Schwarzer über Sex: Heute alles anders?
Im Januar 2020 besuchte ich die „Schwemme“ eines Kölner Brauhauses. Das sind Kombüsen, in denen die Fässer stehen und das Bier gezapft wird. Einheimische gehen da gerne auf einen Sprung rein, um stehend ein Kölsch zu trinken oder auch zwei. Am Zapfhahn stand eine junge Frau (Was relativ neu ist, traditionell sind Köbesse in den Brauhäusern Männer). Mitte zwanzig, hübsch, blonder Pferdeschwanz. Nach ein paar Minuten wandte sie sich zu mir: „Hör mal, Alice“ (Es ist Tradition in den Brauhäusern, sich zu duzen). „Es ist sonst nicht meine Art, Gäste anzusprechen. Aber ich habe gerade den ‚Kleinen Unterschied‘ gelesen und mich total wiedergefunden in dem Buch. Jetzt habe ich es meinem Freund in die Hand gedrückt.“
Ich staune. Julia, so heißt sie, redete weiter: „Du erwähnst in dem Buch doch, dass sich die Träume weißer Amerikanerinnen von denen weißer Amerikaner stärker unterscheiden als die Träume weißer Amerikanerinnen von denen weiblicher Aborigines in Australien. Und stell dir vor, ich habe meine Freundinnen gefragt: Die haben auch alle ganz andere Träume als ihre Freunde!“ Nun bin ich doch überrascht.
Es geht also weiter. Und solange das so ist, werde ich Ärger haben. Es hätte mir eigentlich von Anbeginn an klar sein müssen, dass eine Autorin, die die Funktion von Liebe und Sexualität analysiert und den Frauen sagt, sie sollten nicht länger relative Wesen bleiben, sondern eigenständige Menschen werden, dass die nicht ungeschoren davonkommt. Aber ich war naiv, ich war damals tatsächlich nicht darauf gefasst. Ich habe einfach immer geraderaus gesagt, was ich denke.
20 Jahre vor der Begegnung mit Julia hatte ich Post aus Südkorea erhalten. Die Redaktion der Frauenzeitschrift „if“ war entschlossen, den „Kleinen Unterschied“ auf Koreanisch herauszugeben. Die Übersetzerin Kim Zaehi stand kurz vor dem Abschluss und hatte das Manuskript schon in der Redaktion herumgereicht. Die Reaktionen hatten sie überrascht. Kim schrieb: „Meine Kolleginnen können kaum glauben, dass die Geschichten in dem Buch ‚übersetzt‘ sind. Alle sagen: ‚Ich kenne Hildegard‘ – ‚Ich bin Alexandra‘ – ‚Ich bin Dorothea, nur mit zwei Kindern‘ usw. Und sie wundern sich sehr, dass die Situation der deutschen Frauen der ihren so ähnlich ist. Sie dachten immer, denen ginge es gut und die hätten keine Probleme.“
Nochmal zwanzig Jahre davor, also vor 40 Jahren, hatte ich in Griechenland eine ganz ähnliche Erfahrung gemacht. Dort war „Der kleine Unterschied“, ganz wie in Spanien, Anfang der 80er Jahre eines der ersten feministischen Bücher gewesen, die nach dem Ende der rechten Diktatur übersetzt worden waren. Nach einem Vortrag in Athen sprach mich eine Soziologin an und erzählte: „Auf Zypern treffen sich einmal in der Woche die Fischersfrauen und diskutieren über dein Buch. Ihr Code bei diesen Gesprächen lautet: Ich bin Fall 2 – oder Fall 5 – oder Fall 9 ...“
Ich staunte. Denn als ich im Jahr 1974 das Buch konzipierte, hatte ich die 17 Fälle von Frauen in Deutschland in der Tat so repräsentativ wie möglich ausgewählt, damit eine Mehrheit der Frauen sich darin wiederfinden könnte: in Bezug auf Alter, Bewusstsein, soziale Lage, sexuelle Identität etc. Ich hatte dabei allerdings nur die Spanne zwischen Berlin und Passau im Auge gehabt, zwischen Stadt und Land. Der Kalkül ging bei Erscheinen des Buches auf. „Der kleine Unterschied“ löste in ganz Deutschland eine Art kollektiven Aufschrei aus: der Zustimmung oder der Ablehnung, dazwischen gab es wenig. Die meisten Frauen (wenn auch nicht alle) waren dafür, die meisten Männer (wenn auch nicht alle) waren dagegen. Folge: Eine Hexenjagd auf die Überbringerin der schlechten Nachricht von der Misere der Geschlechter, auch im Bett, auf „Schwanz-ab-Schwarzer“ und „die Hexe mit dem stechenden Blick“ mit dem „Sex einer Straßenlaterne“.
Allerdings hatte ich beim Schreiben des Buches nur die Hoffnung gehabt, dass die 17 Gespräche für eine Mehrheit der Frauen in Deutschland und vielleicht noch in Österreich und in der Schweiz gültig sein könnten. Dass „Der kleine Unterschied“ in dem darauffolgenden halben Jahrhundert in zwölf Sprachen übersetzt werden würde – von Japan bis Brasilien – das hatte ich mir nicht träumen lassen. Und auch nicht, dass dieses Buch über die Rolle und Auswirkungen von Liebe und Sexualität im Leben der Frauen – und damit auch der Männer – auch im 21. Jahrhundert immer neue Leserinnen und Leser finden würde.
Zwar hat sich in Bezug auf das erotische Selbstverständnis der Frauen und damit auch auf die sexuelle Kommunikation der Geschlechter seit 1975 einiges verbessert, die Grundprobleme jedoch sind die gleichen geblieben. Wie auch sollte sich, was in Jahrtausenden gewachsen ist, innerhalb von Jahrzehnten fundamental ändern können.
Die internationale Rezeption vom „Kleinen Unterschied“ bestätigt meine Überzeugung, dass die scheinbar so individuellen „weiblichen Schicksale“ strukturell bedingt und universell sind. Sicher, es gibt Unterschiede unter Frauen – die gibt es bereits innerhalb der 17 exemplarischen Fälle in diesem Buch – und es kann keineswegs darum gehen, diese Unterschiede zu glätten oder gar zu leugnen; schon gar nicht von der privilegierten Position aus, in der wir Frauen im Herzen Europas uns heute befinden.
Aber: Es gibt auch Gemeinsamkeiten – und die sind größer als die Unterschiede. Egal, wie arm oder reich, wie weiß oder schwarz, wie gebildet oder ungebildet eine Frau ist: Da, wo es um Liebe und Gewalt, Männer und Kinder geht, da sind alle Frauen in einer ähnlichen Lage.
Die Zuweisung der Geschlechterrollen ist universell, ebenso sind es ihre Folgen. Darum ist auch der Feminismus universell. Es gibt Fortschritte und Rückschritte zugleich, auch in dem Bereich, um den es hier zentral geht: im Bereich von Liebe und Sexualität. Ich erhalte weiterhin Briefe zum „Kleinen Unterschied“, nicht mehr täglich, aber regelmäßig, von jungen Frauen und auch Männern. Denn die in diesem Buch aufgezeigten Grundprobleme bestehen für Frauen weiterhin: die Wahl zwischen Eigenständigkeit und Liebe, zwischen Selbstbehauptung und Mitgefühl, zwischen Beruf und Familie. Kein Wunder: Über Jahrhunderte, ja Jahrtausende gewachsene innere und äußere Barrieren lassen sich nicht innerhalb einer Generation niederreißen.
Sicher, die heute gern geschmähte Neue Frauenbewegung der 1970er Jahre hat im Westen eine wahre Kulturrevolution ausgelöst, die „bedeutendste soziale Revolution des 20. Jahrhunderts“ (Rudolf Augstein). Sie hat damit nicht nur die ganze Gesellschaft und die Geschlechter-Verhältnisse tiefgreifend verändert – sie hat auch das Denken und Fühlen von Frauen wie Männern beeinflusst. Erstmals in der neueren Geschichte sind Frauen in Deutschland auch rechtlich umfassend gleichberechtigt und haben zumindest formal einen uneingeschränkten Zugang zu Bildung und Beruf. Die Mehrheit der Mädchen plant eine – zumindest relativ – eigenständige berufliche Zukunft. Und auch Mütter streben, trotz aller Hindernisse, zunehmend in den Beruf; in Deutschland jedoch die meisten in Teilzeit: 69 % aller erwerbstätigen Mütter (erschlagende 74 % in Westdeutschland und „nur“ 49 % in Ostdeutschland) arbeiten Teilzeit – und nehmen damit eine Begrenzung ihrer Karriere und eine drohende Altersarmut in Kauf. Deutschland, das Land der „Rabenmütter“, hat den höchsten Anteil teilzeitarbeitender Mütter in ganz Europa. Und das hat Gründe: fehlende Krippen, Kindergärten und Ganztagsschulen. Immer noch.
Öffentlich erleben wir eine umfassende Sexualisierung aller Lebensbereiche
Öffentlich erleben wir eine umfassende Sexualisierung aller Lebensbereiche; privat aber eine zunehmende sexuelle Zurückhaltung und die Flucht auch von Männern in den unverbindlichen Sex. Ironie der Geschichte: Klagten Frauen früher über zu viel Sex, klagen sie heute so manches Mal über zu wenig. Mit Pornografie masturbieren bzw. Sex mit Prostituierten oder Gummipuppen haben, das scheint heute so manchem Mann einfacher. Frauen, die auf Augenhöhe lieben wollen, sind unbequem.
Schlittern wir auf eine sexuelle Eiszeit zu? Es waren wir Frauen, die die gute alte Oben-unten-Welt- und Sexordnung aufgekündigt haben, öffentlich wie privat. Gleichzeitig propagiert seither die inzwischen allgegenwärtige Pornografie wieder das Rammeln und die sexualisierte Gewalt. Die Angst vor der sozialen und körperlichen Potenz der Frauen erhöht die Verunsicherung des Mannes, der sich so lange im alleinigen Besitz des Phallus wähnte.
Schon 1975 habe ich Forschungsarbeiten zitiert – darunter die der SexualforscherInnen Masters & Johnson oder der Sexualforscherin Mary Jane Sherfey – die eine körperlich gleiche, wenn nicht sogar überlegene Potenz der Frau beweisen. Sherfey hatte in „Die Potenz der Frau“ akribisch wissenschaftlich belegt, dass der männliche und der weibliche Körper bis hinein in die Sexualorgane gleich gebaut sind und die Klitoris dem männlichen Penis bei Erregung durch Blutstau dem versteifenden Penis entspricht. „Wer Kinder machen will, muss penetrieren – wer Lust erzeugen will, muss sich der Klitoris widmen“, argumentierte ich. Die Empörung vor allem bei Männern war groß. Die Klitoris und nicht die Vagina erzeuge Lust? Wie lächerlich! (Übrigens: Den Begriff „penetrieren“ hatte ich aus Frankreich importiert. Inzwischen ist er etabliert.)
Doch es sollte noch ein Vierteljahrhundert dauern, bis Der Spiegel im Februar 2002 in einer Titelgeschichte über „Die Chemie der Lust“ Realistisches zu vermelden wusste: 1999 hatte die australische Chirurgin Helen OʼConnell zehn weibliche Leichen seziert und die inneren Ausmaße der weiblichen Sexualorgane dokumentiert. Ergebnis: „Der Schwellkörperanteil ist sogar größer als beim Mann“ (O’Connell). Denn die zwei Fortsätze der Klitoris reichen bis zu neun Zentimetern in die Tiefe des weiblichen Körpers, verbunden durch zwei weitere zwiebelförmige Schwellkörper, die sich an die Vorderwand der Vagina schmiegen.
Die Gegenreaktion hat nicht lange auf sich warten lassen: die Pornografie
Sind also Frauen das potentere Geschlecht? Körperlich ja, seelisch jedoch scheinen sie komplizierter zu sein als die Männer. Denn das sexuelle Zentrum liegt bei beiden Geschlechtern ja in Wahrheit nicht in Klitoris bzw. Penis – sondern im Kopf. Das Begehren der Frauen hängt eng mit dem Leben der Frauen zusammen. Ihre reale Lage spiegelt sich in der Sexualität. Bei Männern ist es nicht anders. Auch ihnen kann die Lust vergehen.
Frühen Feministinnen ist der sexuelle Entzug von Männern als „Strafe“ für zu viel Emanzipation schon seit längerem ein bekanntes Phänomen. Eigentlich ist die sexuelle Verweigerung ja ein traditionell weibliches Mittel im Clinch der Geschlechter. Es ist vielleicht darum keineswegs nur negativ, dass jetzt auch Männer danach greifen. Vor der Neuorientierung steht eben die Irritation, der sollte die Erkenntnis folgen.
In der Sexualforschung war schon in den 1980er Jahren, also nach Aufbruch der Frauenbewegung Anfang der 1970er Jahre, von einem neuen „Sexualkodex“, einer „Konsensmoral“ die Rede. „Der sexuelle Umgang wird friedlicher, kommunikativer, berechenbarer, rationaler und verhandelbarer“, erklärte Sexualforscher Gunter Schmidt, eben „herrschaftsfreier“. Ihm ist klar: Es war die „feministische Debatte“, die das alles ins Rollen gebracht hat.
Doch gleichzeitig hatte die Gegenreaktion auf die Emanzipation nicht lange auf sich warten lassen. So ist es selbstverständlich alles andere als ein Zufall, dass ab Mitte der 1970er die Pornografie verstärkt propagiert und salonfähig wurde. Das sei ein Ausdruck von sexueller Freiheit, heißt es. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Pornografie bringt neue Zwänge und zementiert die Geschlechterrollen. Denn Pornografie ist die Verknüpfung von Lust mit Erniedrigung und Gewalt. Pornografie zerstört nicht nur ihre Opfer, die Kinder und Frauen, sie deformiert auch die Männer – und tötet die Erotik.
Seit Jahren klagen professionelle Prostituierte zunehmend darüber, dass vor allem die jungen Freier immer brutaler werden. Heutzutage werden von quasi jeder Prostituierten Sadomaso-Praktiken erwartet – und die Freier wollen dabei fast immer die Sadisten sein. Je jünger, je brutaler.
Rein biologisch gibt es nur zwei Geschlechter, kulturelle sind fluid
Die Entwicklung des Verhältnisses der Geschlechter ist also Fortschritt und Rückschritt zugleich, das spiegelt sich wie immer auch in der Sexualität. Ein Teil der sexuellen Beziehungen wird gleicher, ein Teil noch ungleicher. Zu dieser neu verankerten Ungleichheit gehört die Renaissance des Differenz-Diskurses, das Lied von der eternellen „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“. Zeiten des verstärkten Unterschieds der Geschlechter sind immer auch Zeiten der verstärkten Unterdrückung der Frauen. Siehe auch die Selbstdarstellung und die Propaganda der Influencerinnen: Sei ganz Frau! Aber was ist das eigentlich, eine „Frau“ bzw. ein „Mann“?
„Man wird nicht als Frau geboren, man wird es“, lautet Beauvoirs Schlüsselsatz im „Anderen Geschlecht“. Dasselbe gilt für Männer.
Einig sind sich die divergierenden Strömungen im Feminismus darin, dass die Geschlechterrolle, Gender, dekonstruiert werden kann, ja muss. Uneinigkeit herrscht in Bezug auf das biologische Geschlecht. Auch das sei zu dekonstruieren! heißt es nun in der „Queer-“ und der „Trans-Bewegung“. Denn es gäbe „viele Geschlechter“ – was biologisch natürlich kompletter Unfug ist. Sozial gesehen und rein wissenschaftlich gibt es nun mal nur zwei biologische Geschlechter: das weibliche und männliche. Aber es gibt viele kulturelle Geschlechter (Gender), also sexuelle Identitäten, ganz und gar unabhängig vom biologischen Geschlecht. Und die müssen keineswegs lebenslang festgefroren sein, sondern können wechseln, sind fluid.
Auch „Der kleine Unterschied“ ist ein früher Beitrag zur Dekonstruktion der Geschlechter, lange bevor es den Begriff gab. Denn universalistische Feministinnen wie ich plädieren für den freien, ungeteilten Menschen, der nicht im Namen von Ideologien, wie „Weiblichkeit“ oder „Männlichkeit“, geteilt und verstümmelt wird. Meine Utopie ist eine Welt, in der das biologische Geschlecht den Menschen nicht länger definiert – so wenig wie seine Hautfarbe oder kulturelle bzw. religiöse Zugehörigkeit – sondern nur ein Faktor ist von vielen, die den Menschen ausmachen.
Würde ich den „Kleinen Unterschied“ heute genauso schreiben wie vor fast fünfzig Jahren? Inhaltlich Ja. In der Form jedoch Jein: Die Protokolle mit dem Originalton der Frauen sind natürlich genauso richtig, die Authentizität der Stimmen der Frauen ist ja der wahre Sprengstoff des Buches. Der theoretische Teil des Buches allerdings müsste heute nicht mehr ganz so agitatorisch daherkommen. Die vielen !!! entsprachen dem Ungestüm des Aufbruchs. Heute wissen wir, dass es auf unserem Weg auch viele ??? gibt – und dass das Ziel noch in weiter Ferne liegt: das Ziel Mensch.
Alice Schwarzer, September 2022
Der Text ist der leicht gekürzte Nachdruck des Vorwortes zu der aktualisierten Ausgabe von „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“ im Jahr 2022.
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