Alice Schwarzer schreibt

Ein Stück für Pina Bausch

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Ich sitze in der Reihe 6, links außen, und mein Herz ist schwer. Hier habe ich ab Mitte der 70er Jahre viele ihrer Stücke gesehen. Und hier war ich, die gebürtige Wuppertalerin, mit 15 zum ersten Mal in einer Oper, in Mozarts „Zauberflöte“. Der Ort, an dem Pina Bausch 36 Jahre lang geprobt hat, die Lichtburg, ist nur einen Steinwurf entfernt, ihr Geburtsort Solingen zehn Autominuten.

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Nach den Rednern tritt die Truppe auf. Die Alten, wie Mechthild Großmann, Lutz Förster und Dominique Mercy (der das ergreifende Finale tanzt); und die Jungen, die erst seit ein paar Jahren dabei sind. Ihr Auftritt ist heiterer, lebensfroher, in die Zukunft weisend. Die Alten, die seit Jahrzehnten mit Pina Bausch die Arbeit und das Leben geteilt haben, sind melancholisch. Sie nehmen Abschied.

Nach der Aufführung treffe ich die Truppe noch hinter der Bühne. Die Alten kenne ich seit über 20 Jahren auch persönlich. Damals, 1989, habe ich zusammen mit der Fotografin Bettina Flitner in der Lichtburg einer Probe beigewohnt. Und später war ich auch bei Pinas rituellem, triumphalen Auftritt in Paris dabei, nach dem wir bis in die Nacht in der Coupole noch Weinchen getrunken haben. Hinter der Bühne umarmen wir uns, Mechthild und ich. „Schöne Scheiße!“

Ein paar Wochen später sitze ich in Großmanns Gastwohnung in Bochum. Am selben Abend ist die Schauspielerin im Fernsehen als Staatsanwältin im Münsteraner „Tatort“ zu sehen. Und am Bochumer Schauspielhaus probt sie gerade die desaströse Mutter in „Eine Familie“. Am Telefon fragt Mechthild: „Trinkst du Roten oder Weißen?“ Egal. Aber kein Zigarettchen.

Während wir sprechen, wird es dunkel draußen, und es füllt sich ihr Aschenbecher und leert sich unsere Flasche. Mechthild Großmann erinnert sich.

Ich glaube, mit niemandem habe ich so viel Zeit in meinem Leben verbracht wie mit Pina. 34 Jahre lang kannten wir uns, und davon war ich jahrelang immer zwei Schritte hinter ihr. Mein damaliger Freund hat immer gesagt: Lieber zehn Lover als eine Pina Bausch. Ja, das war schon eine Liebesbeziehung, von beiden Seiten. Ich habe mich unendlich geliebt gefühlt. Und ich habe sie einfach bewundert.

Zum ersten Mal begegnet bin ich ihr 1975. Damals machte Pina einen Brecht/Weill-Abend und suchte eine Sängerin. Sie hatte mich im Wuppertaler Schauspielhaus gesehen, wo ich Gast war, in „Kabale und Liebe“. Und da hat sie gesagt: „Ich will diese da!“

Ich hatte den Namen Pina Bausch noch nie gehört. Und ich singe ja auch nur, wenn ich muss. Tja … Ich bin aber hingegangen. Denn ich hatte die Pina schon mal in der Kantine gesehen und hatte überlegt: Was ist das denn? Schauspielerin ist die nicht. Regisseurin auch nicht, die gab es ja damals kaum. Dramaturgin, dachte ich, das könnte hinhauen. (lacht) Auf Ballett bin ich überhaupt nicht gekommen.

Ich bin also ins Opernhaus. Und da standen sie und Rolf Borzik, ihr damaliger Lebensgefährte und Bühnenbildner, an der Pforte, um mich abzuholen. Ich hatte solche Leute wie die beiden noch nie gesehen. Wir sind in einen Proberaum gegangen mit einem richtigen Repetitor, der immer „hm, hm“ machte. Es war alles so exotisch für mich. Ich sollte ein Brechtlied singen, Surabaya Johnny. Ich habe dann so irgendwie rumgesungen, fand es furchtbar und wollte schon wieder gehen. Da sagte Pina: „Ja … Wollen wir es versuchen?“

Kurz vorher hatte Peymann mich in Stuttgart gefeuert mit den Worten: „Du bist keine Schauspielerin!“ Das war schon ein Tief. Pina aber hatte von Anfang an Spaß an mir. Das Tolle an ihr waren die Augen. Sie konnte dich angucken mit einer Geduld, wie nur Japaner das können. Stundenlang, ohne sich zu bewegen. Unter diesem Blick wurde ich immer ausgelassener. Ich machte immer merkwürdigere Dinge. Und sie sagte zu allem: „Hm, hm…“.

Gleich am ersten Abend hat sie mich gefragt, wo ich wohne. Und als sie hörte, dass ich nur ein kleines Zimmerchen hatte, hat sie gesagt: „Du kannst auch bei mir und Rolf wohnen.“ Ich war sehr überrascht. Ich habe es dann nicht gleich getan, aber später mal bei den beiden gewohnt. Damals war sie schon in der Wohnung in Unterbarmen, wo sie bis zum Schluss gelebt hat. Sie war in diesen Dingen ja immer sehr bescheiden. Ich habe gehört, das ist jetzt schon alles aufgelöst … (schluckt).

Ihren 36. Geburtstag haben wir zusammen gefeiert. Sie war nur acht Jahre älter als ich, aber immer eine unglaubliche Autorität für mich. (lacht) Dennoch war das damals etwas ganz anderes für mich, als heute für ihre neuen Tänzer. Die haben sie kennen gelernt, als sie welt-, welt-, weltberühmt war und 30 oder 40 Jahre älter.

Nach der Probe hat sie mich der Kompanie vorgestellt. Alles Tänzer. Ich war zwar im Kinderballett gewesen – und auf der Nonnenschule – aber das war schon ziemlich exotisch, was ich da sah: der Schweiß, der Geruch … Das ist ja eine ganz andere Welt als das Schauspiel. Und die dachten wohl auch: Was soll das, eine Schauspielerin? Die kann doch gar nicht tanzen. Pina aber fand mich „sehr begabt“, was Bewegungen anging. Doch ich habe natürlich höchstens die Gruppenbewegungen mitgemacht, nur in „Blaubart“ hatte ich ein Solo.

Es gab allerdings ein Schrittchen, das ich immer vormachen musste. Pina fand: „Das sieht bei den anderen so tänzerisch aus.“ Und das durfte nicht sein. Bloß nicht singen wie ein Sänger, bloß nicht spielen wie ein Schauspieler, bloß nicht tanzen wie ein Tänzer. Alles musste neu erfunden werden.

Oft hat sie zusätzliche Soloproben mit mir gemacht. Ihre Arbeitsmethode – dass sie sich improvisierte Szenen von den Tänzern und Schauspielern anbieten ließ – schien mir nie ungewöhnlich. Das ist für mich jetzt bei meinen Proben am Schauspielhaus Bochum ganz ähnlich. Ich liege nachts wach und biete am nächsten Tag bei den Proben an, was ich mir ausgedacht habe. Das habe ich bei Pina nicht anders gemacht. Nur: Bei ihr gab es weder Text noch Rahmenhandlung. Oft hatte ich mir schon vorher etwas überlegt – und dann einfach irgendein Stichwort von ihr zum Anlass genommen, das vorzutragen. Wenn sie „Vollmond“ sagte oder „Sehnsucht“ oder „Apfelbaum“ – die Stichworte kamen jedes Mal vor.

Soloproben mit Pina machen – meistens am Sonntag, um nicht die regulären Probezeiten dafür zu verschwenden (lacht) – das hieß: Sie sitzt da und guckt. Und dann kommt Sowas (Großmann verzieht den Mund zu einem angedeuteten Lächeln) oder Sowas (Großmann zieht die Mundwinkel kaum merklich runter).

Klar, ich habe vermutlich geplappert, wie immer. Aber sie hat nur gesagt: „Nee, das fühlt sich nicht richtig an.“ Oder: „Naja, das fühlt sich schon richtiger an.“ Das waren ihre Regieanweisungen. Diskutiert haben wir nicht. Und wenn man was gefunden hatte, dann gab es so ein Lächeln von ihr. Wobei – sie hatte viele verschiedene Lächeln. Da gab es auch so ein verschwörerisches Lächeln, das hieß: Ich habe verstanden, was du meinst.

Die Szene „Ein Weinchen noch und ein Zigarettchen – aber noch nicht nach Hause“ zum Beispiel, die haben wir 1981 für das Stück „Walzer“ erarbeitet. Da war Rolf schon tot, und sie hatte schon ihr Kind mit ihrem neuen Gefährten Roland Kay, ihren Sohn Salomon. Irgendwann habe ich damals, ich weiß gar nicht mehr auf welche Frage hin, das mit dem Zigarettchen gesagt, aber nur den Refrain.

In Wahrheit war das ein O-Ton von Pina aus der Zeit, als wir 1978 in Bochum das Macbeth-Projekt gemacht haben. Da haben wir hier jede Nacht gesessen und geredet. Das ging immer bis morgens. Und um 10 Uhr trat man wieder an zur Probe im Theater. Und wenn ich sagte: „Pina, lass uns jetzt nach Hause gehen“, dann sagte sie immer: „Nee, nee. Noch ein Weinchen und ein Zigarettchen – aber noch nicht nach Hause.“

Irgendwann, drei Jahre später, habe ich es dann vorgetragen (nuschelt): „Ein Weinchen noch und ein Zigarettchen – aber noch nicht nach Hause“. Da sagte Pina: „Das ist aber schön!“ Sie hat es zunächst nicht wiedererkannt, aber gleich gemocht. Und dann wurde das in X Varianten durchgespielt. Eine ihrer Fragen hieß „Am Anfang“. Und darauf habe ich „Die Erschaffung der Welt“, also die Schöpfungsgeschichte angeboten. Die hatte ich auch vorher nachts geschrieben. Ich habe in der Zeit fast jede Nacht gearbeitet. Alle Texte, die ich in Pinas Stücken spreche, habe ich mir selber ausgedacht oder zusammengesucht. Ich stehe nur nicht im Programm.

Also, die Schöpfungsgeschichte fand sie auch „schön“. Sie schrieb sich ja immer auf Zettelchen, was sie „richtig“ fand. 80 bis 90 Prozent von allem, was wir ihr anboten, flog raus. Das ist nicht übertrieben. Es blieb nur, was sie „schön“ fand.

Das war eine Riesensammlung von Material, darunter sechs „Ruhestellungen“. Eine der Ruhestellungen war, wie ich auf dem Boden liege und die Beine die Wand hochstrecke. Was in Wahrheit so was von anstrengend ist. (lacht) Bei einer unserer Einzelproben, wie immer sonntags in der Lichtburg, sagte sie plötzlich: „Ginge ‚Der Anfang‘ nicht mit dem ‚Gläschen Wein‘ zusammen?“ Und dann wurde das ausprobiert, immer wieder ausprobiert. Irgendwann kam noch die Ruhestellung dazu. Ja, so war das.

Diese Szene wird auf der Bühne von Vers zu Vers verzweifelter. Dazu muss man wissen, dass Pina wahnsinnig ungern nach Hause ging oder überhaupt in irgendeine Privatwohnung. Sie saß immer in irgendwelchen Gaststätten. Der Tisch vorne rechts im Barmer Bahnhof war quasi ihr Büro. Und auch zu mir ist sie in all den 15 Jahren, in denen ich fünf Fußminuten entfernt von ihr gewohnt habe, höchstens drei-, viermal gekommen.

Das war anders, wenn es offizielle Einladungen waren. Wenn die Kompanie zum Beispiel in Paris, wo wir ja jedes Jahr waren, in so einem halben Palast von irgendeinem Krösus eingeladen war. Das war okay, da ging sie hin. Auch wenn sie mir zuflüsterte: „Was machen wir hier eigentlich, Mechthild?!“

Ab 1978 war ich fest in Wuppertal. Für so eine Schauspiel-Stelle in ihrem Tanzensemble hat sie damals noch kämpfen müssen, das war ja nicht vorgesehen. Verdient haben wir alle nicht viel. Ich 2.600 Mark brutto, da bleibt netto nix über. Und bei Pina arbeitet man so viel, dass man keinen Funk- oder Filmtag dazwischen quetschen, also nichts dazu verdienen kann. Aber das war für mich kein Problem. Auch Pina hat damals ja bitter wenig verdient.

Das waren Zeiten. Damals begannen wir unsere Aufführungen in vollen Häusern – und beendeten sie in halb leeren. Das Abonnenten-Publikum in der Wuppertaler Oper knallte die Türen. Und die Aufführung von „Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloss, die anderen folgen“ mussten wir 1978 in Bochum abbrechen. Die Leute waren aufgestanden und schmissen Gegenstände auf die Bühne.

Jo Endicott hat dabei mal die Nerven verloren und ins Publikum geschrien: „Go home, look television!“ und die Bühne verlassen. Und wir lagen alle da und dachten: „Scheiße, wie machen wir ohne Jos Stichworte weiter?“ Da hörten wir Pina hinter der Bühne – und Jo wurde wieder rausgeschickt. Es ging ja um die Vorstellung.

Pina hat auf solche Kritik einfach nicht reagiert. Sie war nie erfolgsorientiert. Sie hat einfach immer weitergemacht. Sie hat auch gar nicht verstanden, warum die Leute so reagieren. Sie wollte ja keinen Skandal, wollte nicht schockieren wie manche andere Regisseure. Sie war bis zum Schluss eher besorgt, nur ja niemanden zu verletzen. Zum Beispiel bei unserer letzten gemeinsamen Produktion 2003, das war eine Japan-Co-Produktion, da hat sie zu mir gesagt: „Mechthild, rede nur nicht wieder so viel über kleine Männer.“

Als damals der so genannte Erfolg kam, glaubte sie nicht etwa, dass ihre Produktionen nun besser seien. Über Kritiken hat sie nie geredet, auch wenn sie sie vermutlich im stillen Kämmerlein doch heimlich gelesen hat. Sie hatte überhaupt nicht das, was ich von jedem anderen Regisseur kenne: Dieses Liebäugeln mit dem Erfolg.

Ihre Eltern hatten in ihrem ganzen Leben kein einziges Stück von ihr gesehen. Aber sie haben sie sehr geliebt. Ich war Weihnachten 1979 mal mit Rolf bei ihren Eltern. Mein Vater hatte ja auch eine Kneipe, ganz wie Pinas Vater. In Bremen, am Bahnhof. Manchmal hab ich da bedient. Da verkehrten nur Möbelpacker und Nutten. Das hat uns vielleicht verbunden. Ihre Eltern lebten inzwischen nicht mehr in Solingen, sondern hatten irgendwo in einem Dorf im Taunus ein Häuschen gebaut. Ihr Vater war riesig, die Mutter winzig. Zu der Zeit hatte Pina auch noch Geschwister. Sie hat später alle beerdigt. Das war schlimm für sie.

Ich sehe sie noch bei ihrem Papa auf dem Schoß sitzen. Und da der so riesig war, sah sie aus wie ein kleines Mädchen. Sie sagte zu ihm: „Weißt du noch, was du immer gesagt hast? Du hättest mich bei den Affen im Zoo abgeholt.“ Und der Vater antwortete: „Mein Äffchen!“ Währenddessen rannte die Mutter aufgeregt hin und her und kochte. Pina konnte ja kaum Wasser kochen …

Ihr Ziehvater war Jooss, der berühmte Tanzlehrer an der Essener Folkwangschule. Da ist sie ja schon im Alter von 14 Jahren hingekommen, nachdem Leute vom Theater sie in der Kneipe ihrer Eltern entdeckt hatten. „Das Kind ist so gelenkig, es sollte zum Ballett gehen.“ Pina hat mal zu mir gesagt: „Jooss hat mir beigebracht, mit Messer und Gabel zu essen.“ Im weitesten Sinne. Man hat ja immer gesagt, Pina Bausch hat das Tanztheater erfunden. Das ist natürlich Quatsch. Sie hat es unendlich weiter entwickelt, aber sie stand in einer Tradition. In der der Folkwangschule und des Modern Dance.

Pina hatte Respekt vor Männern, mehr als ich. Die Frauen kannte sie. Darum hatten wir Frauen auch das Glück, viel differenziertere Rollen bei ihr zu haben und bis auf wenige Stücke auch die Hauptrollen. Sie guckte Frauen anders an als Männer. Sie liebte jede Art von Sinnlichkeit bei Frauen, auch wenn sie Vamps waren. Der Machtkampf zwischen Männern und Frauen war ja oft Thema bei ihr. Und sie mochte es, wenn Frauen eine gewisse Bedrohung ausstrahlten. Es gibt einen Satz, den sie öfter zu mir gesagt hat in den Proben: „Mechthild, pass auf, wie du da lächelst. Das soll gefährlich aussehen! Werd mir nicht zu nett.“

Der Verlust von Rolf Borzik war furchtbar für sie. Er ist ja 1980 gestorben. Die beiden waren ein sehr gleiches Paar, in jeder Beziehung. Er hat nicht nur diese großartigen Bühnenbilder gemacht, er hat ihr auch alles, was sie nicht gerne machte, abgenommen. Gespräche, die ihr unangenehm waren, die führte er. Er hat ihr einfach den Rücken frei gehalten.

Und er hat ihre Ästhetik geschult. Sicher, die Bewegungen, der Tanz, das kam von ihr. Aber wie etwas aussieht, ein Raum, die Kleidung, das kam alles von ihm. Die beiden waren einfach symbiotisch. Als er starb, mit 35, war sie fast 40. Er blieb bis an ihr Lebensende präsent.

Pina konnte so wahnsinnig viel. Und sie hat auch ganz viel in ihrem Leben zurückbekommen. Sie war unendlich geschickt. Und sie hatte die Kraft – und auch die Härte – jahrelang eine Kompanie zu führen. Und: Sie war ein sehr, sehr zärtlicher Mensch, auch körperlich, und auch mit uns. Aber jetzt, nachdem sie weggegangen ist, habe ich manchmal nachts gedacht: Mein Gott, was hat die Frau alles nicht gehabt. Sie konnte nicht leben wie andere. Pina ausgeruht an einem See sitzend … das ist ein Witz. Einmal kam sie im Urlaub mit Rolf bei mir vorbei, da wohnte ich noch in Bremen. Nach zwei Wochen war ich fix und fertig. Wir haben am Tag acht Zirkusse abgeklappert, und dann abends überlegt, was wir noch sehen könnten … Das war für Pina Urlaub.

Der schlimmste Tag im Jahr war für Pina der 24. Dezember. Da konnte sie nun wirklich niemanden mehr zur Probe bestellen. Obwohl: Auch das hat sie probiert … (lacht)

Naja, innerhalb der Truppe war es natürlich nicht ohne Spannungen. Wir suchen uns ja nicht selber aus. Wer engagiert wird, bestimmten nicht die einzelnen Tänzer, sondern bestimmte Pina. Also mussten wir miteinander klarkommen. Jeder hatte mit Pina eine Herzblutgeschichte – und Pina hat sehr, sehr viel Rücksicht genommen. Auch auf persönliche Belange der Einzelnen. In einer Art und Weise, wie sie am Theater sonst nicht zu finden ist.

Dennoch gab es immer Einzelne, die meinten, mit kritischen Interviews auf sich aufmerksam machen zu müssen. Ich fand das traurig, weil das meistens ausgerechnet diejenigen waren, die unglaublich viel von Pina profitiert hatten.

Und dann gab es da das Problem mit den Paaren. Früher war das nicht so stark, aber später … Klar, wenn man den ganzen Tag arbeitet, womöglich als Ausländer nach Wuppertal verschlagen wird – dann findet man die Beziehung nur in der Kompanie. Und irgendwann war es so eine Pärchen-Gesellschaft geworden. Pina mochte das überhaupt nicht. Denn sagst du einem was Kritisches, ist der andere gleich mit beleidigt. Ich habe mich immer da rausgehalten. Ich war, glaube ich, eine der wenigen, die sich nie mit einem Mitglied der Kompanie verlustiert hat. (lacht)

Zwischen Pina und mir gab es sicher auch Zerwürfnisse. Eine 34-jährige Ehe geht nicht ohne ab. Aber es gab nie den Punkt, wo ich auch nur gedacht hätte: Ich will hier weg. Oder Pina gesagt hätte: Es reicht, Mechthild. Auch, wenn ich in den letzten Jahren viel anderes gemacht habe, Pina hatte immer Vorrang. Ich habe weiterhin sowohl neue Stücke mitgemacht, als auch jede Wiederaufnahme. Ein Stück von ihr war mir immer wichtiger als alles andere. Dennoch hat es mich verletzt, als sie nach einer Vorstellung in Rom zu mir gesagt hat: „Weißt du, Mechthild, warum ich dich auch liebe? Ich brauche auf dich nicht so Rücksicht zu nehmen.“ Aber … es hat mir auch geschmeichelt.

Ich wollte dann mit dem Kind, das ich 1991 noch so spät und überraschend gekriegt habe, nicht ständig arbeiten. Als ich ging, hat sie schwer geschluckt. Aber darum hat sich unsere Vertrautheit, unsere Intimität nicht geändert. Wenn ich nach Monaten wieder in die Lichtburg kam, war alles wie immer.

Übrigens: Pina hatte, wie wir wissen, am Anfang ja immer keinen Titel für ihre neuen Stücke, es hieß immer nur: „Ein Stück von Pina Bausch“. Das war kein Zufall. Und es hat mich immer gewundert, dass niemand verstanden hat, was das bedeutete: Jedes Stück war eben immer ein Stück von ihr, ein Stück von Pina Bausch. (Sie greift mit der linken Hand an ihren rechten Oberarm, als reiße sie sich ein Stück Fleisch aus dem eigenen Körper.)

Die Pina wollte nie Kinder. Ich erinnere mich, wie wir als junge Frauen darüber geredet haben. Ich sagte: „Doch, ich hätte gerne Kinder“. Und Pina: „Also wirklich … Kinder … also nein. Wirklich nicht!“ Ein Jahr nach dem Tod von Rolf war sie dann wahnsinnig verliebt – und wurde schwanger. Vermutlich hatte die Erfahrung mit dem Tod etwas mit ihrer neuen Sehnsucht zu tun, Leben zu schenken.

Was nicht so bekannt ist, aber was man eigentlich ja auch an ihren Stücken sieht: Pina hatte sehr viel Humor. Wenn wir nachts noch loszogen, nach der Vorstellung, zum Beispiel in New York: Was hatte sie für einen Spaß an Skurrilitäten! Sie konnte lachen ohne Ende. Ich habe Pina quasi auf den Tischen tanzen sehen. Pina liebte das Leben!

Oder abends nach der Vorstellung in Wuppertal. Damals, als die Entourage noch nicht so groß war. An einem dieser Abende blieben mal wieder nur Pina und ich übrig. Nichts war mehr offen. Schließlich landeten wir in Barmen nachts um halb drei in so einer prolligen Bar: Am Tresen saßen noch zwei, drei Typen, offenes Hemd, Goldkettchen. Pina war wie immer ungeschminkt, ich hatte inzwischen auch nicht mehr viel drauf. Aber wir waren gut drauf und setzten uns hin. Die Typen waren total verunsichert und fingen an, Vorstellungen zu geben: Die Macker schoben sich der Reihe nach an unserem Tisch vorbei. Und dann fragten sie: „Ihr seid doch Emanzen!“ Da habe ich sehr ernsthaft geantwortet: „Klar, wir sind vom Frauenclub Wuppertal Ost. Ich bin die Vorsitzende – und das ist die Kassiererin.“ Das wurde auch geglaubt. Wir haben uns kaputtgelacht.

Und als einer von denen vom Klo kam, grölte er quer durch den Raum: „Eh, gibt’s hier eigentlich nichts Vernünftiges zum Löten?“ Pina schrieb das gleich auf den Bierdeckel. Und es kam natürlich im nächsten Stück vor. Wir probten gerade die „Keuschheitslegende“.

Zum letzten Mal bin ich im Mai in diesem Brecht/Weill-Abend, unserem ersten Stück, in Wuppertal aufgetreten. Da bin ich furchtbar erschrocken. Sie war nur noch die Hälfte. Klein und ganz, ganz dünn. Und sie war zu schwach, um bei jeder Vorstellung zum Applaus noch rauszukommen. Einmal blieb sie hinter der Bühne. Trotzdem war sie am nächsten Tag natürlich um neun Uhr im Büro und danach auf der Probe.

Wir haben alle gesehen, dass sie erschöpft war. Zu Tode erschöpft. Aber keiner hat es gesagt. Am dritten Abend, das war der 2. Mai, war sie nach der Vorstellung noch kurz in meiner Garderobe, sie hat immer bei mir ihre Tasche und ihren Mantel hingelegt. Wir waren allein. Und da habe ich zu ihr gesagt: „Mäuschen, was machst du denn …“ (stockt, weint). Da hat sie hochgeguckt und hat gesagt: „Das ist keine gute Zeit, Mechthildchen.“

Als ich nach Hamburg zurück kam, habe ich geheult und zu meinem Mann und meiner Tochter gesagt: „Vielleicht sehe ich Pina nie wieder.“ Doch trotzdem war es für mich unvorstellbar, dass sie stirbt. Pina ist für mich unsterblich.

Am 30. Juni stirbt Pina Bausch 69-jährig in einem Krankenhaus in Wuppertal, fünf Tage nach einer Krebsdiagnose. Niemand von ihrer Kompanie wird informiert. Ihr Sohn Salomon ist bei ihr.

Weiterlesen: Alice Schwarzer porträtiert Pina Bausch (7/87)

 

Podcast von Mechthild Großmann hören:

"Ich hatte den Namen Pina Bausch noch nie gehört."

"Die Zuschauer warfen Gegenstände auf die Bühne!"

"Wir sind vom Frauenclub Wuppertal. Das ist die Vorsitzende und ich bin die Kassiererin."

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