Frauenherzen schlagen anders

Prof. Gebhard: "Schwierig zu diagnostizierende Krankheiten werden bei Frauen schneller der Psyche zugeschrieben."
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Ihre Forschung ist für sie mehr als eine Herzensangelegenheit. Prof. Cathérine Gebhard ist Leitende Ärztin an der Klinik für Kardiologie des Universitätsspitals Bern und leitet zudem eine Forschungsgruppe an der Universität Zürich. Die Kardiologin gehört zur Weltspitze. Ihr Schwerpunkt: altersbedingte Veränderungen des weiblichen Herzens. Aber Cathérine Gebhard gehört auch zu den führenden WissenschaftlerInnen auf dem Gebiet der Gendermedizin.

Frau Prof. Gebhard, wie sind Sie auf die Gendermedizin gekommen?
Als ich noch Assistenzärztin war, ist mir aufgefallen, dass die Herzen von älteren Frauen kleiner sind und stärker pumpen. Dies war der Start für meine Forschung. Wir haben die unterschiedliche Entwicklung von Männer- und Frauenherzen im Alter dann systematisch untersucht und wissen, dass Frauenherzen im Alter kleiner werden und diejenigen der Männer größer. Die Gründe hierfür sind Gegenstand unserer aktuellen Forschungsprojekte. Diese Unterschiede zwischen Männer- und Frauenherzen beeinflussen natürlich die Entstehung und Therapie von Herzkrankheiten. Im klinischen Alltag wird dieser Umstand jedoch bisher noch kaum berücksichtigt. Bei Frauen kommt es darum öfter zu diagnostischen Ungenauigkeiten, Erkrankungen werden oftmals später erkannt als bei Männern. Diese kleinen Unterschiede haben große Folgen!

Die Gendermedizin nimmt seit den 1990er Jahren neben dem biologischen Geschlecht auch das soziale Geschlecht, die Geschlechterrolle ins Visier. Wie ist der Stand der Dinge heute?
Dank Vorreiterinnen aus der Kardiologie wie der US-Amerikanerin Marianne Legato, Vera Regitz-Zagrosek von der Berliner Charité und der Kanadierin Luise Pilote können wir soziokulturelle Geschlechtsunterschiede quantifizieren und in die Forschung miteinbinden. Erziehung, Kultur, Rollenzuschreibungen, Tradition und Lebensstil – all das hat einen starken Einfluss auf die Gesundheit und ist oft nur schwer vom biologischen Geschlecht zu trennen. Das Bewusstsein dafür ist durchaus da.

Aber?
Wir führen noch immer ein Nischendasein – obwohl das Interesse absolut vorhanden ist. In Zürich wurde gerade der erste Lehrstuhl für Gendermedizin in der Schweiz ausgeschrieben, auch wird im Parlament und in Ethikkommissionen über Gendermedizin diskutiert. Förderinstitutionen beginnen sich zu interessieren, die Politik springt auf. Das Problem ist: Es tut sich nichts im klinischen Alltag!

Wie kann das sein?
Dafür muss sich sehr viel ändern. Es sind Frauen, die die Gendermedizin zu ihrem Thema machen und vorantreiben. Dazu müssen sie aber Führungspositionen innehaben. Und da sind Frauen in Deutschland, Österreich und der Schweiz noch nicht angekommen. Männer sitzen an den großen Schalthebeln, sie schreiben Leitlinien, sprechen auf Konferenzen. Wir Ärztinnen sprechen in Bezug auf Forschungskonferenzen gerne von „Manels“, also Panels, die nur aus Männern bestehen. In der Pandemie zum Beispiel haben wir Long Covid mit Blick auf das Geschlecht untersucht. Und siehe da, es gibt signifikante Unterschiede. Frauen sind erheblich stärker betroffen. Der Einfluss des Geschlechts auf den Krankheitsverlauf wurde für eine breite Öffentlichkeit sichtbar. Und was ist daraus gefolgt? So gut wie nichts. Obwohl das Interesse der Wissenschaft da ist, wird das Thema im Klinikalltag nicht berücksichtigt.

Können Sie Beispiele nennen?
Fangen wir ganz einfach mit den Medikamenten an. Fast die Hälfte der 668 gebräuchlichsten Medikamente zeigt bezüglich Nebenwirkungen geschlechtsspezifische Unterschiede. Die wichtigsten Parameter sind Körpergröße, Gewicht und Nierenfunktion. Bei Kindern und in der Anästhesie wird dies sehr gut berücksichtigt, in anderen Fächern jedoch deutlich weniger. Medikamente werden sehr oft überwiegend an Männern getestet. Frauen sind bei Medikamentenstudien stark unterrepräsentiert. Bei Herz-Kreislaufstudien machen Frauen nur etwa 15 bis 20 Prozent der Studienpopulation aus. Zum Beispiel hat eine Studie gezeigt, dass Frauen mit Herzschwäche am besten von Medikamenten profitieren, wenn sie nur 40 bis 60 Prozent der empfohlenen Dosis nehmen. Das ist aber weder in Kliniken noch in der Pharma-Industrie ein Thema. Auch haben Frauen doppelt so häufig mit den Nebenwirkungen zu kämpfen. Dies wurde schon 1998 publiziert! Getan hat sich in der Medikamentierung von Frauen seitdem nichts.

Welche Beispiele gibt es noch?
Frauen haben zum Beispiel ein geringeres Plasma-Volumen. Medikamente, die im Blut zirkulieren, erreichen schneller einen Peak. Das kann zu Komplikationen führen. Frauen haben auch mehr Fettgewebe, Medikamente lagern sich dort stärker ab als bei Männern, können Organe dauerhaft schädigen. Eine Frauen-Niere filtert pro Minute weniger Blutvolumen, arbeitet also langsamer als eine Männer-Niere. Auch gibt es Geschlechterunterschiede bei den Leber-Enzymen. Das alles wird etwa bei Herzmedikamenten kaum berücksichtigt und führt für Frauen letzten Endes zu einer höheren Nebenwirkungsrate.

Die Forschung ignoriert also die Frauen?
Absolut! Obwohl die Gelder da sind. Kürzlich wurde in der angesehenen medizinischen Zeitschrift New England Journal of Medicine die Dancavas-Studie publiziert, eine der weltweit größten Herzstudien, in der es dezidiert um die Prävention von Herzkreislauf-Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung geht. Aber: Alle Studien-Teilnehmer waren Männer. Was sollen wir denn bitte mit solchen Daten anfangen? Nur die Hälfte der Bevölkerung behandeln? Frauen werden älter, sie erkranken später und anders am Herzen, aber die Daten dazu, die werden einfach nicht erhoben.

Auch Schmerzmittel sind in Verruf geraten, wie sieht es da aus?
Frauen sind häufiger als Männer von chronisch schmerzhaften Erkrankungen betroffen, trotzdem gibt es kaum geschlechtsspezifische Studien. Wenn Männer gleich häufig wie Frauen Migräne hätten, wäre diese Krankheit wesentlich besser erforscht. Die Grundlagenforschung und auch die klinische Forschung ignoriert diese Geschlechterunterschiede beim Schmerz, obwohl man weiß, dass Östrogen auf die Nervenzellen wirkt. Hinzu kommt, dass die Schwelle, Frauen Schmerzmittel zu verschreiben unter ÄrztInnen sehr viel niedriger ist als bei Männern. Und Frauen nehmen sie auch schneller. Sie wollen oder müssen funktionieren. Daher ist das Risiko, medikamentenabhängig zu werden, bei Frauen deutlich höher als bei Männern.

Kranke Frauen wurden früher in die hysterische Ecke gestellt. Passiert das heute auch noch?
Es ist auf jeden Fall immer noch so, dass schwierig zu diagnostizierende Krankheiten bei Frauen schneller der Psyche zugeschrieben werden als bei Männern. Nehmen wir als Beispiel das Herz. Frauen leiden deutlich häufiger als Männer an Erkrankungen der sehr kleinen Herzkranzgefäße, die man aber mit den Standard-Untersuchungen nicht sieht. Hierfür braucht es Spezialuntersuchungen. Also heißt es dann leider oft: Da ist nichts zu sehen, das muss die Psyche sein.

Was muss in der Frauengesundheit noch passieren?
Frauen müssen dafür sensibilisiert werden, dass es Geschlechterunterschiede in der Medizin gibt, zum Beispiel beim Herzinfarkt. In der klinischen Forschung müssen die Geschlechter zwingend entsprechend der Krankheitshäufigkeit vertreten sein. Da über 50 Prozent der HerzkreislaufpatientInnen weiblich sind, müssen die Studien auch 50 Prozent Frauen beinhalten und nicht nur 15 Prozent. Geschlechtsspezifische Forschung wird zunehmend durch Fördermittel unterstützt, doch das nützt eben nichts, wenn Frauen in den Studien dermaßen unterrepräsentiert sind.

Frau fühlt sich als Patient zweiter Klasse. Was raten Sie Frauen für die eigene Gesundheit?
Frauen sollten ihr eigenes Risiko kennen. Natürlich wäre es die Aufgabe der Medizin und der Politik, für diese Sensibilisierung zu sorgen, etwa Kampagnen zu fahren. Doch das ist aktuell nicht der Fall, die Verantwortung tragen die Frauen selbst. Sie sollten ihre Risikofaktoren kennen, zum Beispiel für einen Herzinfarkt, ihre Krankengeschichte wissen, Komplikationen, die es mal gab, präsent haben. Ich kann nur raten, in gutem Dialog mit guten HausärztInnen und GynäkologInnen zu stehen. Dort passiert die Prävention von Erkrankungen. Und: Frauen sollten Medikamente hinterfragen! Geht es mir damit wirklich besser? Oder geht es mir sogar schlechter? Schlägt meine Therapie wirklich an? Welche Nebenwirkungen habe ich? Wie sehr beeinträchtigen sie mich? Etwas blind zu befolgen, kann fatale Folgen haben. Es geht um Mündigkeit und Eigenverantwortung.

Ist es denn medizinisch gesehen auch mal ein Vorteil, eine Frau zu sein?
Natürlich. Mal abgesehen von den soziokulturellen Gründen – Frauen ernähren sich besser, trinken weniger Alkohol, gehen häufiger zu Vorsorge-Untersuchungen – gibt es durchaus biologische Vorteile. Frauen haben ein stärkeres Immunsystem. Männer erkranken häufiger an Krebs, der nicht die Reproduktionsorgane betrifft, hierunter auch der bösartige Hirntumor, das Glioblastom. Auch liegen auf dem weiblichen X-Chromosom viele schützende Gene. Und das weibliche Hormon Östrogen hat einen schützenden Effekt auf die Gefäße. In der Menopause, wenn das Östrogen abfällt, ändert sich das dann.

Letzten Endes geht es um Ganzheitlichkeit, oder?
Genau. Nicht nur rein biologische Krankheitsursachen zu berücksichtigen, sondern auch soziokulturelle, macht natürlich alles komplexer. Aber wir leben im Zeitalter der personalisierten Medizin, wo wir Therapien auf einzelne Gene zuschneiden, da sollte es doch möglich sein, eine angemessene Medizin für die Hälfte der Bevölkerung anzubieten!

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