Gewalt gegen Lehrerinnen steigt

Respektlosigkeit und Gewalt prägen den Alltag vieler LehrerInnen. Foto: Imago Images
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„Du hast mir gar nichts zu sagen, du Fotze. Ruf doch meinen Vater an! Der macht dich so richtig fertig. Wir machen euch alle fer­tig!“ – so redete Hakim H. mit seiner Lehrerin, holte sein Springmesser aus der Hosentasche und rammte es in den Tisch. Der Sechzehnjährige hat einen Schulverweis bekommen. Noch sitzt er in der Klasse.

Sabine F., seine Lehrerin, hat die Klasse gewechselt. Sie ist Deutsch-Lehrerin an einer Hauptschule in Gelsenkirchen. „Ich habe Angst“, sagt sie. Seit dem Überfall der Hamas in Israel habe sich unter ihren Schülern im Ruhrpott etwas verändert. „Sie haben alles über Social Media verfolgt. Diese bestialische Gewalt hat viele der Jungen schwer beeindruckt. Viele ihrer Eltern haben diesen Tag gefeiert. Die Angriffe in Gaza werten sie als Bestätigung“, erzählt sie.

Eigentlich wollte die Lehrerin mit ihrer sechs­ten Klasse gerade „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ lesen. „Ich lasse das lieber. Ich habe Angst vor einer Eskalation“, sagt sie.

Jugendliche werden immer stärker in den Bann von Extremisten gezogen

„Autorität, das war einmal. Was wir erleben, das ist die totale Ohnmacht“, findet auch Bettina W., Lehrerin an einer Dortmunder Gesamtschule. „Ich habe das Gefühl, dass der Überfall der Hamas auf die ohnehin brenzlige Situation in den Klassenzimmern wie ein Brandbeschleuniger wirkt.“ Viele ihrer Schüler würden die Hamas bewundern, hätten die Flagge auf Blöcke und Mappen gekritzelt. Und ständig käme was Neues auf TikTok hoch. „Meine Schüler folgen Influencern, die nicht nur Falschinformationen, sondern auch Antisemitismus, Frauenhass und regelrechte Terrorpropaganda verbreiten“, sagt sie.

Das bestätigt auch die „Bildungsstätte Anne Frank“ in ihrem Report „#Nahostkonflikt“. TikTok werde seit dem 7. Oktober mit Antisemitismus nahezu geflutet, ein Krieg der Bilder und Fehlinformationen entfessele sich – besonders unter Jugendlichen, die in dem Medium zuhause sind. Die stärkste Reichweite erhalten Videos, die den Terror der Hamas als Befreiungsaktion feiern, heißt es im Report. Jugendliche würden immer mehr in den Bann von Extremisten gezogen.

Die Angst der Lehrerinnen ist begründet. In den vergangenen Wochen gab es mehrere Messerangriffe an Schulen. Am 22. Februar 2024 stach ein türkischstämmiger Schüler am Wuppertaler Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium auf mehrere Mitschüler ein. In Baden-Württemberg wurde eine 18-Jährige am 25. Januar auf einem Schulgelände erstochen, der Täter war deutsch. Am 10. Januar 2023 erstach ein muslimischer 17-Jähriger eine Lehrerin in Ibbenbüren. Tragische Einzelfälle?

Der Sozialforscher Jens Luedtke warnt: „Messergewalt etabliert sich gerade als mögliche Verhaltensweise. Jeder fünfte Schüler nimmt ein Messer mit in die Schule. Die allermeiste körperliche Gewalt an Schulen geht von männlichen Jugendlichen aus, die damit ihre Männlichkeit beweisen wollen.“ 2022 gab es laut Kriminalstatistik um die 200 gemeldeten Straftaten mit Messern an Schulen.

Generell ist die Gewalt an Schulen in den letzten fünf Jahren (seit vor der Pandemie) in allen Bundesländern exorbitant gestiegen, allein in Nordrhein-Westfalen um 50 Prozent auf 5.400. In Berlin gibt es laut Polizei-Statistik an jedem Schultag im Durchschnitt mindestens fünf Polizei-Einsätze. Der Sprecher der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Benjamin Jendro, spricht von einer „fatalen Entwicklung“ an den Schulen.

Jede zweite Lehrerin ist persönlich von Gewalt in der Schule betroffen

Der Philologenverband NRW hat zu dieser Entwicklung jüngst neue Zahlen geliefert. Er startete eine Umfrage unter Lehrkräften an NRW-Gesamtschulen und Gymnasien. Die ergab, dass mehr als jede zweite LehrerIn in den vergangenen drei Jahren bereits persönlich von Gewalt betroffen war. An den Gymnasien waren es 47 Prozent, an den Gesamtschulen mit 76 Prozent sogar mehr als Dreiviertel der Lehrkräfte. 1.500 Lehrerinnen und Lehrer hatten bei der Umfrage mitgemacht.

„Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Das Thema ‚Gewalt gegen Lehrkräfte‘ ist größer, als das in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird“, sagt Sabine Mistler, Vorsitzende des Philologen-Landesverbandes NRW. Die Umfrage sollte vor allem bewirken, dass das Problem endlich beim Namen genannt und nicht länger tabuisiert wird.

„Viele Schulen haben Angst vor einem Imageschaden. Denn sie brauchen die Anmeldungen von Schülern“, erklärt Mistler. Die LehrerInnen gaben in der Umfrage an, dass sie regelmäßig heimlich gefilmt und in den Sozialen Medien verspottet werden. Selbst Morddrohungen kommen vor.

Laut Umfrage reichten die Formen der Gewalt von körperlichen Übergriffen über Bedrohungen, Beschimpfungen, sexualisierter Gewalt (die natürlich hauptsächlich gegen Frauen) bis zu Cybermobbing oder Verleumdungen. An den Gymnasien wurden Beleidigungen, Beschimpfungen und Onlinedelikte an erster Stelle genannt. An den Gesamtschulen folgten auf Beleidigungen und Bedrohungen auch mal Taten, Körperverletzungen. Das beeinflusst auch die Art, wie LehrerInnen vor eine Klasse treten. „Die Zahlen sind alarmierend. Es muss etwas passieren!“, sagt Sabine Mistler.

Die Umfrage hatte nicht dezidiert nach Gewalt durch Schüler mit Migrationshintergrund gefragt. „Die Erfahrungsberichte, die Lehrerinnen und Lehrer mir geschickt haben, zeigen, dass die Gewalt viele Gesichter hat“, erzählt Mistler. An Gymna sien würden Lehrkräfte immer öfter durch RechtsanwältInnen unter Druck gesetzt, die von Eltern eingeschaltet werden, wenn ihr Kind sitzenbleiben könnte und sie schlechte Noten anfechten wollen.

„Natürlich sind nicht alle Kinder mit Migrationshintergrund gewalttätig und selbstverständ­lich sind es auch genug ohne“, sagt die Dortmun­derin Bettina W. Sie selbst hat auch schon etliche Gewaltandrohungen und Taten von deutschen Jugendlichen erlebt. Ein Zwölfjähriger hat ihr seine Trinkflasche an den Kopf geworfen, es wurden diffamierende Videos über sie ins Netz gestellt, an ihrem Auto wurden zwei Mal die Reifen zerstochen.

Aber zur Wahrheit gehöre auch, dass die Gewalt gegen LehrerInnen an Schulen mit Kin­dern aus vorwiegend migrantischen Milieus besonders hoch sei. „Viele unserer Schüler mit muslimischem Migrationshintergrund sehen Frauen nicht als gleichwertige Menschen an. Wenn wir sie maßregeln, flippen sie aus und wol­len neuerdings Rache. Sie werden gewalttätig gegen uns Lehrerinnen, aber auch gegen ihre MitschülerInnen. Wir erleben eine migrantische Gewaltkultur. Und die beeinflusst natürlich auch alle anderen“, sagt die Dortmunderin ernüchtert. Besonders leid täten ihr migrantische SchülerIn­nen, die mit dem Islam nichts am Hut hätten und von ihren Mitschülern als Ungläubige drangsaliert würden.

Im Januar 2024 wurde publik, dass vier musli­mische Schüler einer Neusser Gesamtschule eine „Scharia-Polizei“ forderten. Frauen und Mädchen sollten sich bedecken, im Unterricht sollte Geschlechtertrennung herrschen, MitschülerInnen sollten zum Islam übertreten. In 29 Schulen in Nordrhein-Westfalen hat es in den beiden zurückliegenden Jahren vergleichbare islamis­tisch geprägte Vorfälle gegeben, wie aus einem Bericht für den NRW-Innenausschuss hervorgeht.

Ein Problem, mit dem sich auch „Wegweiser NRW – Stark ohne islamistischen Extremismus“ befasst, das Präventionsprogramm des NRW-Innenministeriums. Das Programm, das 2014 startete, will den Einstieg von jungen Menschen in die islamistische Szene verhindern. 24 Stand­orte gibt es in NRW. „Jugendliche, aber auch Leh­rer und Eltern können sich anonym an uns wen­den, wenn sie eine beginnende Radikalisierung bemerken“, sagt eine Sprecherin des NRW-Innen­ministeriums. Auch die Wegweiser-BeraterInnen verzeichnen einen massiven Anstieg von hilfesuchenden Jugendlichen und LehrerInnen seit dem 7. Oktober.

„Das Problem ist doch auch, dass wir keinerlei Sanktionen verhängen können“, sagt Bettina W. in Dortmund. Früher hätten LehrerInnen mit Klas­senbucheinträgen, einem Tadel oder dem Gang zum Direktor gedroht. „Darüber lachen sich doch die Schüler von heute kaputt.“ Auch sei ein Anruf bei den Eltern kein Sanktionsmittel mehr. „Die stellen sich fast immer auf die Seite ihres Kindes. Ich erlebe Väter, die dann selbst aggressiv in der Schule auflaufen und uns als Nazis beschimpfen.“ Auch die Lehrerin in Gelsenkirchen bemängelt die fehlende Rückendeckung der Schulleitung und ein Zeichen, wirklich durchgreifen zu wollen.

Neusser Schüler wollten eine "Scharia-Polizei" in der Schule einrichten

Sabine F. aus Gelsenkirchen wird deutlicher: „Es wird doch nicht nur geschwiegen, es gibt die konkrete Ansage ‚Mach‘ hier keinen Ärger!‘ von Schulleitungen an uns Lehrerinnen. Mit Aus­zeichnungen wie ‚Schule mit Courage – Schule gegen Rassismus‘, damit möchte sich jede Schule gern schmücken und das Blechschild am Eingang aufhängen. Aber wie mit uns Lehrerinnen umgegangen wird, dafür interessiert sich kein Schwein!“

Das zeigten auch die Reaktionen der Politike­rInnen, wenn etwas passiere. „Wäre der Täter in Ibbenbüren ein deutscher Schüler gewesen, der eine muslimische Lehrerin erstochen hätte, wäre der Fall wochenlang in den überregionalen Schlagzeilen gewesen. PolitikerIn­nen hätten zum Kampf gegen rechts aufgerufen. In Ibbenbüren ist nichts dergleichen passiert! Der Migrationshin­tergrund des Täters wurde nicht einmal ausgesprochen“, empört sich Lehrerin Birgit Ebel. Seit vielen Jahren engagiert sich die Bielefelderin gegen den Einfluss islamistischer Eltern und Peergroups: „Die Gewalt gegen Lehrkräfte hat sich mindestens verdreifacht. Und unsere Politik tut nichts dagegen, rein gar nichts! Wir Lehrerinnen sind schutzlos!“

Doch auch ohne islamischen oder gar islamistischen Hintergrund haben Schu­len heutzutage ein massives Gewaltproblem. Laut Kriminalstatistik gab es 2023 in NRW 4.000 Fälle von Körperverletzung unter SchülerInnen. „Wir sehen allgemein eine Verrohung des Miteinanders und der Umgangsformen“, sagt Tomi Neckov, stell­vertretender Bundesvorsitzender vom Verband Bildung und Erziehung (VBE). Seit 2016 führt die Pädagogen-Gewerk­schaft repräsentative Umfragen unter Lehrkräften und Schulleitungen durch. Der Anstieg der Gewalt sowohl unter SchülerInnen als auch gegen Lehrkräfte macht sich seit Jahren bemerkbar. Der Ver­band kritisiert die Politik für ihre man­gelnde Initiative, endlich für mehr Sicherheit an Schulen zu sorgen, etwa mit einem Amokalarm. Auch sollten Gewaltvorfälle an Schulen bundesweit erfasst werden. Beides passiere bis heute nicht. Von Prävention ganz zu schweigen.

Die aktuelle Mai/Juni-EMMA gibt es als Print-Heft und als eMagazin im www.emma.de/shop
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Ein gewaltiger Faktor für die Verrohung von Kindern und Jugendlichen ist nach Aussagen von Lehrerinnen und Lehrern der Medienkonsum, insbesondere der Einfluss von Social Media.

Gegen Kanäle wie TikTok als Treiber von Gewalt zieht bundesweit die Schulleiterin Silke Müller aus Oldenburg zu Felde. Mit ihrem Buch „Wir ver­lieren unsere Kinder“ hat sie die Diskussion über Gewalt an Schulen in den Medien in Gang gebracht. Darin erzählt sie, was sich ihre Schüler­Innen Tag für Tag auf TikTok so anschauen: Kinderpornografie, Foltervideos, Videos von bestialischer Gewalt gegen Menschen und Tiere, bis hin zu gefilmten Morden. „Wenn ich Eltern darauf anspreche, was wir auf den Handys ihrer Kinder gefunden haben, sind sie geschockt“, sagt sie im EMMA-Interview (5/2023).

Kinder würden mit diesen Inhalten im Netz regelrecht vergiftet. Je krasser, desto mehr Likes. „Die Folge ist ein Abstumpfen, eine innerliche Ver­rohung. Wer jeden Tag einen Verkehrsunfall sieht, stumpft auch ab“, so Müller. Angesichts perma­nenter Gewalt stelle sich eine gewisse Gleichgül­tigkeit ein. „Die korrumpiert das Gefühl für das, was richtig und falsch ist. Damit werden auch Zivilcourage und ein sich Füreinander-Einsetzen ausgehebelt. Es gibt keine Schamgrenzen mehr“, klagt die Schulleiterin.

Das erklärt zum Beispiel auch, warum die Zah­len pädokrimineller Gewaltdarstellungen explo­dieren, die Kinder und Jugendliche selbst herstel­len oder besitzen: je krasser, desto mehr Likes. Von 10.728 Tatverdächtigen in NRW waren im vergangenen Jahr 1.500 unter 14 Jahre alt.

Wie die Lehrerinnen bemängelt auch die Schulleiterin die Bereitschaft vieler Eltern, sich mit den Social-Media-Inhalten ihrer Kinder aus­einander zu setzen und generell mehr Wert auf ein respektvolles Miteinander zu legen.

Ähnlich sieht es Sabine Mistler vom Philolo­genverband: „Wir sehen, dass in vielen Familien zu wenig Werte vermittelt werden und manche Eltern diese Aufgabe auf die Schule abwälzen. Werte- und Demokratieerziehung, Grenzen set­zen, ein respektvolles Miteinander, Gleichberech­tigung von Mann und Frau, Verantwortung, Empathie – das muss zuerst in der Familie erzo­gen werden!“ Eltern, auch ihr seid gefordert!

ANNIKA ROSS

wegweiser.nrw.de, Hotline: 02118712728

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