Geht doch: Studieren mit Kind.

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Sophia war mit ihren sieben Monaten wohl die jüngste Zuhörerin in der Vorlesung über technische Propaedeutik der angehenden ZahnmedizinerInnen von Professor Jakstat an der Uni Leipzig. Ob sie das später vom Naschen abhält, bleibt abzuwarten, ihrer Mutter war damit zumindest sehr geholfen. Sandy Walther ist angehende Zahnärztin und eine von 130000 StudentInnen, die mit Kind studieren. Sie hat ihr Baby einfach mit in die Vorlesung genommen: „Ich habe voll gestillt, und da Sophia ein sehr ruhiges Baby war, lag es nahe.“ Ihr Prof hatte nicht nur keine Einwände, sondern volle Unterstützung offeriert und bekundet, wie prima er es findet, schon im Studium ein Kind zu kriegen.

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Sophia, mittlerweile eindreiviertel Jahre alt, ist das zweite Kind von Sandy und Jan, mit Bruder Fabius, 3, wird sie im Uni-Alltag groß. Kind Nummer drei ist unterwegs. Beim gemeinsamen Essen in der Mensa wird geschwisterlich geteilt, der Trubel in der großen Halle stört die Kinder nicht.

Die Gelassenheit scheinen sie von ihren Eltern zu haben. Zwar werden Sandy und Jan wegen ihres streng getakteten Zeitplans von Freunden „die Roboter“ genannt, wirken aber gar nicht so. Dass beides möglich sein muss – Kind und Karriere – war für beide früh klar, trotz ihrer anstrengenden Studiengänge. Vater Jan ist angehender Human-Mediziner. Da beide den strammen Klinik-Alltag noch vor sich haben, wissen sie die Flexibilität des Studiums zu schätzen. „Eigentlich ist alles eine Frage der Organisation und der Einstellung“, sagt der 28-Jährige. „Natürlich gibt es Einschnitte, in der Freizeit und finanziell, aber für uns war klar: Wenn drei Kinder, dann jetzt. Dann sind sie aus dem Gröbsten raus, wenn der Job startet“, ergänzt die 31-jährige Sandy.

Der Plan scheint aufzugehen. Mit viel Glück haben die Eltern Krippenplätze in Uni-Nähe bekommen, wissen ihre Kinder von 8 bis 16 Uhr gut betreut, können zwischendurch rüberschauen und nebenan im „Ruheraum“ lernen. Wenn die Kinder mal mit in die Uni kommen, gibt es ausreichend Still- und Wickelmöglichkeiten. Für Gleichberechtigung in der Beziehung sorgt der straffe Organisationsplan. Wer keine Pflichtveranstaltung hat, holt ab, bringt weg, kauft ein, macht sauber. Das Lernen am Schreibtisch wird in die Abendstunden verschoben.

Die beiden haben Glück, dass ihre Fakultäten Eltern mit Kindern keine Steine in den Weg legen. Ganz im Gegenteil, in der Zahnmedizin wird gerade an einer Studienordnung gefeilt, die festschreibt, dass Eltern flexiblere Zeitfenster erhalten, Klausuren ohne Probleme nachschreiben können und Fristen im Krankheitsfall ­automatisch verlängert werden.

Noch ist dieses Entgegenkommen ein Sonderfall. Der Spruch „Das mit dem Kind hätten Sie sich mal lieber vorher überlegen sollen!“ ist an Unis durchaus noch üblich. Und wer an Fakultäten mit dieser Einstellung studiert, womöglich alleinerziehend ist und das Kind nicht wirklich geplant hat, der ist nah dran, zu verzweifeln und die ­wissenschaftliche Laufbahn zu beenden, bevor sie begonnen hat. In diesen Situationen braucht es Mut und Wegweiser.

Regina Engelhardt vom Studentenwerk Leipzig ist für beides zuständig. Die Sozialberaterin ist eine wichtige Schnittstelle, berät bei der Studienorganisation, der Finanzierung, der Kinderbetreuung, empfiehlt spezielle Wohnheime: „Viele Studierende mit Kind fühlen sich angesichts der Bürokratie ohnmächtig, wissen gar nicht, zu welchen Ämtern sie müssen. Wer Unterstützung will, muss viele Anträge stellen. Letztlich kämpft jeder seinen eigenen Kampf, wenn es um BAföG, einen Krippenplatz, familienunfreundliche Seminarzeiten und Profs ohne Verständnis geht. Mein Tipp: Nicht abschrecken lassen! Es findet sich für nahezu alles eine Lösung.“

Das Hauptproblem ist für sie, dass es an den Universitäten keine festen Regelungen für Studierende mit Kind gibt. Fast alles sei vom Wohlwollen einzelner Fakultäten und deren Personal abhängig. Es gebe kaum Regularien, die Eltern bestimmte Rechte einräumten, Ansprüche auf Sonderstundenpläne zum Beispiel und Fristverschiebung bei Hausarbeiten und Prüfungen. Wer ein Pflichtseminar abends um 19 Uhr erwischt, hat Pech ­gehabt. Generell ist es schwierig, Sozialleistungen zu beantragen. Nicht mal ­Anspruch auf Hartz IV besteht in dieser Zeit. „Studierende sind keine homogene Masse. Sie alle haben verschiedene Lebenssituationen, variierende finanzielle Unterstützung. Mal helfen Eltern, mal sind sie auf sich allein gestellt. Die Ämter müssten sich erst einmal mit der studentischen Lebenssituation auseinandersetzen!“ findet die Sozialberaterin.

Gleichzeitig warnt sie vor der rosaroten Brille: „Man darf sich nichts vormachen, ein Studium mit Kind ist anstrengend. Es erfordert unglaublich viel Organisationstalent und das Wissen, keine 100 Prozent schaffen zu können, weder als Studierende noch als Eltern. Hilfe gibt es auch von anderen studierenden Eltern. Christian Keller ist Vater von zwei Kindern und im Beirat des Vereins „Studentische Eltern“ in Leipzig. Der Interessenverband versucht den Weg zu ebnen für alle Eltern an Unis. Seit 2002 engagiert sich die Initiative für die Vereinbarkeit von Studium und Kind, hat dafür bereits den Familienfreundlichkeitspreis der Stadt eingeheimst. Zurzeit wird am Aufbau eines Tagespflegerings gearbeitet und genetzwerkt. „Die Betreuungssituation ist einfach immer wieder der Knackpunkt“, erzählt Christian Keller. „Im bundesweiten Vergleich hat Leipzig zwar eine gute Krippendichte, aber die hilft den Eltern, die trotzdem keinen Platz finden, nicht weiter.“

Auch in Leipzig werden Eltern mittlerweile mit der Aussicht auf einen Platz in zwei bis drei Jahren vertröstet. Christian Keller selbst hat Glück, Sohn Rasmus, 3, hat einen Kita-Platz, David, 7, geht bereits in die Schule. Rund 200 Kindereinrichtungen stehen in Leipzig zur Auswahl. Das Studentenwerk betreibt einen Kindergarten, eine Kindertagesstätte und den Kinderladen. In letzteren können schon Kinder ab acht Wochen gebracht werden. Außerdem halten alle Mensen des Studentenwerks unentgeltlich eine warme Mahlzeit pro Tag und Kind bereit.

Der Leipziger Wohnungsmarkt ist entspannt, die Mieten erschwinglich. Auch kulturell wird für Familien viel geboten. Es gibt Parks, Spielplätze, Kindertheater, Kreativ-Angebote und eine engagierte ­Eltern-Community wie den Verein der studentischen Eltern.

Annika Gustmann ist ebenfalls Mitglied. Sohn Tim war alles andere als geplant. „Ich war erstmal geschockt, habe mich gefragt, ob das gut geht, Kind und Studium. Aber irgendwie wusste ich auch sofort, dass es funktionieren muss. Auf eines von beiden zu verzichten, kam nicht in Frage.“

Die 25-Jährige studiert Mathematik und Theologie auf Lehramt, hat bei Problemen die ganze Palette von „Das müssen Sie selber hinkriegen“ bis zu „Keine Sorge, das regeln wir schon“ kennen gelernt. „Es kommt immer drauf an, an wen man gerät. Aber dieses Klima mit dem Tenor „Selber schuld, wenn Sie Ihr Pensum nicht schaffen!“ ist unfair. So etwas kann und darf sich eine Gesellschaft nicht leisten“, findet sie.

Und auch keine Hochschule. Verschärft hat sich die Situation vor allem nach dem Bologna-Prozess, der eine Verschulung des Unterrichts, sprich eine Verdichtung, nach sich gezogen hat. Wenn Eltern etwas brauchen, dann Flexibilität. Die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge sind zeitlich festgezurrter, führen zu einer deutlichen Mehrbelastung.

Jede Hochschule will natürlich dennoch, schon aus Werbezwecken, als familienfreundlich gelten, aber Lippenbekenntnisse helfen nicht weiter. Ein Gütesiegel schon eher. Zum Beispiel das Audit „Familiengerechte Hochschule“ der berufundfamilie GmbH. Das Audit hat sich zum Qualitätssiegel familienbewusster Studienbedingungen und Personal­politik entwickelt. Mit dem Gütesiegel bekennen sich Hochschulen nach innen und außen zur Schaffung familiengerechter Studien- und Arbeitsbedingungen, schreiben Ziele fest wie: Ausbau von campusnahen Kitas, Chancengleichheit, Sensibilisierung von Führungskräften, Modell-Entwicklung zur flexiblen Gestaltung von Arbeitszeiten. Und vor allem macht das Prädikat eine Haltung sichtbar.

De facto kann sich jede Hochschule um das Gütesiegel bewerben, doch steckt dahinter sehr viel erforderliche Eigeninitiative, die den meisten Hochschulen zu teuer und zu aufwändig ist. Von den rund 300 in Deutschland existierenden staatlichen Hochschulen haben sich 120 dem Audit „familiengerechte Hochschule“ unterzogen.

Eine davon ist die Leipziger Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK Leipzig). Und sie kann das Prädikat mit Stolz tragen. Sachsen hat keinen Cent dazu gezahlt. Die Hochschule stemmt alles in Eigenleistung, baut Wickeltische, schafft Rückzugsräume zum Stillen, Betreuungsangebote und gibt sich flexibel für ihre studierenden Eltern. Stundenpläne werden wo möglich familienfreundlich erstellt, die Prüfungsordnung enthält einen Passus, nach dem Prüfungstermine automatisch verschoben werden, wenn das Kind krank ist. Neuester Plan ist eine naturwissenschaftlich ausgerichtete Kita, die den akademischen Nachwuchs schon mal auf den ­Geschmack bringen soll. Zusammen mit der Kindervereinigung Leipzig e.V. wird am Konzept gearbeitet, beraten, Computer und Labor-Utensilien zusammengestellt. „Der Schlüssel bei uns an der HTWK heißt ­eigentlich individuelle Lösungen für indi­viduelle Probleme finden. Patentlösungen gibt es meistens nicht“, erzählt Gesine ­Bächer-Brösdorf, die Sozialberaterin der Hochschule.

Damit ist Leipzig auf einem guten Weg. Vielleicht auch deshalb, weil die Leipziger Universität, die HTWK und die Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) von Rektorinnen geleitet werden. Alle drei sind sensibilisiert für das Thema „Studieren mit Kind“. Beate Schücking, Rektorin der Uni, ist Medizinerin. In ihrer Generation waren 80 Prozent der Medizin-Studierenden Männer. Inzwischen hat sich das fast umgedreht. Während es zu ihrer Studienzeit nahezu unmöglich war, Kind und Karriere unter einen Hut zu bringen, ist Familie heute für angehende Medizinerinnen ein selbstverständlicher Anspruch, siehe Familie Walther. Die drei Rektorinnen setzen sich allesamt für mehr Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein. Doch je größer die Einrichtung, desto länger dauert das.

In den letzten zwei bis drei Jahren haben sämtliche deutsche Hochschulen Familienbewusstsein als wichtigen Wettbewerbsfaktor erkannt. Zudem geht den wissenschaftlichen Fachgesellschaften der Nachwuchs aus. Eine familienfreundliche Hochschule bedeutet eben auch, Geschlechtergerechtigkeit zu etablieren und traditionelle Rollenmuster zu durchbrechen. Und einen gewissen psychologischen Vorteil bringt das Studieren mit Kind mit sich: Es hilft ungemein, Dinge ins rechte Licht zu rücken. Eltern sitzen dann oft viel cooler als ihre KommilitonInnen im Hörsaal und lassen sich von endlosen ­Literaturlisten, Referatsanforderungen und Prüfungs-Drohgebärden nicht wirklich einschüchtern. Auch ist ihnen Prüfungsangst meistens fremd – gerade in Klausuren ist es irgendwie so schön ruhig.

NUMERA CLAUDIA
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