In der aktuellen EMMA

Auf dem Schulhof: "Du Jude!"

Julia Bernstein forscht zu Antisemitismus im Klassenzimmer. Foto: privat
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Frau Bernstein, wie sieht es aktuell an den Schulen aus?
Schüler kommen mit Palästina-Flaggen oder -Tüchern. Jüdische Eltern haben Angst, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Selbst an jüdischen Schulen, weil der Schulweg nicht gesichert werden kann. Vieles davon ist nicht neu, wir kennen es aus der Forschung. Aber jetzt hat es eine neue Dimension.

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Was heißt das?
Antisemitismus gibt es in allen Schülergruppen und auch unter Lehrkräften. Aber konkrete Gewalt geht aktuell mehrheitlich von muslimischen Schülern aus, die Akteure sind meist männlich. Und natürlich mit Bezug zum Nahost-Konflikt. Dieses Gewaltpotenzial ist enorm, in der Schule wie auf der Straße. Mit antiisraelischen Demonstrationen wird die Ermordung von Juden gerechtfertigt, mit der Parole „From the River to the Sea – Palestine will be free“ wird zur Vernichtung Israels aufgerufen. Auf der Demonstration in Essen waren islamistische Banner wie „Das Kalifat ist die Lösung“ zu lesen. Männer und Frauen liefen in Blöcken getrennt. Die Frauen tragen die Gewalt ideologisch mit. Plakate mit der Losung wie „Keep the world clean“, auf denen eine Israelflagge im Mülleimer entsorgt wird, wurde mehrheitlich von Frauen getragen. 

Der Vorsitzende des „Zentralrats der Juden“, Josef Schuster, sprach von einer „neuen Dimension des Judenhasses an deutschen Schulen“. Warum gerade Schulen?
Sie bilden die Gesamtgesellschaft in einem Mikrokosmos ab. Kinder und Jugendliche bringen die Haltung ihres Elternhauses und politischen Milieus mit. Es entstehen Gruppendynamiken. Antisemitismus kommt in der Schule von allen Seiten. Aus migrantischen Kreisen, von links, von rechts, aus der Mitte. Unsere Forschung zeigt, dass Schulen zentrale Orte antisemitischer Diskriminierung sind. Und die LehrerInnen sind dem oft nicht gewachsen.

Warum nicht?
Das hat unterschiedliche Gründe. Manche Lehrkräfte haben Angst davor, Antisemitismus von muslimischen oder arabischen Schülern als Problem zu benennen, sie fürchten als islamophob oder rassistisch abgestempelt zu werden. Es fehlt an Rückendeckung im Kollegium und von der Schulleitung. Ein großes Problem ist aber auch, dass Antisemitismus häufig nicht benannt, sondern als Kritik an Israel gerechtfertigt wird. Das geht so weit, dass Schülern, die sich antisemitisch äußern, sogar Verständnis entgegenbracht wird; von wegen es sei ja schließlich Israel, das Verbrechen begehe. Auch haben viele LehrerInnen für Geschichte in ihrer Ausbildung keine Seminare zum Thema Antisemitismus besucht.

Dabei ist Antisemitismus auf Pausenhöfen nicht neu, wie Studien zeigen.
Nein, er war immer da. Noch immer fallen Sätze wie ‚Dich hat man wohl vergessen zu vergasen‘. Auch „Judenwitze“ kursieren weiterhin. Das wird an Schulen aber kaum sanktioniert, sondern viel eher bagatellisiert. Es gibt auch noch den Hitlergruß und an Wände geschmierte Hakenkreuze. ‚Du Jude‘ ist seit etwa zehn Jahren wieder zu einem gängigen Schimpfwort auf dem Pausenhof geworden. Für die Jugendlichen ist der Holocaust weit weg, bestenfalls ein Teil des Geschichtsunterrichts. Sie verstehen oft nicht, wie sich der heutige Antisemitismus aus der Geschichte ergibt und wie real die Gefahr für jüdische Menschen noch heute ist. Sie kennen auch die Gründe für die Existenz Israels nicht. Und in den meisten Familien wird über ihre eigene Rolle im Nationalsozialismus gar nicht oder beschönigend gesprochen. 

Hat Social Media die Situation verschärft?
Absolut! Mit jeder erneuten Eskalation des Nahost-Konflikts flammt Antisemitismus auch im Online-Raum deutlich auf, auf X, Instagram, TikTok und in Gaming-Communitys. Antisemitismus ist Teil der digitalen Kultur. Über das Handy kommen schon Kinder damit in Berührung, sei es in Form von Fake News, Verschwörungsmythen oder Boykottaufrufen. Seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober wird das Netz damit regelrecht geflutet. Die Plattformen bieten einen idealen Nährboden für Radikalisierung und den Terrorismus von morgen.

Inwieweit kann Bildung über den Nationalsozialismus und Holocaust vor Antisemitismus schützen?
Grundsätzlich immunisiert Bildung nicht gegen Antisemitismus. Und auch dort, wo in der Schule die gesellschaftlichen Leitwerte und das Gedenken der Opfer eingeübt werden, ist Antisemitismus nicht automatisch gebannt. Diese Bildung muss mit Informationen über Antisemitismus als gegenwärtiges Phänomen verknüpft werden. Wo beginnt Antisemitismus? Woran erkennt man ihn? Antisemitismus ist auch deshalb so komplex, weil er sich ständig anpasst. Was bringt es, wenn Schüler in der Gedenkstätte betroffen sind, aber die aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus nicht erkennen oder sogar produzieren?

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Wie sehen Sie das Verhalten von Greta Thunberg und Fridays for Future?
Bei Fridays for Future wird Israel als Apartheid- und Terrorstaat dämonisiert, dem jetzt ein Genozid angehängt wird. Der jüdische Staat wird zum absoluten Bösen erklärt, der islamistische Judenmord zum Befreiungskampf. Diese Täter-Opfer-Umkehr ist ein charakteristischer Mechanismus des Antisemitismus, sie schafft ein Feindbild, das Gewalt und Mord an Juden rechtfertigen soll. Greta Thunberg unterstützt mit ihrem Palästinensertuch und Parolen wie „Stand with Gaza“ und „Free Palestine“ und mit ihrer Strahlkraft als moralische Instanz für die Jugend den Antisemitismus ihrer Bewegung. 

Antisemitismus zeigt sich auch bei anderen politischen AktivistInnen.
Ja, vor allem bei jenen, die dem ‚woken‘ Spektrum zugeordnet werden. Sie grenzen sich von der angeblich deutschen Obsession mit der Shoah ab, weil diese palästinensisches Leid ausblende. Sie dämonisieren Juden und Jüdinnen als weiße Kolonisatoren. Das hat sich bereits bei der letztjährigen Documenta gezeigt. 

Es fehlen Zeichen der Solidarität?
Ja, vor allem solche, die nicht an ein „Aber“ geknüpft werden. Ich habe schon den Eindruck, dass der Terrorangriff auf Israel und die grausamen Verbrechen gegen ZivilistInnen sehr viele Menschen hier bewegen. Es gehen aber in Berlin keine 100.000 Menschen gegen Antisemitismus auf die Straße wie in Paris oder Washington. Im Alltag müssen es nicht immer große politische Gesten sein, manchmal würde schon die Frage reichen, wie es einem angesichts des antisemitischen Terrors in Israel und des grassierenden Antisemitismus hier in Deutschland geht, und was das mit einem macht. Viele Juden und Jüdinnen fühlen sich allein gelassen. Manche sind froh, dass ihre Eltern oder Großeltern ‚das‘ nicht mehr erleben müssen. Einige hinterfragen, ob sie einen Platz in der deutschen Gesellschaft haben. In Deutschland muss sehr viel Grundsätzliches passieren. In den Schulen wie in der Gesellschaft.

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