Geschichten für Rebellinnen

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Artemisia Gentileschi
MALERIN, ITALIEN (1593 – 1653)

Es war einmal ein Mädchen, das eine großartige Malerin war. Sie war schön und stark, und ihr Name war Artemisia. Schon ihr Vater, Orazio, war Maler. Artemisia erhielt von klein auf Unterricht in seinem Atelier. Im Alter von 17 Jahren hatte Artemisia bereits mehrere Meisterwerke gemalt. Trotzdem waren viele Menschen misstrauisch. „Wie ist es möglich, dass sie so gut malt?“, flüsterten sie einander zu. Zu jener Zeit war es den meisten Frauen nicht einmal gestattet, Ateliers berühmter Künstler auch nur zu betreten. Eines Tages bat der Vater einen Freund, den berühmten Maler Agostino Tassi, Artemisia die perspektivische Darstellung zu lehren, also die Kunst, dreidimensionale Gegenstände auf einer zweidimensionalen Fläche abzubilden. Agostino wollte seine Schülerin jedoch zu seiner Geliebten machen und versprach, sie zu heiraten. Artemisia aber weigerte sich. Als er sie immer stärker ­bedrängte, erzählte Artemisia ihrem Vater davon. Orazio glaubte ihr und brachte Agostino vor Gericht, obwohl der ein mächtiger Mann und gefährlicher Gegner war. Während der Verhandlung bestritt Agostino alle Vorwürfe. Artemisia ­wurde stark unter Druck gesetzt, blieb aber bei ihrer Darstellung. Schließlich wurde Agostino für schuldig befunden. Artemisia zählt heute zu
den größten Malern aller Zeiten.

Ashley Fiolek
MOTOCROSSFAHRERIN, USA (*1990)

Als ein kleines Mädchen namens Ashley einmal in der Küche spielte, fielen mit gewaltigem Getöse Töpfe und Pfannen zu Boden. Doch Ash­ley drehte sich nicht einmal um. Daraufhin ließen ihre Eltern ihr Gehör untersuchen. Es zeigte sich, dass Ashley taub war. Die Familie lernte die Zeichensprache, und Ashley besuchte eine Schule für taube Kinder, um von anderen zu lernen und Selbstvertrauen zu gewinnen. Ashleys Vater und auch ihr Großvater waren begeisterte Motorradfahrer, und so bekam Ashley schon mit drei Jahren ihr erstes kleines Motorrad. Zu dritt fuhren sie auf ihren Maschinen durch die Wälder. Ashley liebte diese Ausflüge, und irgendwann träumte sie davon, Motocross-Racerin zu werden. Von vielen Seiten hieß es, das sei völlig ausgeschlossen. „Um Motocross zu fahren, muss man hören können. Der Klang des Motors sagt dir, wann du schalten musst. Außerdem musst du hören, wo die anderen Fahrer gerade sind.“ Doch Ashley spürte die Vibrationen ihrer Maschine, und so wusste sie, wann sie schalten musste. Aus den Augenwinkeln nahm sie die Schatten der Konkurrenten wahr und konnte einschätzen, wie nah die anderen ihr waren. In nur fünf ­Jahren gewann sie vier nationale Wettbewerbe. Viele Male stürzte sie. Sie brach sich den linken Arm, das rechte Handgelenk, den rechten Fußknöchel, dreimal das Schlüsselbein und schlug sich zwei Schneidezähne aus, doch sie erholte sich ­jedes Mal und stieg wieder auf ihre Maschine. In Ashleys Einfahrt steht ein großer Pick-up. „Hupt, so viel ihr wollt“, heißt es auf einem Aufkleber am Heck. „Ich bin taub.“

Astrid Lindgren
SCHRIFTSTELLERIN, SCHWEDEN (1907 – 2002)

Es war einmal ein kleines Mädchen, das lebte mit seiner großen Familie auf einem Bauernhof in Schweden. Den ganzen Tag lang durfte sie mit ihren Geschwistern draußen  herumtoben, doch sie half auch, die Tiere zu hüten. Und zwar nicht nur Hühner und Enten, sondern auch große Tiere wie Kühe und Pferde. Das Mädchen hieß ­Astrid, und sie war ziemlich rebellisch. Sie war stark und mutig und hatte keine Angst, wenn sie allein war. Sie konnte auch sehr viele Dinge: Sie konnte Putzen, Kochen, Fahrräder reparieren, auf Dächern balancieren, sich gegen Jungen zur Wehr setzen, die sie einschüchtern wollten – und sie konnte sich fantastische Geschichten ausdenken. Kommt dir das bekannt vor? Falls du Bücher über ein anderes Mädchen kennst, das ebenso stark, mutig und unerschrocken war und Pippi Langstrumpf hieß, wird es dich nicht wundern, dass Astrid die Verfasserin dieser Bücher ist. Als Pippi Langstrumpf erstmals erschien, waren viele Erwachsene schockiert. „Pippi ist viel zu rebellisch“, hieß es. „Unsere Kinder werden glauben, sie müssten Erwachsenen nicht mehr gehorchen.“ Doch Kinder liebten die Bücher, denn Pippi sagt nie ohne Grund Nein: Sie zeigt ihren Leserinnen, wie wichtig es ist, selbstständig zu denken, dabei aber immer auch auf andere Rücksicht zu nehmen. Heute zählt Pippi Lang­strumpf zu den beliebtesten Kinderbüchern überhaupt. Astrid schrieb noch viele andere Bücher, und alle handelten von starken Kindern, die aus eigener Kraft Abenteuer bestanden. Wann immer du also Ärger bekommst, weil du irgendetwas angestellt hast, greif zu Pippi Langstrumpf – sie wird dir ganz sicher helfen!

Hypatia von Alexandria
MATHEMATIKERIN UND PHILOSOPHIN,
ÄGYPTEN (ca. 370 – 415)

Vor langer, langer Zeit gab es in Alexandria, einer Stadt im alten Ägypten, die größte Bibliothek jener Zeit weltweit. Damals kannte man noch keine Bücher und kein Papier. Man schrieb auf Papyrus (das aus Pflanzen gewonnen und nicht flach gebunden, sondern aufgerollt wurde). In der Bibliothek von Alexandria gab es Tausende solcher Schriftrollen, alle von eigens dazu ausgebildeten Schreibern beschriftet und auf Regalen geordnet. Dort sah man auch oft einen Mann und seine Tochter, Theon und Hypatia, die Seite an Seite Schriftrollen studierten, insbesondere solche über Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften. Hypatia löste Gleichungen, entwickelte neue Theorien zu Geometrie und Arithmetik und hielt ihre Erkenntnisse auf zahlreichen Schrift­rollen fest. Sie baute auch ein astronomisches Instrument, das Astro­labium, mit dem sie jederzeit den Stand von Sonne, Mond und Sternen bestimmen konnte. Hypatia lehrte öffentlich Astronomie. Ihre Vorlesungen waren äußerst beliebt; Studierende, aber auch andere Wissenschaftler kamen in großer Zahl, um sie zu ­hören. Sie weigerte sich, die übliche Frauenkleidung zu tragen, stattdessen legte sie den „Philosophenmantel“ der Gelehrten um. Als die Bibliothek von Alexandria abbrannte, wurden alle ihre Werke zerstört. Was über diese geniale Frau und ihre brillanten Ideen bis heute bekannt ist, weiß man aus Schriften ihrer Schüler.

Irena Sendler
WIDERSTANDSKÄMPFERIN, POLEN (1910 – 2008)

In Polen lebte einmal ein kleines Mädchen, das hatte seinen Vater sehr lieb. Eines Tages brach in Warschau eine schreckliche Typhus­epidemie aus. Irenas Vater war Arzt und sehr mutig. Er hätte sich von seinen kranken Patienten fernhalten können, um sich selbst zu schützen, doch stattdessen betreute er sie so lange, bis er selbst erkrankte. Vor seinem Tod erklärte er seiner Tochter: „Irena, wenn man einen Menschen sieht, der ertrinkt, muss man hinterherspringen und versuchen, ihn zu retten.“ Irena vergaß seine Worte nie, und als die Nazis anfingen, Juden auch in Polen zu verfolgen, half sie, Kinder aus jüdischen Familien zu retten. Sie gab ihnen christ­liche Namen und fand christliche Familien, bei denen die Kinder in Sicherheit waren. Die richtigen Namen und die neuen notierte sie auf kleinen Zetteln und versteckte sie in Marmeladengläsern, die sie im Garten von Freunden unter einem großen Baum vergrub. Manchmal weinten die Kinder, wenn Irena sie von den Eltern wegbrachte. Um das Weinen zu über­tönen und die deutschen Soldaten abzulenken, brachte sie ihrem Hund bei, auf Kommando zu bellen. Sie versteckte Kinder in Säcken, in Taschen voller Kleidung, in Kisten und sogar in Särgen. Zusammen mit anderen rettete sie so innerhalb weniger Monate zweieinhalbtausend Kinder. Nach dem Krieg grub sie die Marmeladengläser wieder aus und konnte so viele Kinder ­wieder mit ihren Familien zusammenführen.

 

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