Die nackte Wahrheit

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He Chengyao verließ eines schönen Tages ihre Familie und macht seither Kunst. Kunst, die die Chinesen aufregt. Kunst, die sie peinlich finden. Kunst, die viele Geschichten erzählt.
 

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Alles war in bester Ordnung. Zumindest schien es so. He Chengyao hatte einen Mann, einen Sohn und ein Häuschen in der westchinesischen Stadt Chongqing. Ihr Mann ging zur Arbeit, sie war Hausfrau, wusch und bügelte, putzte und kochte. In ihrer Freizeit malte sie, naive idyllische Szenen in Öl, helle friedliche Bilder. Und zweifelte an ihrem Dasein: „Ich fand mein Leben so falsch. Mir wurde klar: Das ist gar nicht mein Leben. Ich tue nur, was von mir verlangt wird.“
Als ihr Sohn neun Jahre alt war, verließ sie ihre Familie und zog nach Peking. Sie wollte selbstständig sein, von ihrer Kunst leben. Einer Art von Kunst, die in China sehr umstritten ist – besonders dann, wenn man Frau ist und mit dem Körper arbeitet. He Chengyao ist Performancekünstlerin.
Viele ihrer Arbeiten sind eng mit ihrer eigenen Familiengeschichte verwoben. Der Geschichte ihrer Großmutter, die mit 30 Jahren ihren Mann verlor und den Rest ihres Lebens als keusche Witwe verbrachte – dem Ideal klassischer Moralvorstellungen entsprechend. Der Geschichte ihrer Mutter, die in den 60er Jahren He Chengyao im Bauch trug – unehelich und damit illegal. Sie hatte die Wahl: Abtreibung oder Entlassung – und entschied sich für ihr Kind.
He Chengyaos Mutter wurde zur „moralisch degenerierten“ Person erklärt, beschimpft und verhöhnt. Sie ertrug den Druck nicht und wurde verrückt: „Hätte ich nicht eine Mutter gehabt, die Tag und Nacht splitternackt durch die Straßen meines Heimatortes rannte, und die auf diese Weise gegen die Moral, die Disziplin und die Brutalität des Patriarchats protestierte, und die ihre Verrücktheit benutzte, um frei zu sein, dann wäre ich vielleicht nicht Künstlerin geworden.“
He Chengyao kämpft gegen die Verhältnisse und Zuweisungen, die Frauen in China seit Jahrtausenden ein selbstbestimmtes Leben verwehren. Mit meiner Arbeit will ich männliche Konstruktionen von Weiblichkeit in Frage stellen – und zwar durch den weiblichen nackten Körper.“
He Chengyao unterteilt ihre Arbeit in zwei Themenkomplexe: „Ein Teil meiner Arbeit hat mit der Verletzung meines Körpers zu tun und erzählt die Geschichte von meiner Familie und mir. Darin arbeite ich all das auf, was uns drei Frauen geschehen ist. In dem anderen Teil meiner Arbeit geht es um den menschlichen Geist. Die Frage, wie wir mit Problemen umgehen. Und um die Reinheit des Geistes.“
He Chengyaos Kunst stößt in China auf scharfe Kritik und das sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Nach einer Performance in Shanghai in diesem Jahr schrieb ein Kritiker, dass eine Frau, deren Körper so aussehe wie der von He Chengyao, sich doch bitte nicht nackt in der Öffentlichkeit zeigen solle. Kritik unter der Gürtellinie; Kritik, die dennoch trifft.
Unterstützung bekommt He Chengyao vor allem aus dem Ausland, so trat sie im letzten Jahr auf dem Performancefestival in Montreal auf. Das wiederum ist typisch für die moderne Kunstszene in China: So gut wie alle im Land kontroversen modernen KünstlerInnen verkaufen ihre Arbeit ins Ausland, in China selbst besteht für deren Arbeiten weder ein Markt noch Interesse.
Angela Köckritz, EMMA 4/2005
Dieser Artikel gehört zum

Dossier: China

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