Wild life statt Gartenzwerge

Inge Steinkuhl vor ihrer Laube in Gelsenkirchen-Erle.
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Kein Zwerg, nirgends. Datgipptetdochnich, denkt man, und lässt, nachdem man das kleine Eisentörchen durchschritten hat, den Blick noch einmal prüfend über die akkurat geharkten Beete und insbesondere das kleine Rasenstück vor der Laube schweifen. Aber es bleibt dabei: In der Parzelle von Inge Steinkuhl, gelegen im Kleingärtnerverein Gelsenkirchen-Erle e.V., also mitten im Herzen des Ruhrgebiets, schiebt nicht ein einziger Gartenzwerg in seiner Schubkarre das Kleingarten-Klischee vor sich her. Schade eigentlich.

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Aber die Enttäuschung weicht wohliger Entspannung, sobald man auf der Holzbank vor Inge Steinkuhls Laube zu sitzen kommt. Erstens, weil nun immerhin im Nachbargarten ein glückliches Gartenzwergpaar auf einem Baumstumpf ins Sichtfeld gerät. Zweitens, weil die Schrebergärtnerin ein kleines Tischchen anschleppt und darauf die Früchte ihrer Arbeit zum Probieren serviert: Ein Gläschen mit einer roten und eins mit einer durchsichtigen Flüssigkeit.

"Der hier iss fürn Magen", erklärt Inge mit listigem Blick durch ihre Brille und zeigt auf das helle Glas. Der Inhalt wärmt schon, noch bevor er an seinem Ziel ankommt, an diesem sonnigen, aber noch etwas kühlen Maitag vortrefflich das Innere der Reporterin. Herrlich.

"Dat iss mein Wermut." Zehn Tage lang lässt Inge Steinkuhl die gelben Blütenköpfchen mit Schnaps stehen. Ihre schwarzen Johannisbeeren allerdings, die sie ebenfalls mit Hochprozentigem aufgießt, "aber ohne Zucker!", überwintern in der Laube, bis im Mai die Saison eröffnet wird. "Ich sach immer: Dat sind die Vitamine, die man für die Gartenarbeit braucht!"

So ein bisschen Doping kann nicht schaden, wenn frau 82 ist und 365 Quadratmeter Erde bewirtschaften muss. Obwohl: Müssen muss Inge Steinkuhl eigentlich nicht. Es ist ja nicht mehr wie im 19. Jahrhundert, als die Schrebergärten noch "Armengärten" hießen und von wohlmeindenden Fürsten oder Fabrikanten zur Linderung des proletarischen Hungers errichtet wurden. Wie die "Carlsgärten", die der Landgraf Carl von Hessen anno 1806 im norddeutschen Kappeln bauen ließ, und die heute als die erste deutsche Kleingartenanlage gelten. Und auch als 1865 in Leipzig der erste "Schreberplatz" eröffnet wurde, benannt nach dem (zweifelhaften) Pädagogen Moritz Schreber, sollten dort Kinder von FabrikarbeiterInnen unter Aufsicht spielen und in den dazugehörigen Gärten die Sonne tanken, die ihnen in den Arbeiterbaracken der Industrialisierung abhanden gekommen war. Schon kurz darauf übernahmen ihre Eltern die Gärten und bauten dort Gemüse und Obst zwecks Aufbesserung ihrer kargen Mahlzeiten an.

Aber so klein ist Inge Steinkuhls Rente nun auch wieder nicht, dass sie ohne ihre Erbsen, Bohnen, Kohlrabi, ihren Porree, Mangold, Grünkohl, ihre Tomaten, Birnen, Stachelbeeren, und was sonst noch alles in ihrer Parzelle wächst und gedeiht, nicht zurecht käme. Die Sache ist nur die: "Wenn ich den Garten aufgeben müsste, dann wär’n Stück vom Herzen wech."

Von Aufgeben kann aber nicht die Rede sein. Vor zwei Jahren ist Inges Mann Edwin gestorben, nachdem er nach seinem Schlaganfall acht Jahre lang im Rollstuhl gesessen hatte. Seit zehn Jahren beackert die wuselige Rentnerin, die zu ihrer Jeans ein rotes Strick-T-Shirt trägt, ihren Garten also schon allein. Und es gibt eigentlich keinen Grund, warum das nicht so bleiben sollte. Denn so viel Arbeit, sagt Inge Steinkuhl, machten die Beete und Blumen nun auch wieder nicht. "Wenn se jeden Tach hier sind, isset gar nich so schlimm." Zum Beispiel die Kartoffeln. "Die haun se im Frühjahr rein, dann werden se gehäufelt und an Peter und Paul geerntet, also am 29. Juni. Und dann kommt der Grünkohl drauf." Fertig.

In einem "Top-Zustand" sei ihr Garten, hatte Theo Ilgart, seines Zeichens Vereinsvorsitzender des Kleingärtnervereins Gelsenkirchen-Erle, schon am Telefon geschwärmt. Auf die skeptische Frage, ob es in seiner Anlage denn auch Schrebergärtnerinnen gäbe, schließlich sei der prototypische Laubenpieper ja seit Jahrhunderten ein Mann, hatte er keine Sekunde überlegen müssen. "Doch", hatte er gesagt, "dat gipptet auch!"

"Dat", also die Kleingärtnerin, scheint allerdings immer noch ein Phänomen, das nicht allzu häufig anzutreffen ist. Zwar verzeichnen die Erler Kleingärtner bei ihren 221 Mitgliedern 78 so genannte "Ehegattenmitglieder", sprich: Frauen. Aber Gärtnerinnen, die ihr Gemüse ohne männlichen Beistand züchten, davon gibt es in den 129 Parzellen hier nur fünf oder sechs. "Ich rate Frauen davon ab", sagt Ilgart. Und das, obwohl gerade Frauen mit ihren Kleingärten schon immer ganze Kinderscharen versorgt hatten? Zum Beispiel im Ersten Weltkrieg, als es zu den wichtigsten Forderungen des 1915 gegründeten Deutschen Hausfrauenbundes gehörte, den Frauen billiges Pachtland zur Verfügung zu stellen, damit sie ihre hungrigen Mäuler mit selbstgezogenen Karotten und Kartoffeln stopfen konnten.

Na ja, ganz so machomäßig, wie sich Theo Ilgarts kategorischer Imperativ auf den ersten Blick anhört, meint es der schnauzbärtige Frührentner dann doch nicht. Der Vorsitzende bewertet nur die weiblichen Lebensumstände realistisch. Zum Beispiel die alleinerziehende Krankenschwester, die sie bis vor kurzem hatten, die hat es irgendwann einfach nicht mehr gepackt. Kinder plus Job, in dem sie ihr eine Vollzeitstelle aufs Auge gedrückt haben, obwohl sie nur Teilzeit arbeiten wollte. Und der Vater, der ihr eigentlich helfen wollte im Garten, der wurde krank und kam nicht. "Verwandte kommen nur, wenn Ernte iss", wirft Inge Steinkuhl ein.

Für ihre Tochter gilt das allerdings nicht. Die reist einmal die Woche aus Düsseldorf an und hilft. Schließlich ist sie praktisch groß geworden in diesem Stückchen Grün im Ruhrgebiet, das 1965, als die Steinkuhls den Garten pachteten, noch schmutzig-schwarz war. Das Kind sollte nicht nur innerhalb der vier Betonwände an Erles Hauptverkehrsstraße groß werden, beschlossen Inge und Edwin damals. Sie beide waren in Arbeitersiedlungen aufgewachsen, zu denen selbstverständlich ein Nutzgarten gehörte. Als sie bei einem samstäglichen Spaziergang durch die Erler Anlage dann das Schild "Zu verpachten" entdeckten, ergriffen sie die Gelegenheit beim Schopf.

Als erstes bauten sie die Laube. Zwar oblag die Bauleitung Edwin Steinkuhl, seines Zeichens gelernter Maurer, aber auch Tochter Ingrid eierte mit ihrer Schubkarre voller Steine über die Wiese. Und Ehefrau Inge, die nach dem Krieg das Lyzeum abbrechen musste und bis zur Geburt der Tochter als Näherin gearbeitet hatte, packte ebenfalls mit an. "Den Stahlträger da, den hab ich mit hochgewuchtet", sagt sie stolz. Mit Recht. 44 Jahre später steht das Häuschen immer noch stabil und beherbergt in seinen 24 Quadratmetern – größer darf die "Laube in einfacher Ausführung" laut Bundeskleingartengesetz nicht sein, inklusive "überdachtem Freisitz" – alles, was man zum Übersommern braucht: Eckbänke, unter deren hochklappbaren Sitzflächen die Hausherrin einen ganzen Hausstand lagert; eine winzige Puppenküche, in der sie ihre Ernte gleich zu Marmelade, Schnaps oder ihrem Abendessen verarbeitet; ein Gasöfchen auf dem Boden, einen geblümten Kittel an der Garderobe und eine ausgestopfte Tier-Armada von Elster bis Eichhörnchen an der Wand. Nicht zu vergessen die Stahl-Plakette für den "Gartenfreund Edwin Steinkuhl für besondere Verdienste um den Kleingärtner-Verein Erle e.V." Verdient gemacht hat sich der Handwerker, indem er an den Hütten seiner Kollegen werkelte. "Der kannte hier praktisch jede Laube", erklärt seine Frau. Man ahnt, welche Arbeiten sie verrichtete, während ihr Mann in der Anlage unterwegs war.

Die Arbeitsteilung im Erler Kleingarten-Universum ist keineswegs untypisch, wie die Tagung "Frauen im Ehrenamt" zeigt, die das Bundesfrauenministerium im November 2001 gemeinsam mit dem Bundesverband Deutscher Gartenfreunde veranstaltet hatte: Tagungsleiterin Marion Bredebusch: "Nach meiner Beobachtung machen Männer die handwerklichen Tätigkeiten an der Hütte im Kleingarten, mähen ab und zu den Rasen und genießen ansonsten die Zeit dort, indem sie sich sonnen, die Nachbarn besuchen und gemeinsam einen trinken. Sie kommen ja schließlich von der Arbeit und müssen sich erholen. Die Frauen hingegen halten den Garten in Ordnung, vernichten das Unkraut, ernten die Früchte, das Gemüse und verarbeiten es weiter."

So in etwa hat es sich wohl auch bei den Steinkuhls zugetragen. Nur, dass Edwin bisweilen auch zum Spaten griff. Denn: "Umgraben iss schwer. Dat iss an und für sich ne Männerarbeit."
Etwa 50 Meter weiter, im Garten von Ehepaar Sajons, gibt es schon seit elf Jahren keine "Männerarbeiten" mehr. Dabei hatten Inge und Wolfgang Sajons die Parzelle vor 19 Jahren eigentlich gepachtet, um "vorzusorgen". Um ein bisschen Zuwachs zur kleinen Rente dazuzuzüchten? "Neinnein", erklärt Ehefrau Inge: "Dat mein Mann wat zu tun hat, wenn er in Rente geht!" Daraus wurde leider nichts. Mit 60 traf auch Wolfgang Sajons ein Schlaganfall, sein rechter Arm liegt schlaff auf seinem Schoß und ist zum Umgraben nicht mehr zu gebrauchen. Zu tun hat jetzt Inge.

Seit elf Jahren hat die 66-Jährige sämtliche Jobs übernommen, die hier an und für sich Männersache sind, und hat damit allen getrotzt, die ihr Versagen prophezeit hatten. Zum Beispiel ihrer Tochter. "Mutti, gib den Garten ab. Dat schaffst du nich!" hatte die geraten. Von wegen! Auch diese Parzelle ist heute laut Theo Ilgart "ein Top-Garten". Das stellte kürzlich auch ein Bekannter auf seinem Spaziergang durch die Anlage fest, der beim Betrachten des Gartens zu der Schlussfolgerung kam: "Die Sajons können den Garten nich mehr haben, der sieht so gepfleecht aus." Damit hätte er sich beinahe den Zorn von Gärtnerin Inge zugezogen, wenn die nicht so eine Frohnatur wäre und daher eher stolz als sauer war. "Da hat der mich aber gewaltich unterschätzt", sagt sie. "Et klappt doch!"

18 Kilometer nordöstlich, in der Nachbarstadt Herne, zeigt eine weitere Hobbygärtnerin stolz ihr Beet. "Also, das hier ist Gelbfelberich, hier stehen die Herbstastern und das hier ist Hartriegel", doziert Jessica. Seit sechs Jahren beharkt und bepflanzt sie die vier Quadratmeter zwischen grauen Natursteinen allein. Jessica ist zehn. Bereits im zarten Alter von vier Jahren verweigerte das Mädchen den Sandkasten, der vormals an dieser Stelle stand und erklärte: "Mama, ich will ein Beet haben!" Jessica bekam ein Beet. Seither bewirtschaftet sie es, kauft Tulpenzwiebeln und Samen von ihrem Taschengeld.

Jessicas Beet liegt mitten im Paradies. Will heißen: in der "Ökologischen Dauerkleingartenanlage Kraut & Rüben", dem einzigen Schrebergarten Deutschlands, der ganz nach ökologischen Richtlinien funktioniert: Keine Zäune, sondern Natursteinmauern, Hecken oder geflochtene Weidenruten. Keine Pestizide, sondern Ackerschachtelhalmbrühe oder Brennesselsud. Und schon wieder keine Gartenzwerge. Obwohl die im Prinzip erlaubt sind, genau wie die sieben Ziegen und Schafe, die vor ihrem Stall mit Rasendach vor sich hin mümmeln. In normalen Kleingartenanlagen ist die Stalltierhaltung inzwischen verboten. Zu viel Dreck und Gestank.

Jessicas Vater Mario, Elektriker im Bergbau, ist der Tierwart; Mutter Iris macht die so genannte Fachberatung: Welches natürliche Mittel hilft gegen welchen Schädling? Wie kann man die Pflanzen stärken? Wann muss der befallene Baum letztlich doch gefällt werden?

Die Gartensiedlung "Kraut & Rüben", die schon eine ganze Reihe Preise abgeräumt hat, ist genauso alt wie Jessica, die folglich schon als Baby "immer in der Erde am rumwühlen war", wie Iris Fliedner zu berichten weiß. Seither ist das Mädchen Tag für Tag im Garten und macht die Arbeiten, die die Jahreszeiten so mit sich bringen: "Im Frühling erstmal die verblühten Blumen abschneiden. Dann zupf ich Gras, und wenn ich dann geharkt hab, kann ich wieder einsäen." Im Sommer: "viel gießen". Im Herbst "die Blätter rausrechen und die Tonkübel ins Gewächshaus stellen". Und im Winter? "Da kriegen wir alle die Krise."

Freundin Dana kommt vorbei und will Jessica zum Fahrradfahren abholen. Sie hat auch ein eigenes Beet, aber die beiden Mädchen sind damit "eine Ausnahme". "Die älteren Kinder interessieren sich nur noch für ihre Klamotten und machen einen auf Schickimicki", mault Jessica. Auch in der Schule wird sie schräg angeguckt. "Sie wird von den anderen Kindern regelrecht gemobbt", klagt Mutter Iris. Sie selbst werde auch schon mal als "Öko-Schlampe" tituliert. Auch die Lehrer seien da keine große Hilfe.

"Die aus meiner Klasse sagen, mein Garten wäre blöd, obwohl sie noch nie hier waren", erzählt Tochter Jessica. "Und meine Tiere wären auch doof. Nur weil ich mit denen rede!" Ihre Tiere, das sind die Schnecken, Molche und Kellerasseln, die sie findet, wenn sie die Steine rund um ihr Beet mit dem Spaten anhebt, damit sie nicht zu tief in die Erde absacken. Nur die "riesige Raupe mit dem schwarzen Panzer", die kürzlich unter einem Stein auftauchte, "die fand ich ein bisschen ekelig".

So. Hat sie ihr Beet jetzt genug erklärt? Jessica will nämlich mit Dana zum Feuchtbiotop. Zu den Enten, den Wildgänsen und dem Reiher. "Der ist cool", sagt die Zehnjährige.

So in etwa würde es auch die 72 Jahre ältere Inge Steinkuhl formulieren, wenn es um die Frage geht, was denn so ans Herz geht beim Gärtnern. "Hier sehnset wachsen und hören die Vögel – dat isset."

www.oekokleingarten.de

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Dossier Frauen & Gärten (4/09)

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