Die Top-Juristin und sechsfache Mutter

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Wie schafft Juliane Kokott das? Einen Job als EU-Generalanwältin in Luxemburg – und sechs Kinder in Schwaben. Melanie Amann wollte es genauer wissen.

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Irgendetwas kann da doch nicht stimmen. Da muss etwas faul sein an Professor Dr. Dr. Juliane Kokott. Vielleicht ist sie in ihrer Kindheit im Saarland in einen Kessel mit Zaubertrank gefallen? Oder wie ist sonst zu erklären, dass Kokott als Volljuristin, Professorin und zweifach promovierte Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof täglich einen Full-Time-Job stemmt – und sich dazu ein Familienleben mit sechs Kindern gönnt?
Juliane Kokott ist es gewöhnt, dass JournalistInnen sie nicht anrufen, um über ihre Tätigkeit als EuGH-Generalanwältin bei Vogelschutzrichtlinien oder Doppelbesteuerungsabkommen zu sprechen. Eigentlich wollen alle nur wissen: Wie schafft die das? Was ist das für eine?
„Bitte schreiben Sie nicht, wo wir wohnen und wie die Kinder heißen“, bittet die Spitzenjuristin und Mutter auch an diesem Morgen in ihrem Büro in Luxemburg. Leicht angespannt sitzt die schmale blonde Frau in ihrem Ledersessel. Sie spricht langsam, mit leiser und konzentrierter Stimme. Schließlich muss sie jedes Wort auf die Goldwaage legen. Wenn sie erzählt, dass die Kinder sie schon manchmal vermissen, sind die Feministinnen enttäuscht. Und wenn sie erzählt, dass ihr die Mutterrolle nicht genügt, sind die Vollzeitmütter beleidigt.
Juliane Kokott hat einen der höchsten Posten inne, den die Euro­päische Union zu vergeben hat: Als eine von acht Generalanwälten unterstützt sie die Richter am EuGH mit ihren Schlussanträgen bei der Auslegung des europäischen Rechts. Und fast immer folgen die Richter ihrer Einschätzung. Für die Mitgliedstaaten stehen dabei nicht selten Milliardensummen auf dem Spiel.
Von Montag bis Donnerstag gibt es für Kokott kein Familienleben: Dann lebt und arbeitet sie alleine in Luxemburg. Jeden Donnerstagabend aber fährt ein Chauffeur sie im Dienstwagen zu ihrer Familie nach Baden-Württemberg, damit sie wenigstens am Freitag zu Hause arbeiten kann. Bis zum letzten Moment studiert sie im Auto Akten. Davon geben die Mitarbeiter ihr lieber zu viele mit, denn sie hasst es, untätig im Auto zu sitzen.
Wenn Kokott dann aussteigt, kann sie sich ganz auf die sechs Kinder – vom Baby bis zum Abiturienten – und ihren Mann einlassen. Erstaunlich, dass sie das schafft? Vielleicht weniger, wenn man weiß, dass sie einiges gewohnt ist: Die Eltern Vertriebene, sie eines von zwei Kindern, der Vater Bürgermeister und die Mutter Hausfrau. Eigentlich wollte auch die Tochter Bürgermeisterin werden – aber dann hat sie sich für die ganze Spanne entschieden.
Zur Zielstrebigkeit kam bei Kokott das Glück, die richtigen Ziehväter gefunden zu haben. Zum Beispiel den Völkerrechtler Tom Buergenthal, für den sie 1983 als Studentin in Washington gearbeitet hatte: Er machte ihr Mut, für ein Forschungsjahr nach Harvard zu gehen. Oder Karl Döhring, Direktor am Heidelberger Max-Planck-Institut, der von Fakultätskollegen als „Frauenbeauftragter“ verspottet wurde, als Kokott sich 1992 bei ihm im internationalen Recht habilitierte – als erste Frau in Deutschland. Döhring unterstützte sie auch, als ein Kollege ihre Habilitation nicht anerkennen wollte, weil Kokott nicht den Namen ihres Ehemannes angenommen hatte.
1999 erhielt Kokott dann den Ruf an die renommierte Universität St. Gallen, deren Institut für Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht 2003 ihr Sprungbrett zum Europä­ischen Gerichtshof war. „Die Kinder kamen glücklicherweise daneben wie von selbst“, sagt sie. Und sie ließen sich Dank allseitigem Einsatz stets mit ihrem Beruf vereinbaren: Der älteste Sohn reiste als Säugling mit nach Harvard, der zweite kam direkt nach der Abgabe ihrer Habilitation zur Welt. Bei Tagungen und Dienstreisen passen meistens der Vater, mal die großen Geschwis­ter, mal ein Kindermädchen auf das jeweilige Baby auf.
Eine Teilzeitstelle hatte sie nie, und auch ihr Mann, ein Steuer­rechtsanwalt, musste beruflich nie zurückstecken. Streng­genommen meistert Juliane Kokott aber auch keine Doppelbelastung, sondern kann es sich finanziell leisten, einen Teil der Arbeit zu delegieren: Für Kinderbetreuung und Hausarbeit sind unter der Woche gleich fünf Frauen im Einsatz. Jeden Tag kommt eine andere Studentin, hilft bei den Hausaufgaben, spielt mit den Kindern und bringt sie zum Sport oder zur Musikstunde.
Damit Kokott am Wochenende für die Kinder da sein kann, muss sie in Luxemburg auch schon mal die Nächte durcharbeiten. Doch: „Die Arbeit macht Spaß, aus ihr kann ich Energie schöpfen.“ Und fügt fein lächelnd hinzu: „Wer es wagt, wird merken, dass es gar nicht so schwierig ist.“
Vielleicht ist das das Erfolgsgeheimnis von Juliane Kokott. Dass sie grundsätzlich davon ausgeht, dass es schon irgendwie klappen wird. Wieso sollte eine frisch verheiratete Frau und Mutter nicht promovieren können? Was spricht dagegen, allein mit einem neugeborenen Kind nach Harvard umzuziehen? Warum kann die Kinderfrau ein Baby nicht zum Stillen ins Büro bringen?
„Meine Lebensumstände sind nun mal so, alles andere würde nicht zu mir passen“, würde Juliane Kokott den Zweiflern sagen. Dass die Deutschen angesichts der demographischen Entwicklung langsam kinderfreundlicher werden und berufs­tätige Mütter akzeptieren, erfüllt sie mit Genugtuung: „Jetzt muss ich mir nicht mehr anhören, dass sechs Kinder asozial sind.“
Melanie Amann, EMMA 1/2007

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