Die Bombe im Kopf

Heidi Klum und Wolfgang Joop bei der Fleischbeschau.
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Das unschöne Wort Sex-Bombe hat einen schönen Nebeneffekt: Diese  Frauen haben in der Regel Kurven. Kurven sind wieder in, heißt es. Doch auch wenn es neuerdings wieder Frauen mit Kurven auf den Laufsteg und in die Modekataloge schaffen – warum sollen Frauen und Mädchen sich eigentlich entscheiden müssen zwischen Silikonbrüsten und Skelettkörpern. Beides macht krank. Germany’s Next Top Model ist dabei nicht das einzige Problem. Aber ein besonders großes.

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Die krankhafte Logik liegt in dem Selbstbild, das die Sendung vermittelt

Und so schlug auch diese Nachricht ein wie eine Bombe: Bombendrohung beim Finale von Germany’s Next Topmodel! Von einer Frau! 10.000 ZuschauerInnen mussten während der Live-Übertragung im Mai die SAP-Arena in Mannheim verlassen. Wegen „technischer Probleme“ plärrte es anfangs noch über die Lautsprecher. Da hatte man schon längst die VIPs und deren Gäste in Sicherheit ­gebracht.

Später wird in den Medien stehen, die Anruferin habe Insider-Wissen gehabt. Anders hätte sie die direkte Nummer niemals kennen können, die sie an diesem Abend wählte. Die Frau ist bis zu dem Zeitpunkt, an dem dieser Text geschrieben wird, nicht gefasst. Die Bombe gab es nicht. 

So manche, die die verwackelten Handy-Videos der Evakuation anklickte, konnte sich für eine Sekunde die „klammheimliche Freude“ nicht verkneifen. Die Älteren fühlten sich an die „Rote Zora“ erinnert, den ­feministischen Arm der Polit-Terroristen der 70er und 80er Jahre. Bombendrohung gegen Heidi Klum. Die Frau, die seit zehn Jahren Bomben in Köpfe legt. Mit ihrer „mörderischen Sendung“, die „eiskalt den Tod junger Mädchen in Kauf nimmt“. 

So drastisch formulierte es der Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses für psychisch Kranke in Köln, Manfred Lütz, im Interview. Der Psychiater ist Vater von zwei Töchtern im Alter der Zielgruppe der Modelshow. ProSieben schickte ihm eine Unterlassungserklärung. Lütz unterschrieb nicht.

Der Zorn des Mediziners wurde entfacht durch eine Studie, die das „Internationale Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen" (IZI) veröffentlicht hatte. 241 Menschen, vornehmlich Mädchen und junge Frauen, die wegen einer Essstörung in therapeutischer Behandlung sind, waren ­gefragt worden, welchen Einfluss Casting-Shows auf ihre Krankheit haben. Man mag es kaum glauben, aber dieser Zusammenhang wurde bisher so gut wie nicht untersucht.

Ergebnis: Einige der Mädchen sahen die Koch-Show „Das perfekte Dinner“, um sich „satt zu sehen“; andere die Schönheits-OP-Sendung „Extrem schön – endlich ein neues Leben“, um auf die „armen Würstchen“ in der Sendung herabzublicken; noch andere schauten die Abnehm-Schau „The Biggest Loser“, um sich Tipps zu holen. So gut wie alle guckten Germany’s Next Topmodel. Seit 2006 läuft das Laufsteg-Drama, bei 12- bis 22-Jährigen hat die Sendung seither einen Marktanteil zwischen 40 und 50 Prozent. Das heißt auch: Manche Mädchen gucken Germany’s Next Topmodel, seit sie laufen können.

85 Prozent der Befragten erklärten, dass Heidis Modelshow ihrer Meinung nach Essstörungen wie Kotz- und Magersucht verstärken könne. Fast 40 Prozent attestierten der Sendung einen besonders starken Einfluss auf die eigene Erkrankung. Für ­einige war sie sogar der direkte Auslöser. 

Die Frauen verlieren nicht nur auf Fotos ihren Kopf

Der Pressesprecher des Senders, Christoph Körfer, reagierte umgehend auf die Kritik. Ganz im Gegenteil: Gesunde und nachhaltige Ernährung seien ein „wichtiges Thema der Show“, behauptete er. Das Schönheitsideal Size Zero hingegen spiele in Germany’s Next Topmodel „keine Rolle“. – Da möchte frau auch ohne Bulimie kurz kotzen gehen. Am besten vor die ProSieben-Sendezentrale.

Bei jedem dritten Mädchen zwischen 11 und 17 Jahren gibt es heute Hinweise auf eine Essstörung. Bei mindestens zwei von 100 ist die Störung eskaliert zu einer schweren psychosomatischen Krankheit wie Bulimie oder Magersucht. Das sind die offiziellen Zahlen. Die Dunkelziffer ist um vieles, vieles höher. Ein eindeutiges Krankheitsbild gibt es ohnehin nicht, aber unendlich viele Zwischenformen. Klar ist: Essstörungen sind wie Herpes an der Seele. Den Scheiß hast du ewig!

Und – auch das bestätigt die Studie des IZI: Sie sind Symptom für ein tiefer liegendes Leiden, das die Betroffene oft weder artikulieren noch kontrollieren kann. Stattdessen beginnt sie die wahnhafte Kontrolle über den eigenen Körper. Bis hin zur Selbstzerstörung. Shows wie die von Heidi Klum liefern Mädchen hierfür die perfekte Anleitung, schreiben Maya Götz, Caroline Mendel und Sarah Malewski, die Autorinnen der Studie.

Das „Krankmachende in der Logik von GNTM“ liege aber nicht nur in dem Vorgaukeln völlig unrealistischer Körpermaße: Nur vier Prozent aller Frauen wären körperlich überhaupt in der Lage, einem Supermodel zu entsprechen. Sondern die krankhafte Logik liegt in dem Selbstbild, das die Sendung den Mädchen vermittelt. Heidi erzieht die Frauen zum maximalen Gehorsam, zum Nicht-Auffallen und Nicht-Stören, kurz – wie EMMA schon 1984 in einem Sonderheft über Essstörungen warnte: Zum Dünne machen! Das Symbol für diese Disziplin ist der eigene, perfekte Körper, den es zu vermarkten gilt. Wer keinen perfekten Körper hat, ist selbst schuld und hat nicht genügend Ehrgeiz. Und, klar, isst zu viel.

„Der Frust, das Unwohlsein und die Minderwertigkeitsgefühle, die während der Rezeption (Anm.d.Red.: von Klums Show) entstehen, führen jedoch (leider) nicht dazu, einfach abzuschalten oder Rezeptionsmuster voller Widerstand gegen die Eigenlogik der Sendung zu entwickeln“, erklären die Wissenschaftlerinnen. Sondern zu noch mehr Komplexen und noch mehr Anpassung. Das Perfide: Gerade die leistungs­starken Mädchen mit Hang zur Perfektion sind davon besonders betroffen. 

Die Kommission für Jugendmedienschutz prüft nun die „jugendgefährdende Wirkung“ der Kultsendung. Mit Blick auf die sinkenden Einschaltquoten wird sich Heidis Drillorgie vielleicht auch von alleine erledigen. Einen Vorgeschmack auf das Ende lieferte das „Nachhol-Finale“. Es hatte den Charme einer Vorstadtdisko-Misswahl – trotz New Yorks Glitzerkulisse.

Gerade leistungs­starken Mädchen sind besonders betroffen

Bloß für Mädchen und Frauen bleibt der Alltag auch ohne Modelshow ein Minesweeper-Spiel: Überall Schlankheitswahn-Bomben! Unter dem Hashtag #thinspiration oder #thinspo zum Beispiel teilen junge Frauen im Netz Fotos von abgemagerten Körpern als Inspiration zum Hungern. Das ForscherInnenteam Jannath Ghaznavi und Laramie D. Taylor der University of California haben mit ihrer Studie zu diesem relativ neuen ­Phänomen Diskussionsstoff geliefert. Ihre Analyse von 300 Fotos auf Pinterest und Twitter ergab: Die in der Regel in sexy Posen dargestellten Frauenkörper sind nicht nur ­abgemagert bis auf die Knochen – ihnen wird meistens auch noch der Kopf abgeschnitten. „Man stelle sich eine Teenagerin vor, die im Netz unter den Schlagwörtern ‚attraktiv‘, ‚schön‘ oder ‚fit‘ nach Inspiration sucht. Sie wird vor allem Fotos von dürren, leicht bekleideten, sexualisierten, kopflosen Körperteilen finden“, sagt Ghaznavi.

Aus der Hirnforschung wissen Experten heute, dass Magersucht auch das Hirn schrumpfen lässt. In den meisten Fällen normalisiert sich die Größe, wenn die Person wieder an Gewicht zulegt. Aber manchmal kommt es zu Spätfolgen wie Depressionen oder Angstzuständen. Die Frauen verlieren also nicht nur auf Fotos ihren Kopf – sondern auch im ganz realen Leben.

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