Nur ein Stück Fleisch

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Glaubt man den Veröffentlichungen der Boulevardpresse, so führte die karnivore Neigung Gerhard Schröders zu der Trennung von Hiltrud und ihrer fleischlosen Küche.

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Ob es tatsächlich das Fleisch war, das das prominente Ehepaar in die Krise trieb, soll hier nicht weiter hinterfragt werden. Für unser Thema zählt allein die Tatsache, dass die kulinarischen Differenzen zahlreiche Pressemeldungen wert waren, in denen die mangelhafte Fleischversorgung des Bundeskanzlers zu einem Politikum gemacht wurde.

Dieses Beispiel verweist auf zwei zentrale Fragen: 1. Wie lässt sich erklären, dass Männer mehr als Frauen auf ihr tägliches Stück Fleisch nicht verzichten wollen? 2. Worauf gründet der Symbolgehalt, der dem Fleisch wie keinem anderen Nahrungsmittel anhaftet?

Der „Dictionnary of Historical Slang“ führt eine Vielzahl von Ausdrücken auf, die umgangssprachlich seit dem 15. Jahrhundert – darunter manche bis heute – in Gebrauch sind. Ein „bit of meat“, ein „Stück Fleisch“ bedeutete früher Geschlechtsverkehr (vom männlichen Standpunkt aus) und später Prostituierte. Als „frisches Fleisch“ wurde eine Prostituierte bezeichnet, die neu im Geschäft war. „Rohes Fleisch“ war ein Ausdruck für jede Frau. Ein „Fleischhaus“ war ein Bordell. „Fleischmarkt“ oder „Fleischbeschau“ waren Worte für ein Rendezvous mit einer Prostituierten, die weiblichen Brüste und die Vagina. Der Ausdruck „ein Stück oder eine Scheibe vom Braten“ ist auch heute im englischen Sprachraum ein Slangbegriff, den Männer als Ausdruck für „Geschlechtsverkehr mit einer Frau“ benutzen.

Ein weiterer Aspekt der metaphorischen Funktion von „Fleisch“ ist die Beschreibung von Frauen in Begriffen aus der Jäger- und Viehzüchtersprache: Sie wird „geritten“, „gezähmt“ und als „Freiwild“ oder „Frischfleisch“ gejagt.

Für Feministinnen wie Carol J. Adams („The Sexual Politics of Meat“) ist Fleisch der Inbegriff des patriarchalen Weltbildes. Sie setzen den Sieg über die Natur und das Wilde gleich mit der Ausbeutung der Tiere und der Unterdrückung der Frau. Tatsächlich scheint es eine zeitliche Übereinstimmung zu geben zwischen der erfolgreichen Domestikation der Tiere und der Verwandlung der Frau in ein „Haustier“: Die Zähmung von Tier und Frau fällt ungefähr in die Epoche des Übergangs zur Agrargesellschaft, mit der sich unser Denken von den wilden Ursprüngen abwendet und aus dem Chaos der Vorgeschichte in die „Zivilisation“ eintritt.

Die vorgeschichtlichen Muster setzen sich jedoch fort: Das Urtrauma von Fressen und Gefressenwerden findet seine grausamste Verarbeitung in der Kultur des Krieges, deren Anfänge von manchen Historikern ebenfalls in die Zeit des Aufstiegs des Ackerbaus datiert werden.

Ob die Kraft der tierischen Nahrung, der Reichtum der Feinde oder die Verlockungen des weiblichen Körpers – immer verbindet sich das Prinzip der gewaltsamen Aneignung mit der Idee der Verwandlung von Fremdem in Eigenes. Sie markiert auch den Beginn des gesetzlichen Bundes von Mann und Frau: Die Vermählung ließe sich als symbolische Einverleibung der Frau durch den Mann, ihre Zähmung durch den Bräutigam (englisch groom: Stallknecht) interpretieren. So wird in manchen Kulturen bei der Hochzeit die Frau entführt, um dann auf dem Altar gleichsam „geopfert“ zu werden.

Teile des Hochzeitszeremoniells sollten bewusst „an die Vorbereitung eines Tieres auf den Opfertod erinnern; der Braut wurde das Haar geschnitten, sie wurde gewaschen und trug einen Kranz“ (Helen King). Die verheiratete Frau, die „gyne“, war „der Gegenpol der parthenos; bei Menstruation, Defloration und Geburt sollte sie bluten, weil das ihrer Rolle bei der Reproduktion der Gesellschaft entsprach, doch selbst Blut vergießen sollte sie nicht. Das darf nur ein Mann im Krieg und beim Opfern“. Der rote Faden männlichen Bluts, das im Krieg vergossen wird und Signum des Lebens, der Tatkraft, der Tapferkeit, kurz: männlicher Zeugungsfähigkeit wird, spinnt sich fort bis in unsere Breiten und Zeit. „Der Kampf ist nicht nur eine Vernichtung, sondern auch die männliche Form der Zeugung“, liest man etwa bei Ernst Jünger.

Lange Zeit gingen die Evolutionstheoretiker davon aus, dass sich nahezu alle Fragen nach dem entwicklungsgeschichtlichen Ursprung menschlichen Verhaltens aus der Fähigkeit des Menschen zur Jagd erklären lassen. Die Rekonstruktionen der Anfänge menschlicher Aktivitäten, die „natürlich“ den Mann als Jäger ausweisen, entlarven sich jedoch für die Historikerin Nancy M. Tanner „als in die Vergangenheit projizierte Aspekte unserer eigenen Kultur“. („Wie wir Menschen wurden“, 1994)

Dass der Mensch ein Fleischfresser ist, wird auch von jenen Anthropologen konstatiert, die sich gegen die so genannte „Jägerhypothese“ wenden. Der grundsätzliche Unterschied liegt jedoch in der Annahme, dass es lange vor dem jagenden Menschen den gejagten Menschen gegeben haben muss – ein Sachverhalt, der die Ontho– und Psychogenese des Menschen entscheidend mitbestimmt hat. Nicht das Jagen, sondern der Hunger und die Notwendigkeit, sich gegen die feindliche Umgebung zu verteidigen, waren, wie Barbara Ehrenreich in „Blutrituale“ überzeugend darstellt, die entscheidenden Triebkräfte der Evolution.

Viele Tierarten waren anfangs weitaus geschicktere Jäger als der Mensch, dessen Entwicklung von der Beute zum Raubtier ein langer, traumatischer Prozess gewesen sein muss: „Vor dem Zeitalter der Jäger und noch lange nach dessen Anfang muss es ein langes dunkles Zeitalter der Angst gegeben haben, in dem die Unvorsichtigen und die von der Gruppe Abgekommenen routinemäßig gefressen wurden und ein kranker oder zeitweise geschwächter Mensch schnell zu jagdbarem Fleisch werden konnte.“

Den Status des „dominierendsten Tiers“ (Charles Darwin) hat sich der Mensch erst erkämpft – sein Aufstieg an die Spitze der Nahrungskette dauerte Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Jahren und verbindet sich mit dem „Urtrauma“, von Tieren gejagt und gefressen zu werden. Die Tendenz zur Sakrilisierung von Gewalt, der Ritualisierung des Schlachtens und die religiöse Erhöhung des Krieges lässt sich nach Barbara Ehrenreich nur vor dem Hintergrund des langen, traumatischen Kampfes um das (eigene und fremde) Fleisch verstehen. Dieser Kampf in all seiner Doppeldeutigkeit ist unserer Geschichte als Grundprinzip eingeschrieben.

Der Fortschritt der Menschheit bzw. ihr Triumph über das Tier und die ungezähmte Natur geht zurück auf die Fähigkeit der Anpassung an eine zunächst noch überlegene Tierwelt. Die Jagd nach Fleisch konfrontierte den Menschen nicht nur mit der Perfektion und Überlegenheit der anderen Fleischfresser unter den Tieren, sie ließ ihn auch erkennen, dass er nur über den Weg der Imitation als Sieger aus der natürlichen Ordnung hervorgehen würde: Wenn Menschen einen Stein so lange bearbeiten, bis er eine scharfe Kante hat, und dann damit einen Stock zuspitzen, verfügen sie damit über das Äquivalent der Zähne und Klauen eines Tieres. Als die Menschen Jahrtausende später das Pferd gezähmt hatten und als berittene Bogenschützen auftraten, waren sie endlich ebenso schnell und tödlich wie ein Löwe oder Leopard.

Als es das eigene Fleisch nicht mehr gegen den Angriff der Tiere zu verteidigen galt, trat der Mensch in die „Zivilisation“ ein. Auf verschiedenen Ebenen wiederholt sich nun das alte Schema von Beute und Raubtier. Nur „wen der Mensch sich nicht unterjochen kann, den verehrt er, wie den Tiger“ (Elias Canetti) – auch für die menschliche Rangfolge gilt die Verknüpfung von Macht und Herrschaft über das Fleisch.

Sich dieser Ordnung durch die Ablehnung fleischlicher Nahrung zu widersetzen, war daher immer schon ein Teil des vegetarischen Credos, das jedoch auch in einer Gesellschaft, die ein Herz für Kinder hat und für Tiere bremst, vergleichsweise wenige Anhänger findet. Im Gegenteil: Prozentual gab es noch nie so wenig „freiwillige“ Vegetarier wie heute. Angesichts der Tatsache, dass sich unter dem Einfluss der Industrialisierung jene Versorgungsmaschinerie in Gang setzte, dank derer sich – zumindest in der so genannten Ersten Welt – der Traum vom täglichen Fleisch für ein Massenpublikum erfüllt.

Die Ansicht, den Tieren sei ein Recht auf Leben zuzuerkennen, und ihr vorrangiger Zweck sei nicht der, dem Menschen zu dienen und ihn zu versorgen, ist in der Geschichte immer nur von einer Minderheit geteilt worden. Mit der Gründung der „Vegetarian Society“ 1847 in Manchester wurde der Vegetarismus erstmals institutionell verankert. Er verstand sich als Sprachrohr gegen eine Denktradition, nach der über Tiere und die Natur frei verfügt werden konnte. Die Betonung der größeren Produktivität des Ackerbaus im Vergleich zur Tierzucht war Teil des Manifests der vegetarischen Vereinigung, wenngleich der ethische Aspekt der Gewaltächtung im Vordergrund stand.

Der neuzeitliche Vegetarismus opponierte nicht zuletzt gegen jene anthropozentrischen Definitionen des Mensch-Tier-Verhältnisses, wie sie am ausdrücklichsten der Aufklärungsphilosoph René Descartes in seiner Lehre von der empfindungslosen, insbesondere schmerzun-empfindlichen Tiermaschine popularisiert hatte, mit der er den pythagoräischen Verbund zwischen Mensch und Tier durch die radikale Leugnung der Tierseele durchschnitt. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – der egalitäre Anspruch des Schlachtrufes von 1789 wurde nicht zuletzt Wirklichkeit bei der Nahrungsmittelproduktion und -versorgung.

Unser täglich Fleisch gib uns heute. Als zeitgemäße Variante der Oblate bietet der „Hamburger“ nun zusätzlich das, wonach man sich früher vergeblich verzehrte. So wurde die Wasser-Mehl-Rezeptur – einst Symbol christlicher Hungerreligion – um jenen bedeutsamen Zusatz erweitert, dessen Botschaft täglich allein in den Kathedralen von McDonald’s 28 Millionen Menschen am Leben hält, 18 Millionen davon in den USA.

Im Zuge der Demokratisierung der Ernährung ist Fleisch in den Industrienationen längst keine Frage des gesellschaftlichen Standes mehr. Gerade für das Nahrungsverhalten der modernen Führungsschichten lässt sich ein gegenläufiger Trend feststellen: Während man, als Fleisch noch eine Seltenheit war, allein durch häufigen Verzehr seine gesellschaftliche Stellung zum Ausdruck brachte, lassen sich für die soziale Logik des gehobenen Geschmacks nun eher bewusster Verzicht und eine Präferenz für alles Magere feststellen. Pierre Bourdieu: „Gerichtet aufs Leichte, Feine und Raffinierte, konstituiert der Geschmack der Angehörigen der freien Berufe und der höheren Führungsschichten den der Arbeiterklasse negativ als Geschmack fürs Schwere, Fette, Grobe.“

Als weniger dialektisch hingegen erweist sich das Verhältnis der Frauen zum Fleisch: Wie bei keinem anderen Nahrungsmittel schlägt sich die Geschlechterdifferenz beim Fleischverzehr nieder. In einer repräsentativen Umfrage des Deutschen Instituts für Ernährung gaben 40 Prozent der Männer an, täglich Fleisch zu essen, aber nur 20 Prozent der Frauen. Fleisch und Macht polarisiert eben nicht nur zwischen Arm und Reich, sondern auch zwischen Mann und Frau.

Das unterschiedliche Verhältnis von Mann und Frau zum Fleisch wurzelt in der wahrscheinlich gegen Ende der Altsteinzeit oder zu Beginn der Mittleren Steinzeit infolge des Rückgangs der Tierbestände eingetretenen Ablösung der Jagd als Familienunternehmen durch die Pirschjagd als Männersache. Barbara Ehreneich: „Statt der gemeinsamen Jagd der ganzen Gruppe gab es jetzt die Untergruppe der männlichen Jäger, während den Frauen die weniger ruhmreiche Aufgabe zufiel, das von den Männern angebrachte Fleisch samt Fell, Knochen und anderen nützlichen Bestandteilen zu verarbeiten.“

Dass auch die Frauen bis dahin eine aktive Rolle bei der Fleischversorgung gespielt haben, lassen auch die steinzeitlichen Höhlenmalereien vermuten. Der Fall des „Jägers von Barum“ bekräftigt die Annahme: Der Jäger war wahrscheinlich eine Frau mittleren Alters, die schon einige Geburten hinter sich hatte.

Für die von Barbara Ehrenreich und anderen ForscherInnen vertretene These, dass vor der Ära des männlichen Heldenkriegers beide Geschlechter zur Versorgung der Gruppe mit Fleisch und anderen Naturalien beitrugen, sprechen auch die aus fast allen Kulturen überlieferten Mythen von den Fleisch fressenden Raubtiergöttinnen, deren Ansehen ihrer Herrschaft über Tier und Mensch zu verdanken war und durch die weibliche Kraft der Fruchtbarkeit noch verstärkt wurde. So ist Artemis – wie ihr sumerisches Pendant Ninhursaga – nicht nur die Göttin der Jagd, sondern auch der Inbegriff weiblicher Fruchtbarkeit: ein Kind in den Armen und die Opferaxt in der Faust.

Die Entthronung der geheimnisvollen, Fleisch fressenden Jägerin bzw. der historische Wandel des Rollenmodells, der mit der neuen Aufgabenverteilung einherging und dem weiblichen Teil der Gruppe die Funktion der Verwalterin des Saatguts und der Fleischverarbeitung zuwies, bewirkte auch eine Neubesetzung des Götterhimmels: Aus den einst blutrünstigen und fleischhungrigen Kämpferinnen wurden friedliebende Göttinnen des Ackerbaus, die zum Leben nun wenig mehr als eine Handvoll Samen brauchten.

Aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung bzw. der strikten Trennung der Aufgabenbereiche in Jagd- und Sammeltätigkeit entstand das Bild des Fleisch fressenden Mannes und der Körner kauenden Frau. Dieses Schema hat sich bis heute in unserer Gesellschaft erhalten. Das bestätigen auch Bourdieus Untersuchungen, denen ein umfassendes statistisches Material zugrunde liegt: „Fleisch, die nahrhafte Kost schlechthin, kräftig und Kraft, Stärke, Gesundheit, Blut schenkend, ist das Geschlecht der Männer, die zweimal zugreifen, während die Frauen sich mit einem Stückchen begnügen.“

Die Frau isst kein Fleisch. Sie ist Fleisch – und damit Nahrung für den Mann. Die Vereinnahmung der Frau im Sinne der Übernahme ihrer Fähigkeiten findet im Frau-Essen ihren symbolischen Ausdruck. Er speist die Kreativität des selbst ernannten Genies Salvador Dali, dessen schriftstellerischen Ergüsse von einem eher entsexualisierten Wesen zeugen – bis er seine Geliebte Gala kennen lernte. „Ich esse Gala“, lautet eines der Kapitel in seinem Kochbuch. „Alles, was essbar ist, erregt mich“, schreibt er an anderer Stelle – und es müsste wohl eher heißen: Alles, was mich erregt, möchte ich essen. Zum Beispiel: „Die Frauen mit den Namen von Provinzen und Schlössern, mit hervortretenden Knochen unter herrlichen Gewändern, mit einer durch köstliche Parfüms, Perlen und Steine irreal gemachten Haut ließen mir ebenso das Wasser im Mund zusammenlaufen wie die höchst komplizierten Gerichte, die in dunklen Soßen von erlesener Verfeinerung schmelzenden Fleischsorten.“

Das Motiv der Zerstörung des weiblichen Körpers ist ein im Surrealismus weit verbreitetes Motiv. Unter den Mitgliedern dieser Künstlergruppe war es Meret Oppenheim, die dieses Thema in den Kontext von Nahrung und weiblichem Körper gestellt hat: „Ma gouvernante“ nimmt als Metapher für Weiblichkeit auf die gleichsam natürliche Verbindung zwischen Gänsebraten, Bedienstetenhäubchen und gefesselter Frau Bezug.

Männliche Maßstäbe sorgen auch heute für den richtigen Zuschnitt des weiblichen Modells. Bei der weiblichen Nahrungsverweigerung geht es nicht nur darum, einem Schönheitsideal zu entsprechen, sondern auch um den verzweifelten Versuch, sich all jener Anzeichen weiblicher Anziehungskraft zu entledigen, die ihr „gesundes“ Fleisch zu einem gefundenen Fressen machen.

Nan Mellinger, EMMA November/Dezember 2002
Dieser Text ist eine Zusammenstellung verschiedener Auszüge aus dem Buch „Fleisch. Ursprung und Wandel einer Lust. Eine kulturanthropologische Studie“ (Campus Verlag) der Kulturwissenschaftlerin, die als freie Autorin in Berlin lebt.

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