Von Istanbul bis Bosnien

Im Istanbuler Stadtteil Tarlabasi wird der Alltag von einem gigantischen Bauprojekt Erdogans plattgemacht.
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Es ist, als wäre ein geliebter Mensch, den man sein ganzes Leben kannte, gestorben“, sagt der schwarzhaarige Mann mit dem hippen Kinnbart und blickt aufs Wasser. Es ist dieses Wasser, um das er trauert, oder vielmehr diese Küste. Denn die ist einem der gigantomanischen Bauprojekte von Präsident Erdogan zum Opfer gefallen: 542 Kilometer Schwarzmeerküste wurden zur Autobahn, zahlreiche Orte vom Meer abgeschnitten, Strände zerstört. „Son Kumsal“ (Die Küste) hat ­Regisseurin Ruya Koksal ihren Dokumentarfilm über das Bauprojekt genannt, das auch ein Symbol ist.

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„Wir haben nach Filmen türkischer Regisseurinnen gesucht, die zeigen, dass sich die Proteste im Gezi-Park schon lange angebahnt hatten“, erklärt Betty Schiel, Kuratorin des Türkei-Schwerpunktes des diesjährigen Internationalen Frauenfilmfestivals. Und da seien sie immer wieder auf das Thema Bauen gestoßen. „Das ist auch kein Wunder, denn die Baubranche gilt als besonders korrupt. Beim jüngsten Skandal um die türkischen Ministersöhne ging es auch um deren Verwicklung in Bauprojekte.“ 

Die Türkei ist
ein Schwerpunkt
des Festivals

So zeigt das Festival auch das Spielfilm­debüt „10 vor 11“ von Pelin Esmer, die darin die Geschichte ihres verschrobenen Onkels erzählt. Der lebt mit zahllosen Sammlungen, die er „Dinghaufen“ nennt, in seiner Istanbuler Wohnung – und in der Vergangenheit. Die Zukunft ist bedrohlich: Das Haus soll abgerissen werden und einem „modernen“ Gebäude weichen. Schiel: „Auch hier geht es wieder um den Bauboom und die damit verbundene Korruption.“

Die Dortmunderin ist im Spätherbst 2013 nach Istanbul gereist und hat sich, mit Unterstützung der Frauenfilmfestivals in Istanbul und Ankara, auf die Suche nach Regisseurinnen gemacht. Denn es gibt sie. „Und es werden immer mehr: In der Türkei laufen jedes Jahr zwei, drei große Spielfilme von Regisseurinnen.“ So habe zum Beispiel im letzten Jahr der Film „Köksüz“ (Kein Zuhause) von Deniz Akcay über eine Familie nach dem Tod des Vaters „richtig abgeräumt“, sagt Betty Schiel. „Das ist das zweite große Thema der türkischen Filmemacherinnen: Die Familien – und wie sie sich verändern.“

Versteht sich, dass auch die Proteste gegen Erdogan und seine reaktionär-islamistische Politik Thema auf dem Festival sind. „Die Frauen, die ich in Istanbul getroffen habe, waren bei den Protesten alle dabei“, sagt Betty Schiel. „Und viele sind bis in die Knochen schockiert und regelrecht traumatisiert von der Polizeigewalt, die sie da erlebt haben.“ Für Filme über die Aufstände selbst sei es allerdings noch zu früh. Dafür haben die Festival-Macherinnen Frauen eingeladen, die andere, schnellere mediale Ausdrucksformen gefunden haben. Zum Beispiel die Femi­nistin Güliz Saglam, Mitgründerin des Videoblogs „Videoccupy“, oder die Fotografin Sedef Özge, die auf dem Festival ihre Ausstellung über den Istanbuler Stadtteil Tarlabasi am Taksim-Platz zeigt. 

Und dann ist da noch ein Schwerpunkt im Schwerpunkt: „Heymat“. Hier kommen die Deutsch-Türkinnen zu Wort, die sich mit ihrem Verhältnis zu Deutschland befassen. Zum Beispiel Aysun Bademsoy, die 1969 als Neun­jährige nach Berlin kam. 1995 drehte sie ihren ersten Dokumentarfilm: „Mädchen am Ball“. Sie begleitete fünf türkische Mädchen, die in einer Berliner Fußballmannschaft gegen traditionelle Rollenmuster anspielten und verfolgte ihren ­Lebensweg in zwei folgenden Filmen. Aysun Bademsoy, die mit Regisseur Christian Petzold verheiratet ist, hat die Heymatfilme für das Festival zusammengestellt. Von ihr selbst wird „Am Rande der Städte“ laufen, eine Dokumentation über türkische HeimkehrerInnen, die sich am Stadtrand von Istanbul niederlassen und nach den Jahrzehnten in Deutschland tatsächlich Außenseiter bleiben. 

Mit dabei: der
neue Film von
Jasmila Zbanic

Unter den rund 80 Kurz-, Spiel- und Dokumentarfilmen, die das Festival vom 8. bis 13. April in Köln zeigt, sind außerdem so unterschiedliche Filme wie „Exposed“ über acht Burlesque-PerformerInnen aus den USA, ein Film-Porträt über die österreichische Malerin Mara Mattuschka oder der neue Spielfilm der bosnischen Regisseurin Jasmila Zbanic. 

Zbanic hatte 2006 den Goldenen Bären für ihren Film „Esmas Geheimnis“ gewonnen. Er erzählt das Trauma der Kriegs­vergewaltigungen am Beispiel einer Mutter-Tochter-Geschichte. In ihrem Folgefilm „Zwischen uns das Paradies“ schaute die Regisseurin dann auf die kriegstraumatisierten Männer und deren Flucht in das Heilsversprechen Islamismus. Ihr aktueller Film „For Those Who Can Tell No Tales“ (Für diejenigen, die keine Geschichten erzählen können) erzählt vom Schweigen, das 20 Jahre nach Kriegsende immer noch – oder schon wieder – über dem Grauen liegt. Die australische Touristin Kym steigt im bosnischen Visegrad im Hotel Vilnia Vlas ab – zunächst nicht ahnend, dass dort während des Krieges Frauen und Mädchen festgehalten und vergewaltigt wurden. Kym begibt sich auf die Spuren der Vergangenheit und versucht, über das zu sprechen, was hier alle vergessen wollen. Jasmila Zbanic wurde für „ihren beharrlichen Kampf gegen das Vergessen des Balkankrieges und für Versöhnung“ gerade mit dem mit 75000 Euro dotierten Kairos-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung ausgezeichnet. Sie wird auf dem Festival zu Gast sein.

Wie stellen Frauen in ihren Filmen (Sexual)Gewalt dar? Mit dieser Frage wird sich ein Workshop beschäftigen, denn „uns ist aufgefallen, dass die Gewaltdarstellung in Filmen von weiblichen Regisseuren immer drastischer wird“, erklärt Stefanie Görtz vom Frauenfilmfestival. „Das ist eine Gratwanderung, denn einerseits ist es notwendig, Gewalt gegen Frauen und Mädchen sichtbar zu machen. Andererseits sollten die Zuschauerinnen nicht in die Opferrolle geraten und eingeschüchtert werden.“  

Anhand des Films „Die Festung“ über eine Familie unter der Tyrannei des prügelnden Ehemannes können die Teilnehmerinnen mit Regisseurin Kirsi Liimatainen und Luise Reddemann, Grande Dame der feministischen Traumatologie, über das Thema Gewaltdarstellung im Film diskutieren. Ein Mann, Michael ­Haneke, hat in einem seiner Filme, „Das weiße Band“, meisterhaft gezeigt, wie man Gewalt mitteilen kann, ohne sie zu wiederholen.

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