Seyran Ates große Reise

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Dies ist die Geschichte einer Berliner Anwältin, die in der Türkei geboren ist und als Juristin entscheidend beigetragen hat zu dem konsequentesten Anti-Kopftuch-Gesetz in Deutschland, dem Berliner "Neutralitätsgesetz". Denn die 41-Jährige, die gerade Mutter einer Tochter geworden ist, hält wenig von falscher Toleranz: "Wo Menschenrechte verletzt, und Grundwerte, wie die Gleichbehandlung von Mann und Frau unterwandert werden, muss der Staat Stellung beziehen! Und das Kopftuch ist kein Zeichen besonderer Gläubigkeit, sondern ein Symbol der Unterwerfung der Frauen unter die Männer."

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Vom Slum in Istanbul wird die sechsjährige Seyran Ates mit ihren Geschwistern 1969 in den Wedding nach Berlin gebracht. Ein Zimmer in der Liebenwalder Straße ist das neue Zuhause der siebenköpfigen Familie. In der Vorschule, wohin Seyran geschickt wird, versteht sie zunächst kein Wort. Schon nach einem Jahr steht in ihrem Zeugnis: "Keinerlei Probleme mit Deutsch".

Warum man an einem Ort so, am anderen so spricht, das erklärt Seyran niemand. Warum sie nicht wie ihre Brüder draußen spielen darf, sondern ihnen wie ein Lakai dienen muss, dafür gibt es ebenfalls keine Erklärung.

"Schlau, neugierig und rebellisch" sei sie, heißt es. In der Schule ist sie Klassenbeste, Schulsprecherin, organisiert Demos und Streiks. Zu Hause ist sie Sklavin. Doch je mehr die kleine Türkin lernt, umso größer wird die Kluft zwischen ihr und den Deutschen – und ihr und den Türken.

Bei Behördengängen allerdings wird das Mädchen als Dolmetscherin eingespannt. Dies ist die Nahtstelle zwischen den Migranten und Deutschland. "Ich habe sofort rausgekriegt, dass Ausländer schlechter behandelt werden als Deutsche. Auch weil sie ihre Rechte nicht kennen." Zu Hause darf sie den Mund nicht aufmachen; auf Ämtern ist sie das Sprachrohr der ganzen Verwandtschaft.

Die Zerrissenheit in ihrem Leben kompensiert sie mit Tagträumen. Die Unterdrückung mit Wut. Die braucht sie, um abzuhauen. Mit 17 hält sie das Eingesperrtsein nicht mehr aus und verschwindet. Sie wird in Wohngemeinschaften versteckt, lebt zeitweise mit ihrem deutschen Freund. Und sie schafft es, dass ihre Familie sie nicht verfolgt, dass ihr nicht aufgelauert, sie nicht umgebracht wird, zur Rettung der 'Familienehre'.

Seyran will ihr Recht. Als Türkin. Als Deutsche. Als Frau. Als Tochter von Migranten. Als Schülerin. Als Hausbesetzerin und Punk. Das Jurastudium und das Engagement in einer Beratungsstelle für Frauen aus der Türkei liegen für sie auf der Hand. Kaum aber nimmt sie sich vom Leben, was sie will, ist es fast schon zu Ende.

Herbst 1984: Ein Mann kommt in den Frauenladen in Kreuzberg, wo Seyran Migrantinnen berät, und holt eine Pistole aus der Tasche. "Der erschießt dich", denkt sie noch – da liegen sie und Fatma E. bereits getroffen am Boden.

Wie durch ein Wunder überlebt Seyran Ates. Nicht so Fatma E. Sie stirbt kurz nach dem Attentat. "Eine Strafaktion war das", sagt die heutige Rechtsanwältin, "gegen die Aufklärung der türkischen Frauen. Wenn diese ihre Rechte kennen, verlieren die Männer ihre uneingeschränkte Herrschaft." Da stellt sich die Frage, warum Aufklärung nicht ein Recht für alle ist, deutsche wie türkische Frauen? Eine Antwort, sagt sie, hat sie bis heute nicht erhalten, trotz Leitkultur- und Kopftuchdebatte.

Jahre braucht Seyran Ates, um sich von den Folgen des Attentats zu erholen. Wieder ist sie eingesperrt. Diesmal in sich. Mit eisernem Willen überwindet sie Lähmung und Schmerzen. Nach Kreuzberg allerdings fährt sie lange nicht mehr. Sie hat Angst, dort ihrem Mörder zu begegnen, der im Indizienprozess ("Im Zweifel für den Angeklagten") freigesprochen wird.

Im Frühling feiert Ates Geburtstag, im September ihre zweite Geburt. Sie gibt nicht auf. Sie will Anwältin werden. Würde sie es nicht, "hätte der Mörder sein Ziel erreicht." Sie schafft es. Nach dem Staatsexamen findet sie am Hackeschen Markt Räume für eine Kanzlei.

Anwältin Ates betätigt sich zunächst im Arbeits- und Zivilrecht. Auch als Verfechterin des Kopftuchverbots tritt sie auf. Vehement und konsequent. Mittlerweile etabliert sie sich auf den Gebieten Familien- und Strafrecht. Die andere Seite des Rechts. Sie will kämpfen, "aber für Dinge, die sich lohnen".

'Seyran' heißt auf Deutsch 'Große Reise'. 'Ates' heißt 'Feuer'. Die Rechtsanwältin ist längst noch nicht angekommen. Sie will nicht nur Recht verteidigen, sondern auch da agieren, wo es entsteht. Deshalb macht sie seit Jahren Lobbyarbeit für eine ehrliche Integrationspolitik, streitet mit Politikern, tourt durch Talkshows, liest aus ihrem Buch, die 'Große Reise ins Feuer', in dem sie ihre Geschichte aufgeschrieben hat.

Heute soll es nicht zu spät werden beim Akten durcharbeiten in der Kanzlei. Denn Tochter Zoe wartet schon auf ihre Mutter. "Und die", sagt Seyran Ates und blickt sehr entschlossen, "soll frei aufwachsen".

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Seyran Ates "Große Reise ins Feuer" (Rowohlt)

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