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Vor ein paar Monaten hätte noch niemand einen Pfifferling für sie gegeben, am Wahlabend stand sie als strahlende Siegerin da – Beinahe-Siegerin. Jetzt ist sie Ministerpräsidentin. Nachfolgend ein Kraft-Porträt, das EMMA-Redakteurin Chantal Louis 2008 für das EMMA-KiWi-Buch "Damenwahl" schrieb.

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Eine Minute lang war es mucksmäuschenstill im Saal. Mit aufgerissenen Augen und offenen Mündern starrten die Parteimitglieder beiden Geschlechts zur Bühne. Dann erreichten die Zahlen, die der Wahlleiter soeben durchs Mikrofon verkündete, das Bewusstsein der anwesenden Genossinnen und Genossen: Hannelore Kraft war soeben zur Kandidatin für ein Düsseldorfer Landtagsmandat gewählt worden. Das hätte eigentlich nicht passieren dürfen.
Denn es war im SPD-Ortsverband Mülheim-Mitte schon eine kleine Revolution gewesen, dass überhaupt mehrere KandidatInnen, nämlich vier, zur Abstimmung standen. Noch bei der vorhergehenden Wahl war der potenzielle Landtagsabgeordnete im Hinterzimmer ausgekungelt worden. Der Ortsvereinsvorsteherin und Unternehmensberaterin Kraft stanken solche Mauscheleien schon lange, der Mehrheit des Ortsvereins nicht minder. „Also hatten wir beschlossen: Das muss ein fairer Wettbewerb sein. Diejenigen, die kandidieren wollen, müssen einen Rundlauf durch die Ortsvereine machen – und dann entscheidet die Delegiertenkonferenz.“
Es stand außer Zweifel, dass das Mandat an einen langgedienten Genossen gehen würde, der zudem GewerkschaftsVorsitzender war. „Das war ’ne Hausnummer!“ Was man von Kraft nicht behaupten konnte: 39 Jahre jung, Mutter eines Sohnes und überhaupt erst seit sechs Jahren Mitglied in der ehernen Traditionspartei. Die erste Rede mit „Sehr geehrte Damen und Herren“ begonnen. Oha.
Die Kandidatin entschloss sich, wenigstens ehrenvoll unterzugehen. Also bereitete sie statt der üblichen Deutschland-mussgerechter-werden-Rhetorik eine „innovative Rede“ vor. Sie begann mit dem Satz: „Stellt euch vor, ich stände am Mülheimer Hauptbahnhof am Fahrkartenautomaten und möchte eine Fahrkarte nach Düsseldorf kaufen. Welche Tasten kann ich da drücken?“ Ein Genosse sagte ihr später, spätestens an der Stelle habe man sie „für völlig bekloppt gehalten“. Doch als die Rednerin begann, die verschiedenen Optionen von Schülerfahrkarte über Familienticket bis Seniorenpass zu erläutern, begriffen die GenossInnen allmählich, dass die Kandidatin „über dieses Bild zum Ausdruck bringen wollte, dass ich mich nicht in eine Schublade pressen lasse, sondern die Interessen all dieser Gruppen vertretenmöchte.“ Krafts Vortrag endete mit „frenetischem Applaus“.
Als in der Pause die Stimmen ausgezählt wurden, stürmten viele auf Hannelore Kraft zu und spendeten Lob plus vorauseilenden Trost. „Tolle Rede! Schade, dass du et nich wirss.“ Oder: „Sowat hab ich noch nie gehört, aber leider wirss du et ja nich schaffen.“ Und dann kam der Moment, in dem sich alle anstarrten, als ginge ein Geist durch den Saal. Der Augenblick, in dem die Mehrheit der Delegierten begriff, dass das Kalkül jedes einzelnen – nur er persönlich wählt diese junge selbstbewusste Frau mit der Fahrscheinrede und alle anderen den Gewerkschaftsgenossen – volle Kanne in die Hose gegangen war. „Das war ein gespenstischer Moment“, erinnert sich Hannelore Kraft. „Ich hatte gewonnen. Und zwar richtig dicke.“
Nach Ende der Schreckminute brach Jubel im Saal aus – und „leichte Panik“ bei Hannelore Kraft. Dass die SPD den Wahlkreis 74 Mülheim an der Ruhr II/Essen VII im Direktmandat holen würde, war klar. Sie würde also auf alle Fälle im Landtag sitzen. „Und ich dachte: Mensch, jetzt hast du ’nen neuen Beruf.“ Ihre Wahlplakate klebte die Kandidatin selbst, mit dem sechsjährigen Sohn Jan im Schlepptau, der den Kleistereimer halten durfte. Kraft weiß, dass sie sowas bis heute machen muss. Ihr fehlt der SPD-Stallgeruch. Quereinsteigerin, Volkswirtschaftlerin, Unternehmensberaterin – ein Profil, das jeden alten Ruhrpottler die Stirn runzeln lässt.

Allerdings: Die zarte Blonde sagt bis heute mit tiefem Timbre „Maaketting“, „Patteitach“ und „frauenbeweecht“. Kein Schrebergärtner könnte es ruhriger. Und sie weiß nur zu gut: „Wenn man so vonner Seite reinkommt, muss man sich so ’ne Anerkennung inner Pattei erarbeiten.“ Deshalb hat sie im letzten Landtagswahlkampf zweieinhalbtausend Hausbesuche gemacht und in Ortsvereins-Stammkneipen mit SPD-Veteranen hundertfach Skat gekloppt.
Hannelore Kraft kommt zwar „vonner Seite“, ist aber mitten im Ruhrpott aufgewachsen, nämlich in Mülheim an der Ruhr, wo sie noch heute lebt. Der Vater Busfahrer, der sich später zum Verkehrsmeister hocharbeitete; die Mutter Verkäuferin, die bei AGFA im Akkord Filme in Dosen steckte und das auch weiter tat, nachdem Hannelore und ihre vier Jahre ältere Schwester da waren. „Das wäre finanziell auch gar nicht anders ausgekommen.“ Die Oma lebte mit im Haus, kochte mittags für die Mädchen und übernahm ein bisschen was vom Haushalt. Und Hannelore kickte mit Begeisterung mit den Jungs auf dem Schulhof. Weil es keinen Fußballverein gab, der Mädchen aufnahm, „bin ich dann beim Handball gelandet“.
Bis Hannelore Kraft Politik macht, dauert es allerdings noch runde 30 Jahre. Vorher macht sie „als zweite aus ’ner Riesenfamilie“ Abitur, traut sich aber nicht zu studieren. Sie macht eine Banklehre und stellt fest, dass „die interessanten Jobs die sind, für die man studiert haben muss“. Also traut sie sich doch und sieht, weil sie sich das Studium selbst mit Jobs finanzieren muss, „viele Unternehmen von innen“. Resultat: „Ich hab mich dann schnell für das große Ganze interessiert: Wie fließen die Geldströme? Was passiert bei der Europäisierung und der Globalisierung?“
Der Einstieg in die Politik kommt 1994, und das bezeichnenderweise, als sich Hannelore Kraft gerade über ein sehr handfestes Problem ärgert: Es gibt keinen Betreuungsplatz für ihren Jan. Sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt hat die Mutter pausiert und ist dann wieder halbtags eingestiegen. De facto ist sie „alleinerziehend mit Wochenendbesuch“, denn der Vater ist als selbstständiger Elektroinstallationsmeister häufig im Osten unterwegs. Später, als Kraft Landtagsabgeordnete, Ministerin und Vorsitzende der NRW-SPD wird, wird Udo Kraft nicht nur „volles Verständnis“, sondern auch Zeit dafür haben, dass sich nun die Rollen umkehren.
1994 verliert die SPD die Kommunalwahlen und muss zum ersten Mal seit Jahrzehnten angestammte Posten an die CDU abgeben. „Es hat mir Sorgen gemacht, dass die SPD da verloren hat“, erinnert sich Kraft, deren Familie „immer SPD-nah war“, und für die die SPD „die Partei war, die für Bafög und Durchlässigkeit stand und mir den Aufstieg möglich gemacht hat“. Nach der historischen Niederlage wollte sie „irgendwie was zurückgeben. Ich bin dann hingegangen und hab gesagt: Vielleicht könnt ihr mich jetzt gebrauchen.“
Die 33-Jährige kommt in einem günstigen Moment. „In dieser schwierigen Umbruchphase für die SPD kamen die Frauen nach oben.“ Und die Frau, die erst SPD-Chefin werden durfte, als die Sozialdemokraten nach vier Dekaden die NRWLandesregierung abgeben mussten, stellt trocken fest: „Das ist wohl nicht ganz untypisch.“
Die Genossin Kraft gehört zu den „Reformern“ und lernt in allen zehn Arbeitskreisen, die sie angekreuzt hat, die „Seele der Pattei kennen“. Zu der gehört, dass sie „das Mauscheln in Hinterzimmern nicht ab kann“. Reformerin Kraft fragt: „Es muss doch auch mal jemand anders kandidieren?“ Der Juso, der in Frage käme, antwortet: „Wenn ich dann nicht gewinne, bin ich verbrannt.“ Die Neue entgegnet: „Gut, dann kandidiere ich! Ist mir schietegal, ob ich verbrenne.“ Sie verbrannte nicht, auch wenn so mancher versuchte zu zündeln.
Im April 2001, ein Jahr, nachdem Hannelore Kraft ihr Landtagsmandat angetreten hat, tritt NRW-Europaminister Detlev Samland wegen einer Steueraffäre zurück. Kraft ist an diesem Samstagabend gerade beim Spargelschälen und guckt Borussia Mönchengladbach, als ein ihr unbekannter Journalist anruft. Was sie denn dazu sage, dass sie als Nachfolgerin im Gespräch sei? Kraft, die im Europa- und Wirtschaftsausschuss sitzt, lacht sich kaputt, schläft aber trotzdem mit dem Handy neben dem Bett. Als Wolfgang Clement sie am nächsten Tag zu sich bestellt, weiß die in Rhetorik, Kommunikation und dergleichen Geschulte genau, „was Frauen in solchen Situationen für gewöhnlich falsch machen. Ich hab also gesagt: Das kann ich! Das war für ihn erkennbar verblüffend.“ Clement machte Kraft zur Ministerin.
Und jetzt, nach immerhin schon 16 Jahren SPD-Mitgliedschaft, ist Hannelore Kraft als Chefin des größten SPD-Landesverbandes und Fraktionsvorsitzende die Nachfolgerin des Landesvaters Johannes Rau. Und nun die Herausforderin von Jürgen Rüttgers um das Amt des Ministerpräsidentin respektive der Ministerpräsidentin.
Dass sie es wird, ist nicht rasend wahrscheinlich. Aber wer weiß, vielleicht fällt ihr ja im letzten Augenblick wieder die passende Rede ein?

Der Text ist, leicht gekürzt, dem EMMA-Kiwi-Band "Damenwahl" entnommen.

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