Wir können etwas tun!

Artikel teilen

30. März 1993. Wer an diesem Tag in Zenica sein Radio einschaltet, bekommt eine ungewöhnliche Meldung zu hören: "In dem Anliegen, Frauen und Mädchen, die Opfer von Kriegsvergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina geworden sind, medizinische und psychologische Unterstützung zu geben, teilen wir mit, dass diese Frauen in der Institution Medica Zenica aufgenommen werden. Auf diesem Wege möchten wir den Opfern den Ort bekannt machen, an dem sie Hilfe finden können. Er befindet sich in der Pionirska Straße 10, Telefonnummer 26594. Die professionelle Hilfe wird von bosnischen Expertinnen und Dr. Monika Hauser geleistet. Betroffene Frauen und ihre Kinder können zusammen in diesem Zentrum untergebracht werden." Und weiter: "Wir appellieren außerdem an alle, die Orte kennen, an denen sich weitere Opfer aufhalten, diesen Frauen und Mädchen von der Existenz von Medica zu berichten und uns dabei zu unterstützen, sie zu Medica zu bringen. Es ist unsere gemeinsame Pflicht, ihnen eine Möglichkeit zur Aufarbeitung ihrer traumatischen Erfahrungen zu geben und ihnen so die Chance zur medizinischen und psychologischen Rehabilitation zu eröffnen. Deshalb rufen wir alle Menschen in Zenica und ganz Bosnien auf, uns bei unserem Versuch zu helfen, das Recht der Opfer auf Hilfe ohne jede Stigmatisierung umzusetzen. Denn es muss jedem klar sein, dass die Vergewaltiger diejenigen sind, die stigmatisiert, angeklagt und bestraft werden müssen. Das Medica-Team."

Anzeige

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen in Zenica diesen Aufruf verpassen, ist gering: Weil der Strom permanent ausfällt, wird der Appell während Tagen in regelmäßigen Abständen wiederholt. Um den genauen Wortlaut der Bekanntmachung hatte es zwischen Monika Hauser und ihren bosnischen Kolleginnen zunächst heftige Diskussionen gegeben. Das einheimische Team war dagegen, das Wort "Vergewaltigung" so deutlich auszusprechen. "Das schien uns zu heftig", erinnert sich Medica-Psychologin Marijana Senjak noch 15 Jahre später. "Die bosnische Sprache ist nicht so direkt. Sie neigt dazu, die reale Bedeutung von Dingen zu verschleiern." Die Ärztin aus Deutschland hingegen plädiert dafür, die Dinge beim Namen zu nennen, um der Tabuisierung des Themas nicht weiter Vorschub zu leisten. Sie setzt sich durch und sorgt dafür, dass das heikle Wort immer wieder fällt: In den vielen Interviews, die sie gibt, in den Gesprächen mit dem Bürgermeister und den Krankenhausärzten und beim Imam von Zenica. "Wir haben es vom ersten Tag an entstigmatisiert. Überall habe ich über die Vergewaltigungen geredet. Fernsehen, Radio und Zeitungen waren voll von Berichten über unsere Arbeit."

Schließlich verkündet der Imam sogar eine Fatwa, in der er vor der Ausgrenzung vergewaltigter Frauen warnt und einen Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten vier Monate für zulässig erklärt, obwohl das bosnische Gesetz Abtreibungen eigentlich nur bis zur zehnten Schwangerschaftswoche erlaubt. Der Versuch, für die Zeit des Krieges eine Art Notstandsgesetz zu schaffen, das Abbrüche nach Vergewaltigungen grundsätzlich straffrei lässt, war zuvor am Widerstand der muslimischen Geistlichen gescheitert. Imam Mustafa Ceri aber lässt sich von der Gynäkologin aus Deutschland überzeugen, dass die Folgen erzwungener Geburten dramatisch sein können und dass Früh- und Fehlgeburten, eine erhöhte Missbildungsrate, die schwere psychische Belastung der Frauen bis hin zum Suizid und nicht zuletzt die sehr wahrscheinlich schwer gestörte Bindung zwischen Mutter und Kind eine Ausnahmeregelung dringend notwendig macht.

Medicas Pressekampagne und die Einbindung der örtlichen Honoratioren in den Aufbau des Zentrums zeigen Wirkung. Als am 3. April 1993, einem Samstag, das nun fertig umgebaute und eingerichtete Therapiezentrum zum Empfang lädt, sind alle da: Vom Bürgermeister bis zur Baufirma, vom Chef der gynäkologischen Abteilung des örtlichen Krankenhauses bis zum Gesandten des Gesundheitsministeriums, der der neuen Einrichtung seine Genehmigung erteilen muss. Diese liegt zu diesem Zeitpunkt noch nicht vor, es gab einfach keine Zeit für bürokratische Kinkerlitzchen. "Wir hatten bei der Eröffnung noch gar keinen schriftlichen Vertrag mit dem Ministerium, aber wir haben einfach angefangen", sagt Monika Hauser. "Und sie haben uns machen lassen."

Ihr Taschenkalender, der exakte Auskünfte über die Termine in diesen aufregenden Tagen gibt, existiert noch. Am Sonntag, dem 4. April, steht für 14 Uhr das bosnische Fernsehen auf dem Plan; um 16 Uhr findet die erste große Teambesprechung statt: "Es herrschte eine enorme Aufbruchstimmung. Das Gefühl: Wir haben’s geschafft und wir starten jetzt. Gleichzeitig stand die Frage im Raum: Wie geht der Krieg weiter? Und wie wird es werden, wenn die ersten Frauen kommen?"

Die ersten Frauen kommen am nächsten Tag. Es sind fünf, und Marijana Senjak erinnert sich an jede einzelne von ihnen. An die Ökonomietechnikerin, die in einem ostbosnischen Gefängnis vergewaltigt wurde; an die 34-Jährige, deren Haut nach zwölf Tagen in einem Lager bei Sarajevo mit den roten Flecken der Schuppenflechte übersät ist; an die Friseurin, die ins selbe Lager verschleppt wurde. Und: "Eine der Frauen war im Beisein ihrer sechsjährigen Tochter vergewaltigt worden, als sie ihren inhaftierten Mann in einem Lager besuchen wollte. Und dann war da noch ein junges Mädchen, das von seinem Stiefvater missbraucht worden war."

Der zweistöckige Flachbau in der Pionirska Straße mit seinen Zwei- und Vierbettzimmern ist nun nach Monaten voller Angst und Schrecken "der erste sichere Ort für die Frauen". Und der erste Ort, an dem sie über das reden können, was ihnen widerfahren ist. "Ich hatte die Nachmittagsschicht, die bis in die Nacht hinein dauerte", erzählt Marijana Senjak. "An diesem Tag fiel der Strom aus. Eine Kollegin und ich saßen mit unseren Klientinnen bei Kerzenlicht um einen Tisch. Und da haben wir begonnen, über ihre Erlebnisse zu sprechen."

Der Text ist ein Auszug aus dem gerade erschienenen Buch von Chantal Louis: Nicht aufhören anzufangen. (Rüffer & Rub, 19.80 €)

Im Oktober 2008 ist Monika Hauser von der Right-Livelihood- Stiftung in Stockholm mit einem der Alternativen Nobelpreise ausgezeichnet worden. Den Preis erhält sie "für ihren unermüdlichen Einsatz für Frauen, die in Krisenregionen schrecklichste sexualisierte Gewalt erfahren haben, und für ihren Kampf, ihnen gesellschaftliche Anerkennung und Entschädigung zu verschaffen", so die Stiftung.

medica mondiale e. V.

Artikel teilen
 
Zur Startseite