Klassiker: A Breath of fresh Eyre

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Ein kleines Mädchen und ein großer Mann. "Es gibt nichts Schlimmeres als ein unartiges Kind und besonders ein unartiges Mädchen. Weißt du, wohin die Bösen nach dem Tode kommen?", fragt er streng.

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"Sie kommen in die Hölle", piepst sie.

"Und, was musst du tun, um dem zu entgehen?"

Die Identität des Mannes ist unwichtig, doch bei dem Mädchen handelt es sich um Jane Eyre, die Hauptfigur des gleichnamigen Romans von ­Char­lotte Brontë (1816–1855) und eine der ersten literarischen Rebellinnen. Denn die Brontë-Protagonistin antwortet: "Ich muss gesund bleiben und darf nicht sterben."

"1847, als der Roman herauskam, war das etwas Unerhörtes. Das galt als Kind, das undankbar ist", erläutert Margarete Rubik, Professorin für englische Literatur an der Universität Wien. Rubik: "Was meine Studentinnen heute noch immer anspricht ist, dass es sich um die Entwicklung einer Frau handelt, die eben nicht klein beigibt und ihre ­eigenen Vorstellungen trotz einer repressiven ­Gesellschaft durchsetzen kann. In aktuellen Erhebungen rangiert der vor 162 Jahren ­erschienene Roman Jane Eyre immer wieder unter den beliebtesten oder sogar als der ­beliebteste viktorianische Roman."

Jane Eyre, geschrieben Mitte des 19. Jahrhunderts von einer Pfarrerstochter aus Yorkshire, schlug in die englische Literaturszene ein wie eine Bombe. Es war der erste Roman, der der universellen Erfahrung von ­Macht­losigkeit, die vor allem Frauen in der einen oder anderen Form in ihrer Kindheit ­machen, eine Stimme gab – ja, es war überhaupt das erste Buch aus der Perspektive eines kleinen Mädchens. Das alleine hätte schon gereicht, seine Autorin berühmt bzw. berüchtigt zu machen. Doch ließ Charlotte Brontë ihre Jane erwachsen werden und nun nicht mehr nur um ihr physisches Überleben kämpfen, sondern darüber hinausgehend um Respekt und Gleichberechtigung, kurz: ihr Überleben als Person.

Brontë hatte ihren Roman wohlweislich unter einem männlichen Pseudonym (Currer Bell) veröffentlicht und eine Weile konnte sich auch niemand vorstellen, dass hinter der selbstbewussten Erzählstimme eine Frau steckte. Man fantasierte den Autor als raubeinigen Seemann und dichtete ihm einen Vollbart an, erzählt Professor Rubik. „Schließlich ist man darauf ­gekommen, dass es eine Frau ist, weil eine der Figuren Vorhangringe annäht. Es wurde argumentiert, kein Mann würde wissen, dass es Vorhangringe überhaupt gibt.“

Eine weitere Besonderheit war, dass die Hauptfigur weder schön noch reich ist, wie die meisten Romanheldinnen ihrer Zeit. Jane Eyre ist Gouvernante, ein Beruf mit geringer sozialer Anerkennung und noch weniger ­Bezahlung. Als ihr Arbeitgeber Mr. Rochester ihr einen Heiratsantrag macht, sollte das Buch demnach zu Ende sein. Doch ­besteht Jane darauf, vorher mit ihm die Bedingungen einer solchen Ehe auszuhandeln und fordert eine Liebe auf Augenhöhe.

Das hatte Folgen. Für die ­Leserinnen. Die polnisch-ameri­ka­nische Filmwissenschaftlerin ­Danusha Goska schreibt heute: „Auch ich bin weder schön noch besonders und ich habe ebenfalls keine Familie. Trotzdem bin ich mit dem Fahrrad durch afrikanische Länder gefahren und habe in asiatischen Dschungeln Abenteuer erlebt. Dass es dazu gekommen ist, liegt vor allem daran, dass ich mit zwölf Jahren Jane Eyre gelesen habe, und es seitdem immer wieder tue.“

Nahezu zeitgleich mit seinem Erscheinen in England wurde der Roman damals ins Deutsche übersetzt. Es heißt, dass die Neuübersetzung, die gerade im Aufbau Verlag erschienen ist, die 30. sei. Im Kino wurde Jane Eyre von Orson Welles wie Alfred Hitchcock adaptiert, um nur zwei von vielen zu nennen. Es gibt Jane Eyre als Comic, Musical und Oper. Brontë-Spezialistin Margarete Rubik gab 2007 über die Reise des Romans durch die Hoch- und Popkultur ein ganzes Buch heraus: „A Breath of fresh Eyre“ (Übersetzung: Wortspiel mit dem frischen Wind und der frisch bearbeiteten Miss Eyre). Der Umschlag zeigt ein Mädchen, das von einem Pelikan auf den Mund geküsst wird, ein Motiv aus der Jane-Eyre-Mappe der ­portuguisischen Malerin Paula Rego. Rubik hat Internetseiten aus China gefunden, auf denen Firmen, die Hochzeitsfotos herstellen, mit Jane Eyre werben. „Was natürlich insofern pervers ist, weil man ja weiß, dass die Hochzeit abgebrochen werden musste und Rochester als Bigamist entlarvt wurde”, ­spottet die Spezialistin.

Und das ist die andere Seite, denn Jane Eyre ist nicht nur weiblicher Bildungs­roman, sondern auch ein Schauerroman. Das Unheimliche lauert im dritten Stock von Thornfield Hall, dem sowieso schon düsteren Herrensitz Edward Rochesters, wo Schreie und ein unmenschliches ­Lachen zu hören sind. Von Zeit zu Zeit bricht der Schrecken, der dort wohnt, aus, um Unheil und Vernichtung anzurichten. Erst als Jane und Edward schon vor dem Traualtar stehen, wird das Rätsel gelüftet. Der Hausherr hält dort seine erste Frau Bertha eingesperrt, weil sie, wie er sagt, wahnsinnig sei.

Vor 30 Jahren haben die Literaturwissenschaftlerinnen Sandra Gilbert und Susan Gubar darüber einen Schlüsseltext der feministischen Literaturkritik geschrieben, der es auf die Shortlist des Pulitzerpreises schaffte und die Art, wie wir über die Repräsentation von Weiblichkeit in Texten denken, in der Literaturwissenschaft grundlegend veränderte. Für sie ist Bertha Rochester – die Wahnsinnige auf dem Speicher – die Inkarnation des Frauseins schlechthin im 19. Jahrhundert: ­unsichtbar und ohne eine eigene Stimme.

„Im 19. Jahrundert gab es die Kategorie des moralischen Wahnsinns“, bestätigt ­Margarete Rubik. „Darunter konnte alles kategorisiert werden, was als unkonventionell galt. Eine Frau, die aus der Rolle fiel, lief Gefahr, als verrückt klassifiziert zu werden. Damit ist Bertha so etwas wie der dunkle Zwilling von Jane, die die aufmüpfigen ­Aspekte ihres Wesens unterdrücken muss, um in der Gesellschaft überleben zu können. Wenn sich Jane nicht unter Kontrolle kriegt, wird sie wie Bertha enden.“ 1966 schrieb Jean Rhys eine Vorgeschichte zu Jane Eyre aus ­post­kolonialer Sicht. In „Sargassomeer“ erzählt sie die Ehe aus der Perspektive Ber­thas und gibt ihr so nachträglich eine Stimme.

Denn Bertha Rochester ist mehr als eine Wahnsinnige auf dem Speicher, sie ist auch die Leiche im Keller eines jeden englischen Herrenhauses des 19. Jahrhunderts. Denn Bertha kommt aus der Karibik. Sie ist Kreolin. Rochester hat sein Vermögen durch die Heirat mit ihr erhalten, so wie sich der Wohlstand des ganzen britischen Empires auf der Ausbeutung seiner Kolonien begründete.

Das Buch wurde rasch zum Mythos und seine Autorin auch. Noch zu Charlotte Brontës Lebzeiten begann die Bestseller­autorin Elizabeth Gaskell eine Biografie über sie, die sie drei Jahre nach deren frühem Tod (mit nicht einmal 39 Jahren) veröffentlichte. Seitdem ist Charlotte Brontë zusammen mit ihren ebenfalls schreibenden und ebenfalls früh gestorbenen Schwestern, Emily und Anne, Teil des nationalen literarischen Erbes Englands. Das berühmte Gemälde der drei, das in der National Portrait Gallery hängt, schmückt zahllose Geschirrtücher, Teetassen und Schlüsselanhänger.

Der deutsche Schriftsteller Arno Schmidt nannte die Brontës die „drei taubengrauen Schwestern“. In ihrem einsamen Pfarrhaus, aus dessen Fenster man auf den Friedhof blickte, inmitten der wilden Moorlandschaft Yorkshires erscheinen sie wie drei Zauberwesen, die Worte aufs Papier hexten und sich der sterblichen Vorstellungskraft entziehen.

Um nicht wie Bertha des moralischen Wahnsinns beschuldigt zu werden, hatte Charlotte sich Mrs. Gaskell ­gegenüber als Musterbeispiel pflichtbewusster viktorianischer Weiblichkeit dargestellt und betont, sie habe in ihrem Skandalbuch die Gren­zen der Konvention nur überschritten, weil sie in einer solcher Isolation aufwuchs, dass sie es nicht besser wissen konnte. Und die Vorstellung der Brontës als Naturgenies passte so gut ins Bild, dass es bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts nahezu nicht hinterfragt wurde. Die schreibenden Schwestern aus Yorkshire waren damit die Ausnahmen, die die Regel in einem männlichen Kanon bestätigten. Dass gerade die englische Literatur von Anfang an durch zahlreiche hervorragende Autorinnen mitgeprägt worden war, wurde dabei gerne übersehen.      

Zum Weiterlesen:

  • Charlotte Brontë: „Jane Eyre“ (Aufbau, 2009),
  • Margarete Rubik/Elke Mettinger-Schartmann: „A Breath of fresh Eyre“ (Rodopi, 2007).
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