Denunziert einander!

Foto: Müller-Stauffenberg/IMAGO
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Wer sich rächen, eine Intrige spinnen oder KollegInnen schaden will, der hat in Deutschland leichtes Spiel. Im ganzen Land entstehen „Meldestellen“ für Vorfälle aller Art. Objektivierbare Kriterien gibt es dabei nicht.

Problematisch erscheint nicht so sehr, was gemeldet wird, sondern dass es diese Portale überhaupt gibt. Denn die gemeldeten Vorfälle bewegen sich unterhalb der Strafbarkeitsgrenze und sind damit ganz überwiegend vom Recht auf Meinungsfreiheit erfasst.

Ein Vorreiter des Ganzen ist das „Berliner Register“. Die deutsche Hauptstadt besteht aus zwölf Bezirken, von denen inzwischen jeder ein „Register“ hat, also eine bezirkseigene Meldestelle. „Zum Netzwerk der Berliner Register gehören weitere Community-basierte Dokumentationsstellen und über 230 Anlaufstellen“, heißt es auf deren Website. 230 – eine stattliche Zahl. Die Schwelle ist niedrig, denn Vorfälle können ganz leicht online gemeldet werden.

Die Zahl wiederum ist dynamisch, denn jeder kann Meldestelle werden: „Du machst in Deinem Umfeld bekannt, dass Du Anlaufstelle bist“, lautet eine der Instruktionen auf der Website für Personen, die selbst zur Meldestelle werden wollen. Eine erkennbare Rechtsgrundlage gibt es nicht, obwohl das Register steuerfinanziert ist.

Auf der Website steht auch, was gemeldet wird: „In die Dokumentation der Berliner Register fließen Vorfälle ein, die Bürger*innen im Alltag beobachten oder selbst erleben. Bei den Vorfällen handelt es sich um Aktivitäten der extremen Rechten, um rassistische Vorfälle im Alltag und Diskriminierung an verschiedenen Orten. Im Gegensatz zur Kriminalitätsstatistik der Polizei beziehen die Register auch Vorfälle in die Dokumentation ein, die keine Straftaten sind oder die nicht angezeigt wurden.“ Letztlich bedeutet das: Bürger denunzieren Bürger.

Ein Aufkleber mit der Aufschrift „Es gibt nur zwei Geschlechter“ würde in der Logik des Registers als rechtsextrem eingestuft, wie eine leitende Mitarbeiterin bestätigt. Allerdings nicht in jedem Fall: „Wir schauen, von wem der Aufkleber stammt, und wenn er von der AfD ist, dann nehmen wir ihn auf.“ Man könne ja im Parteiprogramm nachlesen, was die Partei wolle.

Das erscheint problematisch – ein Verhalten ist im Recht entweder vorwerfbar oder nicht, ohne Ansehen der Person (mit wenigen Ausnahmen). Um Strafbarkeit geht es dem Register auch nicht. „Es geht eher darum, ein gesellschaftliches Klima zu beschreiben, denn aus Meinung wird irgendwann Verhalten“, sagt die Mitarbeiterin.

Es geht also darum, eine zivilgesellschaftliche Grauzone des Verdachts und der Prä-Strafbarkeit zu schaffen. Dass man den Rechtsstaat dabei untergräbt, scheint egal. Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Unterhalb der Strafbarkeit sind unwillkommene Äußerungen anderer Menschen womöglich lästig, aber erlaubt. Oberhalb ist die zuständige Meldestelle die Polizei.

An der Zahl der „Vorfälle“ wird durchaus getrickst. Das gibt die Verwaltung offen zu. In einem Brief aus der Berliner Sozialverwaltung, der der NZZ vorliegt, bestätigt der zuständige Sachbearbeiter, dass er es völlig in Ordnung findet, wenn derselbe „transfeindliche“ Aufkleber, der von fünf Personen gemeldet wird, als fünf transfeindliche Vorfälle gezählt wird.

Um es zu verdeutlichen: Gäbe es einen körperlichen Angriff mit fünf Zeugen, und diese fünf Zeugen meldeten unabhängig voneinander den Angriff dem Berliner Register, dann gingen diese Meldungen als fünf körperliche Angriffe in die offizielle Statistik des Berliner Registers ein, obwohl es faktisch nur ein Angriff war. Manche Darstellungen sind in der Sache falsch oder zumindest Ansichtssache.

ie Berliner Musikerin Wiebke Hoogklimmer ist eher zufällig darauf gestoßen. Sie beobachtete im Juni die lesbische 25-Personen-Demo „Real Dyke March“, ohne daran teilzunehmen. „Als in der Presse die Statistik dieses Registers veröffentlicht wurde mit der Aussage, dass Transfeindlichkeit angestiegen sei, schaute ich mir aus Interesse die VorfallsChronik an und war überrascht, dort faktisch falsche Angaben zu finden“, sagte Hoogklimmer.

„Da ich bei manchen der gemeldeten Ereignisse Augenzeugin war, schrieb ich der Projektleiterin mit der Bitte um Stellungnahme. Ich erhielt bis jetzt keine Antwort. Die falschen Meldungen wurden auch nicht gelöscht.“ Die verzeichneten transfeindlichen Übergriffe habe es nicht gegeben.

„Es gibt Menschen, die sich bei uns melden, die lügen“, antwortet die Leiterin der Koordinierungsstelle, Kati Becker. Sie habe die Mail der Zeugin erhalten, deren Inhalt sei jedoch unwahr. Bestimmt sei die Zeugin der transfeindlichen Frauenbewegung zuzuordnen. Hoogklimmer weist das zurück. Sei’s drum – da es keine objektivierbaren Kriterien gibt, hat ohnehin jeder seine eigene Wahrheit. Was der eine transfeindlich findet, nimmt der andere kaum wahr.

„Als Bürgerin eines Rechtsstaates sehe ich diese Meldeportale, die ja bundesweit ausgebaut werden sollen, ohnehin kritisch“, schrieb die 63-jährige Hoogklimmer in einem Brief an die Berliner Justizsenatorin Felor Badenberg. „Wenn ich als Bürgerin allerdings nicht einmal darauf vertrauen kann, dass diese Meldeportale nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten geführt werden, finde ich es mehr als bedenklich.“ Antwort erhielt sie stattdessen vom oben erwähnten Sachbearbeiter.

Wenn über jemanden etwas Unwahres als Vorfall gemeldet wird, so ist der Grat zur Strafbarkeit schmal – hier kommen üble Nachrede und Verleumdung in Betracht. Anfangs enthielt das Berliner Register sogar noch Namen der angeprangerten Personen, etwa im Falle der Biologin Marie-Luise Vollbrecht. Sie hatte einen wissenschaftlichen Vortrag halten wollen über die biologische Zweigeschlechtlichkeit, was große Proteste hervorrief.

Die Schaffung des Berliner Registers begann schon 2006, seither ist das Meldewesen immer weiter ausgeufert. Der Bund versieht es zudem mit immer neuen Grundlagen. Im Bundestag wurde im März lebhaft über das Demokratiefördergesetz diskutiert, das auf Betreiben der Grünen kommen soll. Man nimmt dort an, dieses Gesetz stärke die Demokratie.

Der Unionspolitiker Christoph de Vries geht vom Gegenteil aus. „Ein staatlich finanzierter Pranger, mit dem demokratische Meinungen innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft angeprangert werden, ist nicht fortschrittlich, sondern totalitär und illiberal und hat auch nichts mit Vielfalt zu tun“, sagte er in der Bundestagsdebatte. „Wir brauchen keine Petz-Portale wie das Berliner Register, bei denen von der Meinungsfreiheit gedeckte, aber politisch missliebige Äußerungen angeprangert und diffamiert werden können“, sagte er weiter.

Die Zahl der Meldungen hänge vom „Grad der Sensibilisierung“ ab, heißt es auf der Website des Berliner Registers. Das erscheint schlüssig. Je höher die Sensibilisierung, desto mehr Vorfälle und desto größer natürlich der Bedarf für mehr Meldestellen. Diese werden dann „dokumentieren“, wie diskriminierend und ausgrenzend die Gesellschaft ist, und dementsprechend braucht es mehr Beauftragte, um dies zu bekämpfen. Das alles greift nahtlos ineinander mit den Bestrebungen der Antidiskriminierungsbeauftragten des Bundes, Ferda Ataman, die für ein Verbandsklagerecht diskriminierter Gruppen eintritt. So könnten Vereine die Rechte der von ihnen Vertretenen vor Gericht durchsetzen.

Der Artikel erschien zuerst in der NZZ.

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