Han Kang: Leise aber laut
Han Kang mag alles, was leise ist. Sie spricht auch selbst nicht laut und bewegt sich umsichtig. Kein Wunder also, dass sie den Literaturnobelpreis zunächst nur mit ihrem Sohn und Kamillentee feiern wollte. Presseauftritte und Partys schlug die 54-Jährige aus. Ihr erster öffentlicher Auftritt war nun ihre Nobelpreis-Lecture in Stockholm, der sich am 10. Dezember 2024 die Verleihung des Preises durch den schwedischen König anschloss.
Ausgezeichnet wurde die Südkoreanerin „für ihre intensive poetische Prosa, die sich mit historischen Traumata auseinandersetzt und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens offenlegt“.
Nichts ist wahrer als das. In ihrem Prosawerk erzählt die Autorin die jüngere Gewaltgeschichte Südkoreas, tut dies aber in einer so zarten Prosa, dass man darin auch die sanftesten Stimmen ihrer Figuren gut vernimmt.
International bekannt wurde Han Kang mit dem Roman "Die Vegetarierin"
International bekannt wurde Han Kang mit ihrem Roman „Die Vegetarierin“, für den sie gemeinsam mit ihrer englischen Übersetzerin Deborah Smith im Jahr 2006 den Booker Prize erhielt. Der Buchtitel ließ zunächst an eine Lifestyle-Geschichte denken und traf den Nerv der Generation Fleischverzicht. Wer aber tiefer eintauchte, fand sich wieder in der Welt der jungen Yong-Hye, die in sich die Seelen all der Tiere schreien hört, die sie im Laufe ihres Lebens verspeist hat. Außerdem leidet sie nachts unter Schlachtphantasien.
“In Han’s world, people are wounded, fragile, in some sense weak, and yet they possess just enough strength, and just the right kind of strength, to take another step or ask another question, request another document or interview another surviving witness.”
Ellen Mattson,… pic.twitter.com/NWb41FdVhR
— The Nobel Prize (@NobelPrize) December 10, 2024
Kurzentschlossen entsorgt Yong-Hye alle heimischen Fleischvorräte, was ihren Ehemann rasend macht. Es sind vor allem die Männer, die Yong-Hyes Verzicht nicht tolerieren. Ihr Vater ohrfeigt sie bei einem Familientreffen, bevor er ihr mit Hilfe des Bruders ein Stück Braten in den Mund stopft, und ihr Schwager bemalt die zunehmend Verwirrte später mit Blumen, um sie für ein sexuell aufgeladenes Kunstwerk zu missbrauchen. Das koreanische Patriarchat lässt nicht mit sich spaßen. Daher geht die Geschichte nicht gut aus für Yong-Hye.
Männer sind in Han Kangs Büchern oft sehr laut. Maximalen Krach machten sie sicherlich 1980 in der Stadt Gwangju. Dort marschierten Soldaten auf, um die Studentenproteste gegen Militärdiktatur und Kriegsrecht niederzuschlagen. Etwa 2.000 Menschen wurden damals erschossen.
In "Menschenwerk" schrieb sie über das nationale Trauma 1980 in der Stadt Gwangju
Über dieses nationale Trauma schrieb Han Kang ihren Roman „Menschenwerk“, in dem es wiederum zarte Seelen sind, die noch einige Tage über den verwesenden Körpern schweben und leise erzählen. Die Schülerin Eun-Suk, die im Roman die Toten wäscht, hat „noch nie einen solchen Lärm“ erlebt wie in jenen Tagen: „Entschlossene, rhythmische Schritte von tausenden von Soldatenstiefeln. Panzer, die Straßen aufrissen und Mauern niederwalzten.“
Auch Han Kang wurde 1970 in Gwangju geboren, doch ihre Familie zog kurz vor dem Massaker nach Seoul. Dort lebt die Autorin auch heute noch. Während sie „Menschenwerk“ schrieb, litt sie unter Alpträumen, erzählt sie in Interviews. Erst mit ihrem neuen Roman „Unmöglicher Abschied“, an dem sie sieben Jahre arbeitete, ließen die nächtlichen Schrecken nach. Auch in diesem Roman untersucht sie ein nationales Trauma: das Militärmassaker gegen die teils linksgerichtete Bevölkerung der südkoreanischen Insel Jeju im Jahr 1948, also kurz vor Ausbruch der Korea-Kriegs. 270 Dörfer wurden damals zerstört und etwa 20.000 Menschen getötet.
Ihre Werke werden in den letzten Jahren lichter. Heilung ist zunehmend denkbar
Blieben die Figuren in Han Kangs früheren Romanen oft verwüstet und unerlöst zurück, werden ihre Werke in den letzten Jahren lichter. Heilung ist zunehmend denkbar. Diese ist bei Han Kang ein stiller, stets körperlicher Vorgang. Man denke auch an die trostreiche Annäherung eines Erblindenden und einer Verstummten in ihrer zauberhaften Liebesgeschichte „Griechischstunden“. Ja, Han Kang kann Folter und Verwesung sehr genau beschreiben, aber auch das gemeinsame Atmen zweier Menschen, die sich einander vorsichtig annähern.
Das Leben ist bei Han Kang zerbrechlich, wie das Nobelkomitee sehr treffend festgestellt hat, aber es ist im Kleinen durchaus wehrhaft. Es ist auf stille Weise stabil.
Weiterlesen Han Kang: „Unmöglicher Abschied“ (Aufbau Verlag)