Die Sucht der Männer
Zu mir kommen viele Männer mit sogenannten erektilen Dysfunktionen. Das kann angstbedingt sein, wenn man mal eine Pleite erlebt hat. Dann gerät man in Stress und kommt halt nicht in die Lust. Das gab es früher, das gibt es heute. Aber heute werden die Jungen, sobald sie ein Smartphone haben, mit Pornografie sozialisiert, also schon ab elf oder zwölf Jahren. Das heißt, noch bevor sie realen Geschlechtsverkehr haben, sind sie mit Pornografie konditioniert. Ich habe hier junge Männer, die jahrelang härtestes Material konsumiert haben. Ich sage immer: Das ist ein weltweiter Feldversuch ohne Ethikkommission.
Reale partnerschaftliche Kontakte gibt es oft immer später, in Japan nennt man das die „Sexless Generation“. Auch bei uns steigt die Zahl der sogenannten „Unberührten“, die noch nie eine Partnerin hatten. Solche Männer hatte ich auch schon hier. Denen muss man erstmal die Nuckelflasche wegnehmen, also die Pornografie. Und dann schicke ich sie aus ihrem Kokon raus an den Ort des Geschehens, also ins Leben. Und zwar nicht gleich zum Dating. Die fangen damit an, dass sie Leute nach der Uhrzeit fragen. Dann sollen sie einer Frau einfach mal ein Kompliment machen. Und ich erkläre ihnen, dass sie sich Zeit nehmen sollen. Heutzutage ist es ja so: Man dated, man vögelt, und dann ghostet man. Das Karussell dreht sich immer schneller. Das muss man anhalten und denen sagen: Wollen Sie die Frau nicht erstmal näher kennenlernen? Aber es geht ja schon beim Schreiben los. Da sagen manche: „Ich will doch jetzt nicht drei Tage lang mit der Frau schreiben.“
In ihren Beziehungen haben immer mehr Männer Erektions- und Orgasmusstörungen. Aber nur in Bezug auf die Partnerin. Die kann mit den Pornos nicht konkurrieren. Sie können sich in der Pornografie die Reize punktgenau holen. Wenn ich Erregung immer mit bestimmten Porno-Sequenzen verknüpfe oder bestimmten Fetischen kombiniere, dann fehlt das bei der Partnerin. Und es gibt natürlich eine Konditionierung auf ein bestimmtes Aussehen und ein bestimmtes Alter. In der Pornowelt ist schon eine 40-Jährige eine verwelkte Zwetschge und läuft unter MILF oder GILF (Mother oder Grandmother I’d like to fuck, Anm. d. Red). Dazu kommt die Vorstellung, dass die Frau sexuell parat zu sein hat und sich den Vorlieben unterordnen soll. Die Männer werden durch sowas nicht beziehungsfähiger.
Pornografie ist neutral betrachtet ein Belohnungsreiz, und zwar ein starker. Dann gibt es die Stationen: Toleranzentwicklung, Dosissteigerung bis hin zum Kontrollverlust. Der Süchtige sucht einen Genussreiz. Mit der Zeit müssen die Reize immer stärker werden, und sie beeinflussen auch immer mehr Sinne. Audiovisuelle Reize, 3D, virtuelle Räume mit Übermittlung taktiler Reize. Die digitale Welt ist aus den Fugen geraten und die KI wird uns da nochmal weiterkatapultieren. Das können wir uns noch gar nicht ausmalen. Man wird bald nicht mehr wissen: Was ist echt und was ist falsch? Sie können sich bald jede sexuelle Fantasie von der KI zeigen lassen.
Die Hemmschwelle des Pornokonsumenten sinkt, die Risikobereitschaft kann zunehmen. Das, was ich in der Pornografie sehe, kann den Wunsch befördern, das auch einmal in Realität zu erleben.
Die digitale Welt ist aus den Fugen geraten und KI wird sie noch mehr radikalisieren
Seit ich 2018 mein Buch „Scharfstellung“ veröffentlicht habe, hat sich die Situation noch einmal verschärft. In Corona hat der Pornografie-Konsum nochmal zugenommen und damit auch Abhängigkeit und zwanghafte Störungen der Sexualität. 2019 hat die „American Association of Addiction Medicine“ auch Verhaltenssüchte in ihre Definition von Abhängigkeiten mit aufgenommen und in der internationalen Klassifikation von Erkrankungen sind zwanghafte sexuelle Störungen eine neue Diagnosegruppe. Ähnlich der „Online Gaming Disorder“, der ersten anerkannten Verhaltenssucht, wird auch die Pornosucht diesen Weg beschreiten. Schon jetzt bekommen die Krankenkassen kalte Füße bei der Flut an Betroffenen. Und die Sexindustrie lehnt sich weiterhin zurück und sagt: Wie kann die „schönste Nebensache der Welt“ süchtig machen. Aber wir Therapeuten wissen, dass die Betroffenen mit hohem Leidensdruck und vielen Kollateralschäden die Praxen fluten.
Wenn die pornosüchtigen Männer zu mir kommen, dann meist, weil es einen externen Faktor gibt: Weil die Partnerin die Beziehung aufkündigt, weil die Männer ihr Studium nicht fertigkriegen oder ihren Job verloren haben, weil sie kein Geld für sexuelle Dienstleistungen mehr haben. Ich hatte hier Klienten, die haben jeden Monat fünfstellige Beträge für OnlyFans oder Escorts ausgegeben.
Natürlich integriere ich, falls erforderlich, die Partnerin mit in die Therapie. In der Regel wollen die Männer nicht aus der Beziehung raus, auch wenn sie zu Prostituierten gehen oder pornomäßig versumpft sind. Und dann lastet da ein massiver Druck auf der Partnerin, die sind verständlicherweise extrem betroffen. Ich gucke selbstverständlich auch: Was ist mit der Biografie des Mannes? Ist da irgendwas? Was war da in der Kindheit los?
Ich habe inzwischen cirka 30 Prozent Männer in meiner Praxis, die im Zusammenhang mit Sexualität strafbare Handlungen begangen haben. Die sich Missbrauchs-Material angeschaut haben. Die heimlich Frauen gefilmt haben und das Material in digitalen Welten teilen. Die Frauen mit Schlafmitteln betäubt haben, wie im Fall Gisèle Pelicot.
Ich schaue mir an, wie sich das alles entwickelt hat. Und das fing meistens ganz harmlos mit den ersten einfachen Pornos an. Das Problem ist: Diese Pornoplattformen sind so international aufgestellt – wir kriegen das nicht mehr weg. Das ist wie mit dem Alkohol: Den kriegen wir auch nicht mehr weg. Wir müssen damit umgehen lernen.
Von Pornos kann ein Suchtpotzenzial ausgehen, mit seelischen Folgen
Die Eltern und Schulen müssen aufklären! Die müssen erklären, dass von Pornos ein Suchtpotential ausgehen kann mit gesundheitlichen, seelischen und körperlichen Folgen. Es ist wichtig, dass da Leute sind, die auch die negativen Folgen ganz klar benennen. Dazu braucht es realistische Szenarien und Fallbeispiele von Betroffenen. Und man muss natürlich auch das Frauenbild in der Pornografie einmal näher anschauen. Die Objektifizierung und deren Folgen sollte thematisiert werden. Das Körperbild wird verfälscht dargestellt. Das fängt schon an mit diesen langen Nägeln, den aufgespritzten Lippen und den aufgepumpten Brüsten. In der Sexualität ist das Setzen von klaren Grenzen und das Verhandeln von Regeln eine wichtige Komponente. Bei dem Frauenbild in der Pornografie wundert es mich nicht, dass so viele Mädchen mit ihrer Geschlechtsidentität hadern.
Aber es gibt ja immer auch Gegentrends. So wie es Slow Food gibt, gibt es inzwischen auch Slow Dating und Slow Sex. Und ich bin sicher: Das romantische Liebesideal wird nicht aussterben.
Das Gespräch führte Chantal Louis.
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