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Colette: Lesen und Lernen!

Colette in dem Theaterstück "Rêve d'Égyptienne", 1907. - Foto: F. J. Gould/Granata Images/IMAGO
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Ein wildes Naturkind aus der burgundischen Provinz heiratet mit knapp 20 Jahren einen skrupellosen, deutlich älteren Pariser Lebemann, der sie, wie schon seine Ghostwriter, in seiner Schreibwerkstatt schamlos ausbeutet und ihre ungemein farbenfrohen Kindheits- und Jugenderinnerungen, die Geschichten von „Claudine“, unter seinem Markennamen „Willy“ so lange höchst erfolgreich veröffentlicht, bis Claudine alias Sidonie-Gabrielle ihn im 4. Band verlässt und ein selbstbestimmtes Leben als freie Künstlerin beginnt, wenn auch ohne einen Sou. 

Um die Rechte an ihren Büchern, um Anerkennung, Geld und ihren Namen wird sie lange kämpfen müssen. Zunächst aber weiht sie der stets fremdgehende Gatte in die erotischen und sonstigen Finessen der Pariser Belle-Époque-Gesellschaft ein. Zeitweise teilt man sich die ­gleiche Geliebte, zeitweise schließt „Willy“, alias Henry Gauthiers-Villars, immer in Geldnot, seine junge Frau zum Schreiben ein, zeitweise pro­duziert er sich mit ihr und anderen in offener Ménage-à-trois in den Pariser Salons.

Colette wird die erste autofiktionale Autorin, sie vollzieht eine Art literarischen Machtwechsel: Sie stößt den männlichen Helden, dem jahrhundertelang gehuldigt worden war, vom Thron, ersetzt den Helden durch die Heldin, die von nun an das Spiel bestimmt.

Mit den „Claudine“-Romanen erhalten erstmals in der Literatur junge Mädchen und junge Frauen eine eigene Stimme und erkennen sich wieder. Es entsteht etwas ganz Neues: eine Mode, ein Kult, Übertragungen für die Bühne, wo Colette sich selber spielt, und schließlich für den Film. Es sind nicht nur die geschickten Vermarktungsstrategien, die zu diesem Erfolg beitragen – der Col Claudine, der weiße Claudine-Kragen, ist bis heute ein Erkennungszeichen braver Mädchenbürgerlichkeit –, es setzt eine unglaubliche Nachahmungswelle ein, etwas, was es in dieser Ausschließlichkeit zuerst bei Goethes „Werther“ und seiner Wirkung auf eine ganze Generation gegeben hat. Eine gewaltige Vermarktungs­ma­schi­nerie – Parfum, Seife, Kosmetikprodukte, Hüte, Plakate, Zigarettenreklame, öffentliche Inszenierungen, alles wird eingesetzt, um das Produkt bekannt und zu einem Label zu machen, ein perfektes Medienmarketing avant la lettre. 

Umsatzfördernd ist auch die Tatsache, dass die meisten ihrer Romane zunächst als Fortsetzungsgeschichten in Zeitschriften erscheinen, was die Spannung beim Publikum steigert. Zum ersten Mal ist ausschließlich die weibliche Gefühlswelt Thema der Literatur, die Männer sind eher schwach, sanfte Kind-Männer, die Frauen aber mit aller psychologischen Feinfühligkeit gezeichnet. Ihre Claudine lässt sie sagen: „Man hat dem Herrn zwar eine Frau gegeben, aber leider keine Gebrauchsanweisung.“ Ihre Heldinnen sind viel zu stolz und unabhängig, um an einer enttäuschten Liebe zu zerbrechen, hatte schon Simone de Beauvoir befunden. Keine Emma Bovary, keine Anna Karenina, keine Effi Briest, Ehebruch ja, aber ohne Reue und Selbstmord. 

Kein geringerer als der literarische Psychologe des Jahrhunderts, Marcel Proust, hat ihr die höchste Anerkennung gezollt: „Es ist ihr gegeben, die Unerforschlichkeiten des weiblichen Denkens im Kunstwerk zu enthüllen. In ihr schlägt das menschlichste Herz der Literatur.“ Wie Proust selbst hat sie ein phänomenales Gedächtnis für Details, Farben, Gerüche, Bewegungen und Klänge. Gelernt hat sie durch den Rat ihrer geliebten Mutter Sido: „Regarde!“, betrachte alles, berühre alles, nimm alles in deine Hände. So wird sie gleichzeitig zur Analytikerin wie zur Impressionistin. In einem Brief schreibt ihr Proust: „Sie wissen doch genau, dass ich der Bewunderer bin und Sie die Bewunderte“. Selbst sein Antipode André Gide ist voll des Lobes, hat Chéri „in einem Atemzug verschlungen“: „Welche Sicherheit in der Federführung, welche Natürlichkeit in den Dia­logen. Und diese wundervollen Nebenfiguren!“ 

Beauvoir nennt sie die einzige wirklich große Schriftstelerin in Frankreich

Simone de Beauvoir nennt sie die „einzige wirklich große Schriftstellerin in Frankreich“, die Franzosen sagen bis heute „notre Colette“. Da erhält sie auch nach vielen akademischen Preisen und Ehrungen als erste Frau ein Staatsbegräbnis, an dem 6.000 Menschen, zumeist Frauen, teilnehmen. Der Figaro schreibt: „Was sich hier ausdrückte, zeugte von mehr als der Sympathie zu einem Werk – es war die Liebe zu einer Frau“. Die katholische Kirche ehrt sie auf ihre Weise, indem sie ihr ein christliches Begräbnis verweigert, was Graham Greene zu einem herzzerreißenden Brief an den Kardinal von Paris veranlasst, leider ohne Erfolg. 

Selbstverständlich ist sie längst mit ihrem Werk im Verlagsolymp, der Bibliothèque de la Pléiade, vertreten, während man sie im deutschsprachigen Raum lediglich in meist billig-kitschigen Ausgaben und schlechten Übersetzungen ­findet und ihre Romane noch immer als Frauen- oder Unterhaltungsliteratur gelten und in Bibliotheken höchstens in homöopathischen Dosen auftauchen, eine unselige, überholte Unterscheidung, die man in Frankreich nicht kennt.

Colette, die dreimal verheiratet war, und später deutlich jüngere Männer als Liebhaber bevorzugte, durchbricht aber auch immer wieder die Geschlechtergrenzen, lebte immer wieder auch ihre lesbischen Neigungen aus, am bekanntesten ist ihre langjährige Beziehung zu Missy, einer veritablen Marquise aus dem Hochadel, mit der sie zusammen mit entblößter Brust und halb nackt in einer skandalumwitterten Pantomime auftrat. Der eigentliche Tabubruch bestand aber im innigen Kuss der beiden auf offener Bühne. Trotz des Tumultes, der Pfiffe und der „Nieder mit den Lesben“-Rufe lassen sich die beiden nicht beirren, die Polizei muss schließlich einschreiten. Colette ist „etwas enttäuscht über die Feigheit all dieser Leute“, wie sie nach der Premiere sagt und verspricht, wieder zu spielen. 

Jahrelang tourt sie danach als Vagabonde, als Artistin, Varieté-Künstlerin und Nackttänzerin unter durchaus prekären Verhältnissen durchs Land. Auch wenn uns die Bilder heute eher brav erscheinen, damals waren die Tabubrüche schockierend. Aber die Aufnahmen, erotisch gewagt oder in Männerkleidung mit Zigarette, mit immer verhangenem Blick, sind inzwischen selbst ikonographisch, auch ihr schönes Gesicht im Alter, immer noch mit Lockenmähne, als ihr der arthrosekranke Körper nicht mehr gehorcht und unter Stoffhüllen verborgen werden muss und sie Paris nur noch aus dem Fenster betrachten kann. Gisèle Freund hat sie 1939 in einer melancholischen Pose „Colette au lit“ schreibend mit rotem Halstuch porträtiert und noch einmal 1954 kurz vor ihrem Tod mit schütterer, aber wehender Mähne in Monte Carlo. Was die Haare angeht: mütterlicherseits soll es kreolische Vorfahren geben …

Nach ihrer Zeit als Vagabonde gelingen ihr mit „Mitsou“, „Sido“, „Gigi“ und „Chéri“ weitere Werke, die ihren Weltruhm begründen. Daneben arbeitet sie stets auch als Journalistin. 1945 wird sie als erst zweite Frau in die Akademie Goncourt gewählt, deren Vorsitz sie 1949 übernimmt. Ein Jahr davor war sie für den Nobelpreis nominiert worden.

Wie niemand zuvor hat Colette weibliche Lust und Sexualität beschrieben

Colette, die Colette, hat sicher wie niemand zuvor weibliche Lust und Sexualität beschrieben und das Recht auf beides propagiert. Am deutlichsten wird dies in ihrem Text „Diese Freuden“, einem bewundernswert freien Buch und eine Art Vermächtnis an die Nachwelt, 1983 immerhin in der Bibliothek Suhrkamp erschienen. Sie ist eine Art Pantheistin der Lust, eine Pionierin der sexuellen Befreiung der Frau, ein mentaler Herma­phrodit. Hatte Freud die Frage gestellt, die er „trotz seines dreißigjährigen Studiums der weiblichen Seele“ nicht beantworten konnte: „Was will eine Frau eigentlich?“, so hat Colette hierauf komplexe Antworten gegeben. Sie hat die Welt der Sinne beschrieben, eine Art erotischen Garten erschrieben und immer wieder betont, dass das Sinnliche sich nicht auf das Körperliche einschränken lasse. Sie selbst hat sich alle erdenk­lichen Freiheiten genommen, aber auch hart gearbeitet wie ein Mann, das Zimmer für sich allein hat sie sich früh erkämpft.

Ihr treuer Freund und Nachbar im Palais Royal, Jean Cocteau, schreibt: „Colettes Leben. Skandal auf Skandal. Und dann nimmt alles eine neue Wendung, und sie wird zum Idol.“ Seit der legendären George Sand, auch sie schon in ­Männerkleidern, hat es in Frankreich keine so einflussreiche Schriftstellerin gegeben und vor allem keine mit einer so treuen Leserschaft.

In ihrem Spiel mit Geschlechterrollen, ihrem Streben nach Selbstbestimmung und ihren fantasievollen Performances und Selbstinszenierungen ist sie geradezu modern.

Ihr Leben war nicht nur ein spannender Roman, sondern auch, nach ihrer Trennung von „Willy“, gelebte weibliche Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, auch wenn sie „kein Sprachrohr für Suffragetten“ sein wollte. Ihr Leben und Werk straft das Lüge.   

WEITERLESEN
Neu aufgelegte Romane von Colette: "La Vagabonde"; und „Die Fessel“ (ebersbach & simon, Ü: Judith Petrus/Grit Zoller), „Claudines Elternhaus“ (Zsolnay, Ü: Elisabeth Edl), „Vom Glück des Umziehens“ (Unionsverlag, Ü: Ina Kronenberger), (Manesse, Ü: Renate Haen). Biografie von Judith Thurmann: „Colette. Roman ihres Lebens“ (vergriffen, einsehbar im FrauenMediaTurm).

 

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