Jagd auf Lehrerinnen

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Zielscheibe der Gewalt an der Schule sind oft die Lehrerinnen - wie auch in dem Kinofilm "Tötet Mrs. Tingle".

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Am 9. November um 8 Uhr 05 reißt der 15-jährige Andreas die Tür zu seinem Klassenzimmer 9.1 auf. Er hat in jeder Hand ein Messer und sticht 22 Mal auf die Lehrerin Sigrun Leuteritz ein. Keiner der Schülerinnen und Schüler eilt ihr zu Hilfe. Ein Stich trifft die 44-Jährige ins Herz. Sie verblutet auf dem Flur.

Andreas gehört zur Hauptproblemgruppe der 14- bis 15-Jährigen, sie sind die Gewalttätigsten. Auf 3 bis 4 Prozent kam Erziehungswissenschaftler Melzer in einer Studie „Gewalt als soziales Problem in Schulen“ innerhalb dieser Altersgruppe. Berücksichtigen wir jedoch, dass es sich bei der Schülergewalt quasi ausschließlich um ein Jungenphänomen handelt, so schnellt der Prozentsatz auf das Doppelte: Quasi null Mädchen der Sekundarstufe I, aber 6 bis 8 Prozent der Jungen sind „besonders aggressiv“ und „gewaltbereit“. Das heißt: jeder 12. bis 16., also in jeder Klasse zwei bis drei.
Der Gymnasiast Andreas aus dem idyllischen Wein- und Porzellanstädtchen Meißen galt nicht als Problemfall. Die Familie wohnt in einer Eigentumswohnung, die Eltern sind berufstätig, die Schwester verkehrt in einer Jugendclique, wo man sich mit „Ex oder Jude“ zuprostet. Das scheint normal zu sein. Ebenso normal war, dass Andreas Horror-
filme und Gewaltvideos konsumierte.
Der berühmte Tropfen, der die Aggression tödlich werden ließ, war vielleicht die Tatsache, dass der Heranwachsende in seiner „Mannesehre“ gekränkt war. Die ganze Klasse spöttelte über „Andys biologisches Problem“. Es hieß: „Der kommt schon, wenn er mit der Freundin nur knutscht“ und „Der kann es sich nicht einmal selber machen“. Und da richtete die Aggression sich dann gegen die strenge, „kastrierende“ Lehrerin. „Verletzte Männerehre“ heißt sowas in Mordprozessen, egal ob der Täter 15 oder 50 ist. Und meist findet das Motiv verständnisvolle Richter.
Nach dem Schock von Meißen kamen auch all die anderen Beinahe-Morde und die weitverbreiteten alltäglichen physischen und verbalen Attacken in den Medien zur Sprache: von Schülern gegen Lehrerinnen und Lehrer, und von Lehrern gegen Schülerinnen und Schüler. Am 30. November wurde bekannt, daß die Rektorin und eine Lehrerin im bayerischen Metten nur knapp dem Tod entronnen sind: Bei den drei potenziellen 14-jährigen Tätern fand die Polizei einen Revolver und detaillierte Tatpläne. Daß es bisher erst eine tote Lehrerin in Deutschland gibt, scheint eher Zufall.
In Amerika gab es allein in den letzten drei Jahren 16 Massaker durch Schüler, immer nur Schüler, mit insgesamt 40 Toten und 83 Schwerverletzten, meist Mädchen und Frauen. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass solche Verhältnisse auch auf uns zukommen. Denn die Jungen leben in derselben Welt zwischen Verunsicherung und Aufrüstung, ihre bewaffneten Väter sind in der Bürgerwehr oder im Schützenverein (und notfalls tut’s auch ein Küchenmesser), und sie spielen dieselben Ballerspiele am Computer, verschärft vom amerikanischen Militär.
Wie beliebt und verbreitet die „Tötet Mrs. Tingle!“-Phantasie ist, sehen wir daran, dass die „liebenswerte Komödie“ aus Amerika pünktlich zur Bluttat in Meißen und trotzalledem in Deutschland anlief. Da ändert es wenig, daß der Verleih den Bogenschützen vom Plakat nahm: Zielscheibe ist und bleibt die Lehrerin – und sie ist nicht zufällig eine Frau.
EMMA Januar/Februar 2000

In EMMA u.a. zum Thema:

Amoklauf in Winnenden (3/2009)

Der Stoff, aus dem die Täter sind, Prof. Pfeiffer (4/2002)

Werden aus Erfurt wirklich Lehren gezogen? (4/2002)

Einsame Cowboys (5/2000)

Schule & Gewalt (5/2000)

Was ist ein richtiger Junge? (5/2000)

Gewaltzone Schule (2/2000)

Wie Jungen zu Killern gemacht werden, Dave Grossman (1/2000)

Gewalt hat ein Geschlecht, Prof. Pfeiffer (1/2000)

Massaker in Montreal: Kein Zufall (2/1990)

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