint-Germain-des-Pres filmen zu lassen. Ich war einverstanden und sollte gegen Mittag für eine Viertelstunde in den Deux Magots erscheinen; erst vergaß ich hinzugehen: einer der Filmleute musste mich anrufen. Dann eilte ich hin, sah die Menge dort, und mein wirkliches Pech war, dass dort vor allem Studenten waren. Ich setzte mich in eine dunkle Ecke, doch als man die großen Scheinwerfer anmachte und anfing, mich zu filmen, stiegen natürlich hundert junge Leute auf die Tische und schrien: ‘Nackt! Nackt!’ Was soviel heißt wie: Ausziehen! Zieh dich aus! Dann schrien sie: ‘Sie schreibt zu schnell, sie denkt nicht nach!’ und andere Scherze. Nun, ich tat so, als würde ich nichts hören und nichts sehen, und schrieb weiter, bis das Filmen zu Ende war. Aber es war eine schlimme Viertelstunde.“

Es ist nicht ohne Pikanterie, dass die bedeutendste feministische Theoretikerin dieses Jahrhunderts „Das andere Geschlecht“ während ihrer tumultösen Liebesbeziehung mit Algren schrieb und veröffentlichte. Doch an ihren Briefen wird klar, dass er sich für „die Frau“ und nicht für „die Schriftstellerin“ interessiert. Obwohl sie seine Arbeit mit Leidenschaft verfolgt und ihn in Frankreich lanciert, ja sogar selbst übersetzt, hat er zwei Jahre nach Erscheinen des „Anderen Geschlechts“ auf Englisch das Buch noch immer nicht gelesen (und es vermutlich bis zum Lebensende dabei belassen).

Sartre aber hatte das Projekt interessiert begleitet, ja dem Castor sogar den Anstoß zu diesem Buch gegeben. Simone de Beauvoir im Interview mit mir: „Ich hatte nie an Minderwertigkeitskomplexen gelitten, niemand hatte zu mir gesagt: Sie denken so, weil Sie eine Frau sind. Dass ich eine Frau bin, hatte mich in keiner Weise behindert. ‘Für mich’, sagte ich zu Sartre, ‘hat das sozusagen keine Rolle gespielt.’ – ‘Trotzdem sind Sie nicht so erzogen worden wie ein Junge: Das muss man genauer untersuchen!’, antwortete Sartre.“

Als die Beziehung Beauvoir/Algren zu Ende geht und sie den gekränkten Amerikaner auch durch die beschwörendsten Briefe nicht länger an sich fesseln kann, hält die damals 43-jährige sich für zu alt für eine erotische Zukunft: „Mein Liebesleben ist also für immer abgeschlossen, ein Gedanke, der nicht sehr angenehm ist, wenn man ein warmes Herz und einen lebendigen Körper erhalten hat. Leben Sie wohl, Honey.“

Es kommt anders. Simone de Beauvoir wird einige Jahre später eine Beziehung mit dem sehr viel jüngeren Claude Lanzmann haben, der allerdings zur Equipe der Temps Moderne gehört und das hohe Paar Beauvoir/Sartre nicht bedroht. Auch Beauvoirs letzte Liebe, die 34 Jahre jüngere Gefährtin Sylvie Le Bon, überlebt zwar Sartre, stellt seine Priorität aber nie in Frage. Sartre und Beauvoir bleiben trotz aller Turbulenzen ein wirkliches Paar, und über ihren Tod hinaus das Jahrhundert-Modell einer freien Liebe.

Selbst zu ihrer Hoch-Zeit hat die transatlantische Liebe sich dem geschwisterlichen Paar unterzuordnen: Beauvoirs Reisen in Algrens Arme wurden von ihr (und Sartre) den gemeinsamen Reiseplänen untergeordnet. Diesem Umstand verdanken wir auch die wunderbar genauen und lebendigen Reiseberichte in der Korrespondenz, darunter einer aus dem Jahre 1948 nach Berlin. Es ist bezeichnend für Simone de Beauvoir, dass ihr selbst in dieser Situation nichts fremder ist als Selbstgerechtigkeit. Sie gehört zu den Siegern, fühlt aber mehr mit den Besiegten:

„Um 16 Uhr kamen wir nach Deutschland und sahen die Ruinen von Saarbrücken, sehr beeindruckende Ruinen. Dann wurde es allmählich unheimlich und ziemlich unangenehm. In dem tristen Speise-wagen, wo wir endlich etwas – nicht viel – zu essen bekamen, waren nur Franzosen und insbesondere französische Offiziere, und im Schlafwagen auch. Wir erfuhren, dass in den anderen Wagen Deutsche waren, aber wir haben keinen einzigen gesehen. Deutschland umgab uns, und wir bildeten eine kleine, bewegliche französische Kolonie, das erinnerte mich an die Deutschen im besetzten Frankreich, ich fühlte, dass wir genauso hassenswert waren wie sie. (...) Ich treffe eine Menge fieser, wirklich dummer, eingebildeter, hässlicher, widerlicher Leute: Generäle, Botschafter mit ihren Frauen, ich glaube, Sie nannten es ‘elegant sein’ oder ‘ein brillantes Leben’ führen; manchmal macht es mich so wütend, dass ich fast wünsche, ich wäre nicht hierhergekommen. Zum Beispiel werde ich verrückt bei dem Gedanken, dass ich morgen abend ein Abendkleid tragen soll, ich verabscheue es. Es gibt mir das Gefühl, zur Clique der Frauen und zur ‘Bourgeoisie’ zu gehören, verstehen Sie, und es demütigt mich irgendwie. Ich habe kein Abendkleid, was eine Schande zu sein scheint, und ich werde mir von einer großen hässlichen Frau eins leihen. Dabei besitzen die deutschen Frauen keine Abendkleider, sie besitzen überhaupt kaum ein Kleid, aber deshalb müssen wir umso mehr zeigen, was es heißt, nicht deutsch zu sein und teure Kleider tragen zu können. Ach! es scheint hier sehr übel, Franzose zu sein; sehr übel auch, Amerikaner, und sehr übel, Russe zu sein, und es scheint nicht besser, Deutscher zu sein, obwohl man ihnen gegenüber leichter Sympathie empfindet, weil die anderen die Stärkeren sind.“

13 Seiten Briefe aus Deutschland, die mehr sagen als ganze Regale von Nachkriegsliteratur. – Am Ende ihrer Affäre mit Algren und ihrer Arbeit am „Anderen Geschlecht“ trifft Simone de Beauvoir die Entscheidung, die sie treffen muss: die Entscheidung für sich selbst. Denn Beauvoirs Sartre/Algren-Konflikt ist kein Konflikt zwischen zwei Männern und auch keiner zwischen zwei Kontinenten und Kulturen – es ist ein Konflikt zwischen zwei weiblichen Lebensentwürfen.
Alice Schwarzer, Emma 2/2000

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