Die neue Frau

Stefan Zweig mit seiner ersten Ehefrau Friderike, einer Journalistin und Schriftstellerin. Foto: DPA
Artikel teilen

Anders wird sie sein, das ist gewiss, sehr viel anders, die Frau von morgen, und in ihrer Entwicklung sich wenig darum kümmern, wie die Menschen von gestern und heute sie wünschen und verlangen. Sehr anders wird sie sein, denn sie hat eine ungeheure Entwicklung zu vollenden: die endgültige Befreiung von der männlich einseitigen Moral. Und sie hat noch einige Bastillen zu erkämpfen innerhalb jener grandiosen Revolution der Frau, die in den letzten zwei Jahrzehnten so überwuchtig eingesetzt hat.

Ich halte es für möglich, dass eine zukünftige Kulturgeschichte diese vollkommene Umwertung und Verwandlung der europäischen Frau um 1900 sogar mehr beschäftigen wird als der Weltkrieg. Jedesfalls: Sie ist das erstaunlichste Phänomen sittlicher Umschaltung innerhalb eines einzigen Geschlechts.

Stellen wir nur klar und mit wachen Sinnen zunächst einmal fest, dass kaum jemals seit undenklichen Zeiten und niemals innerhalb der christlichen Zeitrechnung eine derartig sturmhafte und radikale Umformung aller sittlichen und sexuellen Beziehungen zugunsten der Frau sich vollzogen hat. Eine solche Welle kann nicht plötzlich innehalten; sie muss fortrollen bis an ihren letzten Strand.

Aus den in Korsette geschnürten, bis zum Hals mit gefälteltem Tuch verschlossenen, mit Röcken und Unterröcken behafteten, aus diesen beinlosen, künstlich bienen haft taillierten und auch in jeder Regung und Bewegung künstlichen Wesen, aus dieser historischen Frau von vorgestern ist innerhalb einer einzigen raschen Generation die Frau von heute geworden, mit ihrem hellen, offenen Leib, dessen Linie das leichte Kleid nur wie eine Welle klar überfließt, diese Frau, die – bitte nicht zu erschrecken! – heute am hellen Tag dem Wind und der Luft und jedem männlichen Blick so aufgetan ist, wie vordem nur in gewissen geschlossenen Häusern die Damen, deren Namen man nicht aussprechen durfte. Aber weder sie noch wir empfinden diese Freiheit des Körpers, diese Freiheit der Seele heute im Mindesten als unsittlich, im Gegenteil: wir verstehen schon nicht mehr die doch so nahe Zeit, wo es einer Frau nicht erlaubt war, vor dem zwanzigsten Jahre etwas zu wissen und nach dem dreißigsten Jahre noch weiter zu begehren.

Wie aber wird sie sein, diese neue Frau? Die positive Frage scheint mir zu kühn; man kann zunächst nur mutmaßen und feststellen, wie die Frau von morgen nicht sein wird. Ebenso wie in der oberen Schicht der Typus „Dame“, wird in der bürgerlichen der Typus der „Hausfrau“ verschwinden im Sinne des immer wieder Kinder säugenden Haustiers, des plättenden, fegenden, kochenden, bürstenden, flickenden und sorgenden Domestiken ihres Hausgebieters und ihrer Kinder. V

orbei wird auch sein der Typus des „Fräuleins“, der betont Unverheirateten im Gegensatz zur ehelichen Gesponsin, man wird Mädchen die Frauen vor der Geschlechtsreife nennen und jede andere nur Frau, ob ihre Mutterschaft nun eine kirchlich bescheinigte ist oder nicht, ihr Beisammensein mit dem Mann ein bürgerliches oder unkonzessioniertes.

Alle diese hochmütigen und klassenhaften Abgrenzungen werden aufgehoben werden zugunsten eines Typus verstärkterer und einheitlicherer Frauenkameradschaft. Das Wort „Frau“ wird ein Geschlecht aus allen Ständen und Klassen schwesterlicher zusammenfassen, als unsere europäische Welt dies bis zu unseren Tagen kannte.

Denn Kameradschaft, dieses Wort ist schon heute und wird morgen noch mehr der Sinn aller Beziehungen sein. Kameradschaft, sie wird mehr gelten als familiäre Bindungen, mehr sogar als die erotischen. Nicht mehr wie bislang wird die Frau aus einer Untertänigkeit in die andere fallen, das heißt, aus der Obhut und dem Kommando der Eltern einem Manne als Eigentum zu Obhut und Kommando überstellt werden. Sie wird neben ihrem Manne stehen und nicht mehr unter ihm. Gleich an Bildung, unabhängig durch eigenen Beruf, nicht mehr gehemmt von der Angst vor einer streng bürgerlichen Moral, wird sie aus freiem Willen ein dauerndes oder nicht dauerndes Bündnis mit einem Manne schließen, erstlich, um das schwere Leben unserer Zeit gemeinsam zu bewältigen, zweitens, um dieses schwere Leben sich gemeinsam leichter zu machen, also gemeinsam zu genießen in Sport und Spiel und im geistigen Wettstreit.

In einer neuen Freiheit, ich bin dessen gewiss, wird die neue Frau dem Manne von morgen gegenüberstehen und nicht mehr in der vorzeitlichen Haltung eines demütigen Wartens auf Gewähltwerden und Geheiratetsein. Dadurch wird und muss auch eine vollkommene Verwandlung im Erotischen geschehen, ein Übergang aus der Passivität der Frau in der Erotik, aus dem Warten auf das Gewähltwerden, zu freier Wahl, vielleicht, sogar zu einer zeitweiligen Aktivität. Weil sie nicht mehr unerfahren sein wird wie die gestrigen, denen die Familie noch den Gatten wählte, wird sie selbst ihre Wahl treffen, und eine neue bessere Freiheit im Sinne der Kameradschaft in den Beziehungen zwischen Mann und Frau muss beginnen.

STEFAN ZWEIG

Der Text ist ein gekürzter Auszug aus: Barbara Sichtermann (Hg.): Wie Männer sich die Frau von morgen wünschen (ebersbach & simon, 18 €).
 

Ausgabe bestellen
Anzeige
'
 
Zur Startseite