Alice Schwarzer schreibt

Virginia Woolf: Das Helle und das Dunkle

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Sie begriff den Inzest als logische Folge der Verfügungsgewalt der Väter, und den Faschismus als Folge der patriarchalen Familie. Sie wusste, wovon sie redete. Ihr Leben lang hat Virginia Woolf ums Überleben gekämpft, gegen ihre Depressionen und "Anfälle", die sie selbst als Folge ihres sexuellen Missbrauchs erkannt hatte.

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Über "Die Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs auf Leben und Werk" von Virginia Woolf (1882-1941) hat die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Louise De Salvo ein sensibles, genaues und unentbehrliches Buch geschrieben. Unentbehrlich zum Verständnis der Welt und der Sprache der Schriftstellerin. Unentbehrlich zum Verständnis der Funktion der sexuellen Gewalt in Familie und Gesellschaft.

Am Beispiel der Familie Stephen (Woolfs Mädchenname) und vor allem dank des von Virginia selbst gelieferten überreichen Materials - direkt in ihren Überlieferungen und Analysen, indirekt in ihrer Literatur - seziert die Autorin die viktorianische Familie als Brutstätte der Gewalt, der Brechung und Unterwerfung von Frauen. Der Mythos der freigeistigen, kultivierten, kreativen Familie Stephen zerfällt aus der Nähe betrachtet in zig Höllen, in einer jeden einzelnen Hölle eine eingeschlossene Frau.

So wird Virginias Schwester Laura zum Idioten der Familie gestempelt und in den Wahnsinn getrieben. Ihre Schwester Stella hat nach dem Tod der Mutter diese selbstverständlich zu ersetzen, auch im Bett des Stiervaters. Virginia selbst wird sieben Jahre lang von ihren wesentlich älteren beiden Halbbrüdern missbraucht, das erste Mal kurz nach dem Tod ihrer Mutter (und vielleicht auch vom Vater, es gibt Anzeichen in ihrer Literatur dafür). Alle Frauen der Familie sind ihr Leben lang ungeschützt der Ausbeutung und den sexuellen Übergriffen aller Männer in der Familie ausgeliefert.

Virginia Woolf ist fast daran zerbrochen. Lebenslang kämpft sie gegen diesen "Schleier von halbtransparentem Gelb", gegen "die Watte". DeSalvo: "Die Depression beeinträchtigte ihre Gefühle für die Verbindung mit realen Erfahrungen, sie beschreibt einen Prozess ständiger Zerstückelung, Abtrennung und Auflösung. Sie wollte den Plan, der hinter dieser Watte steckt, erkennen."

Das ist ihr gelungen. Nur der Radikalität ihrer Selbsterkundung hat Virginia Woolf die Radikalität ihrer Erkenntnis zu verdanken. Die Genialität der Schriftstellerin Virginia Woolf ist einfach nicht zu leugnen. Die Radikalität der Politikerin und Denkerin allerdings ist von den Nachkommenden bisher noch nicht erkannt worden. Auf die Rolle der einschlägigen Feuilletons, die DeSalvo einschlägig verreißen ließen (von den in Sachen Abwieglung der Benennung sexueller Gewalt in Kunst und Literatur inzwischen spezialisierten drei, vier Frauen), sollten wir dabei nicht bauen.

Aber selbst die so Klarsichtige ließ sich in den späten Lebensjahren die gewonnenen Einsichten wieder rauben. Von wem? Von niemand Geringerem als von Sigmund Freud. Die späte Lektüre seines Werkes hatte fatale Folgen für sie. Sie, die längst die Auswirkungen der sexuellen Gewalt auf ihre Persönlichkeit und auch deren gesellschaftliche Funktion erkannt hatte, sie ließ sich nun verunsichern durch die Erklärungsmuster Freuds. Nach der Freud-Lektüre deutete Woolf wider besseres Wissen ihr eigenes Leben um und verklärte es.

Aber vielleicht ist ja genau das die Hauptfunktion der auf dem Höhepunkt der ersten Frauenbewegung entstandenen Psychoanalyse gewesen: Die begreifenden Frauen an weiterer Erkenntnis zu hindern und ihr Denken und Fühlen durch falsche Erklärungen zu manipulieren?

Am 28. März 1941 konnte die Helle von Virginia Woolfs Denken das Dunkle ihrer Erinnerungen nicht länger bannen. Im Schatten der drohenden Nazi-Invasion holte sie der Faschismus ihrer Kindheit ein. Sie stopfte sich die Taschen voller Steine und ging ins Wasser. - Spätestens im Licht der Analyse von DeSalvo kann bei der Lektüre von Virginia Woolfs Texten kein Zweifel daran bestehen, dass es da einen Zusammenhang gibt: einen Zusammenhang zwischen dem sexuellen Missbrauch der kleinen Virginia und dem Selbstmord der großen Dichterin.

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