Das kleine Mädchen, das ich war: Friederike Mayröcker

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„Ich kniete vor jedem Käfer, redete zu den Katzen, schlang meine Arme um jedes Hündchen des Dorfes." Das Kind Friederike Mayröcker war zart und beschützt, umsorgt und dann, plötzlich, durch den Tod der Mutter, radikal verlassen.
Am 20. Dezember 1924 in Wien geboren, wurde Friederike Mayröcker Englischlehrerin, unterrichtete 23 Jahre an Wiener Hauptschulen und arbeitet seit 1969 freischaffend. Sie wurde bald zu einer der bekanntesten Vertreterinnen der „konkreten Poesie", seit 1946 schreibt sie experimentelle Texte, 1964 wurde sie erstmals ausgezeichnet: mit dem Theodor-Körner-Preis der Stadt Wien. Der Bedeutung ihrer Kindheit war sich die Schriftstellerin Mayröcker stets bewusst, in einer Selbstvorstellung in dem von Walter Höllerer herausgegebenen Band „Ein Gedicht und sein Autor" bezeichnet sie 1967 ihre Kindheit als „eine Art Dunkelkammer, in der alles schon vorentwickelt wurde".
Friederike Mayröcker veröffentlichte Hörspiele (auch zusammen mit Ernst Jandl, mit dem sie seit 1954 befreundet ist), Gedichte, Prosatexte, sie ist Mitglied der Berliner Akademie der Künste, der Grazer Autorenversammlung und, seit 1977, Trakl-Preisträgerin. Bei Suhrkamp erschienen unter anderem ihr letztes Buch „Die Abschiede" (1980), „Fast ein Frühling des Markus M." (1976), „Heiligenanstalt" (1978), „Ausgewählte Gedichte 1944-1978" (1979) und „Friederike Mayröcker - Ein Lesebuch", das als Taschenbuch (9 Mark) einen guten Einblick in ihre Arbeit vermittelt. Ihr Gedichtband „Tod durch Musen" (1973) erschien in der Sammlung Luchterhand, ebenso die Erzählung „Je ein umwölkter Gipfel" (1973).

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Ich sasz dann da und starrte aufs Wasser. Ich sasz dann da und verfolgte mit meinen Augen den Flug der Schwalben, so niedrig, sie streiften beinahe die Dorfstrasze. Ich sasz dann da und gegenüber wogte der Küchengarten. Ich sasz dann da und ein Fenster öffnete sich an der Frontseite des Hauses, die grünen Gardinen flogen in den Garten hinaus, meine Mutter rief mich zum Essen. Ich sasz dann da und starrte auf den Salamander in meiner Hand, und mir kamen die Tränen vor Freude. Vor dem Haus auf dem Kühlerdach des alten Talbot lag die Nachbildung eines Salamanders und reckte den Hals. Ich sasz dann da und schob die Mundharmonika an meinen Lippen vor und zurück. Ich sasz dann da und die Mittagsonne brannte auf die Steinstufen zum Ziehbrunnen. Ich sasz dann da und im groszen Garten an der Längsseite des Hauses glühten die Feuerlilien, und Zitronenfalter gaukelten darüber hin, das birkenweisze Lusthäuschen glänzte zwischen Büschen und Beeten und Zwergbirnbäumen. Ich sasz dann da und vor meinen Füszen lag mein Weggefährte aus Weidenzweigen. Den zog ich als treuen Hund nach, wo immer ich hinging. Ich sasz dann da und blickte in die untergehende Sonne.

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Ich wanderte dann umher mit meinem dürren Weidengezweig. Ich wanderte dann umher, ein Stück die Dorfstrasze aufwärts bis zum Wegkreuz und wieder zurück. Selten wagte ich mich weiter weg. Ich streute dann auf dem Hinweg schöne duftende Robinienblätter, die ich aus niederhängenden Ästen gekämmt hatte als Spur hinter mich, um wieder heimzufinden. Ich kniete vor jedem Käfer, redete zu den Katzen, schlang meine Arme, um jedes Hündchen des Dorfes. Ich scheute aber die wilden gröszeren Dorfkinder, fürchtete mich vor der Dunkelheit und vor den Spinnen, welche aus allen Ritzen und Winkeln des feuchten Hauses sich auf mich zuzubewegen schienen. Ich wanderte dann umehr, da stand mein Vater an der Böschung zum Bach und schnitzte für mich eine Weidenpfeife.

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Dorli Brill, und Susi Dorsch, und Margit Schuster, und Ruth Uhan, und Madeleine Trauttmansdorff, und Erich Zinsler, und Erich Poupee . . . die anderen Namen vergasz ich, nicht mehr als ein Dutzend Knaben und Mädchen in meiner Klasse, private Volksschule: Institut Liszte: ich kam dorthin, zu den Englischen Fräulein, September 30, Cloth-Kleiderschürze, langer Trenchcoat, Pullmannmütze: ich würde dort vor Infektionskrankheiten eher bewahrt bleiben: meine besorgten liebenden Eltern, ich, ihr einziges Kind, zirpend ein Christvögelein beinah Weihnachtsstern, Hausgeburt im groszelterlichen Schlafzimmer, am 20. Dezember 1924, vier Uhr nachmittags, die Hebamme hob mich empor und rief: ENGELGOTTESKIND! Mein Vater: Lehrer und leidenschaftlicher Motorist, intelligent, unternehmend, gesellig, ideenreich, die Motorräder und Automobile kamen und gingen... Meine Mutter: Modistin, inspiriert, melancholisch, allen Künsten ergeben, aufopfernd, liebevoll.
Meine Groszmutter mütterlicherseits: verschwenderisch, träumerisch, lebensfern, zärtlich und sanft, eine Göttin in Taft und Seide: mein Liebling. Da waren wir alle Augenzeugen, als sie bald darauf starb, da waren wir alle Augenzeugen, als die Familie vor dem Zusammenbruch stand, da waren wir alle Augenzeugen, als das Landhaus versteigert wurde, als der Groszvater nachstarb, als in den Hinterhöfen der Häuser Arbeitslose sangen und bettelten.

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Ich sasz dann da und verglich das heute mit damals. Ich sasz dann da und hüpfte wieder im Kreidetempel im Park, in der Erinnerung: ein Mädchen mit blauen Augen und Ponyhaarschnitt, die Kirschenpärchen baumelten an den Ohren. Ich sasz dann da und retuschierte die Tankstelle weg, so dasz das alte Schulhaus wieder zum Vorschein kam. Ich sasz dann da und ging wieder an der Hand meiner Mutter die wenigen Schritte vom Wohnhaus zur Schule, sie trug meine Schultasche. Ich sasz dann da und weinte, weil ich fürchtete, sie würde vergessen haben, mich wieder zu holen. Ich sasz dann da und der Schuldirektor, ein alter spitzbärtiger freundlicher Mann, beugte sich zu mir nieder und fragte mich, ob ich schon lesen könne. Ich sasz dann da und fing zu lachen an, denn er hob mich auf und liesz mich auf seinen Knien reiten. Ich sasz dann da und ging wieder auf Zehenspitzen durch den mit ebenholzschwarzen Tischen und Stühlen ausgestatteten Festsaal des Schulhauses, der in den weitläufigen Schulgarten führte, irgendwo stand eine Gruppe Topfpalmen, auf dem gekräuselten Teich schwammen vier offene Wasserrosen. Ich sasz dann da und spürte wie meine Mutter fror, weil sie bei Kältegraden hinter dem Einfriedigungsgitter des Eislaufplatzes stand und nachmittagelang meine Schleifen, Bögen und Kurven verfolgte. Ich sasz dann da und wartete mit ungeduldiger Vorfreude, bis meine Mutter auf ihrer alten Nähmaschine das blaue Etaminkleidchen, das ich mir gewünscht hatte, fertiggenäht hatte („… ein Eitelkleid ... und rückwärts zu schlieszen ...").
Ich sasz dann da und hörte am Weihnachtsabend ein Schellen zum Zeichen, dasz die Bescherung beginnt: ich sasz dann da und sah, dasz meine Mutter mit ihrem Ehering gegen die Wasserkanne geklirrt hatte. Ich sasz dann da und es war ein schwarzer Brief. Ich sasz dann da und ich sah meine beiden Grosztanten vorübergehen. Beide in langen wallenden grauen Gummimänteln. Ich sasz dann da und schaute aus dem Kabinettfenster in der Wohnung der beiden Grosztanten in einen grellgelb besonnten Hof hinunter. Ich sasz dann da und wuszte nicht, was geschehen war, aber ich fühlte, dasz es etwas Schreckliches, Schweres war. Ich sasz dann da und war so erschrocken und konnte es nicht verstehen, und alle Familienmitglieder waren besorgt um mich und wollten mir immerzu Limonade und Butterbrot geben. Ich sasz dann da und hielt mir weinend die Hand vors Gesicht, denn ich wollte meine Mutter nicht ansehen müssen mit ihren geöffneten Adern.

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Ich wanderte dann umher und sah viele Fliederbüsche. Ich wanderte dann umher und in der Wandelhalle der Schule standen die Mädchen mit blauen Faltenröcken und weiszen Blusen. Ich wanderte dann umher und mein Vater führte mich auf den Leopoldsberg. Von der Aussichtswarte aus, wo es auch sommers stürmte, zeigte er auf die Stadt und den Flusz und erzählte mir Lehrreiches über das Land und die Landschaft, aber ich wollte nicht zuhören.
Ich wanderte dann umher und im Hinterhof eines Abbruchhauses sah ich einen kahlen Strauch, der plötzlich zu brennen begonnen hatte, es war ein Pfingsttag. Ich wanderte dann umher und kauerte nieder und schrieb im Anblick des brennenden Busches mein erstes Gedicht.

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