Koopmans: "Islamismus? Ein Import!"

Ⓒ David Ausserhofer/wzb
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Herr Professor Koopmans, Sie haben ­untersucht, wie verbreitet religiös-fundamentalistische Einstellungen bei musli­mischen EinwanderInnen sind. Was haben Sie herausgefunden?
Bis zu meiner Studie war darüber fast gar nichts bekannt. Und ich hatte die Vermutung, dass solche Einstellungen weiter verbreitet sind als bis dato angenommen. Das hat sich bestätigt: 30 Prozent der ­Befragten in Deutschland haben ein fundamentalistisches Weltbild. In Belgien und Frankreich waren es sogar 50 Prozent.

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Was haben Sie als „fundamentalistisches“ Weltbild definiert?
Wir haben die Zustimmung zu drei Aussagen abgefragt: Sollten Muslime zu den Wurzeln des Islam zurückkehren? Gibt es nur eine bindende Auslegung des Koran? Und: Sind religiöse Regeln wichtiger als säkulare Gesetze? Bei denen, die allen drei Aussagen zugestimmt haben, gehen wir von einem fundamentalistischen Weltbild aus. Und dieses Weltbild geht einher mit Feindseligkeit gegenüber anderen Gruppen. So lehnten zum Beispiel fast drei Viertel derjenigen mit fundamentalistischer Haltung Homosexuelle als Freunde ab und stimmten der Aussage zu, dass man „Juden nicht trauen kann“. Diesen Zusammenhang kennen wir auch aus Studien über christlichen Fundamentalismus. 

Haben Sie auch nach der Haltung gegenüber Frauen gefragt?
Wir haben nach den Geschlechterrollen gefragt. Wir haben gefragt, ob Mütter ­arbeiten sollten oder nicht. Oder ob Frauen außerhalb des Hauses ein Kopftuch tragen sollten. Das Ergebnis war, dass es auch hier einen starken Zusammenhang gab zwischen religiösem Fundamentalismus und der Befürwortung traditioneller Geschlechterrollen. Allerdings denkt der durchschnittliche Muslim nicht viel anders als der durchschnittliche Christ über die Frage, ob Frauen mit Kindern arbeiten sollten oder nicht: In beiden Religionsgruppen sind um die 50 Prozent dieser Meinung zugetan. Nur die Nicht-Gläubigen haben da emanzipiertere Vorstellungen. Ein weiterer wichtiger Befund: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau ein religiösfundamen­talis­tisches Weltbild hat, ist dann am höchsten, wenn sie ein Kopftuch trägt. Was nicht heißt, dass alle Kopftuch-Trägerinnen Fundamentalistinnen sind. Aber in vielen Fällen hat das Kopftuch sehr wohl eine Bedeutung: Es steht für eine konservative bis fundamentalistische Glaubensauffassung. Von den Kopftuchträgerinnen in den sechs europäischen Ländern haben mehr als 60 Prozent eine fundamentalistische Glaubensauffassung und 55 Prozent meinen, dass man Juden nicht trauen kann. 

Ihre Studie hat ergeben, dass eine solche islamistische Glaubensauffassung bei den jungen Befragten genauso stark vertreten ist wie bei den Älteren.
Bei Christen ist der religiöse Fundamentalismus deutlich stärker in der älteren Generation vertreten. Bei den Muslimen hingegen gibt es kaum einen Zusammenhang zwischen fundamentalistischen Einstellungen und Alter. Das ist beunruhigend. Und die Erklärung dafür liegt außerhalb Europas. Es wird oft behauptet, dass Radikalisierung eine Reaktion auf Ausschluss aus der Einwanderungsgesellschaft ist. Wenn das aber so wäre, dann müssten wir ja in den Herkunftsländern deutlich weniger Radikalisierung, Fundamentalismus und Fremdenfeindlichkeit finden. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die Einwanderung hat also die Muslime eher säkularisierter und liberaler gemacht. Dieser ganze religiöse Fundamentalismus ist in den islamischen Herkunftsregionen entstanden und nach Europa übergeschwappt. Natürlich sind dafür dann bestimmte Menschen anfälliger als andere, nämlich diejenigen mit schlechterer Bildung und ohne Job. Die denken zu 55 Prozent fundamentalistisch. Aber auch bei den Muslimen mit Hochschulabschluss und einem Job finden wir immer noch einen Prozentsatz von 21 Prozent mit fundamentalistischen Ansichten.

Sie haben festgestellt: Muslime sind die Migrantengruppe, bei der die Integration in den Arbeitsmarkt am schlechtesten funktioniert. Was sind die Gründe? 
Die landläufige These lautet ja: Die Ursache für die Nachteile von Muslimen am Arbeitsmarkt sind die so genannte Islamophobie, Diskriminierung und Ausgrenzung. Aber Studien, die das behaupten, messen Diskriminierung überhaupt nicht. Ich habe mir nun vier Faktoren angeschaut: Erstens die Sprachkenntnisse. Zweitens die Mediennutzung – also, ob jemand überwiegend die Medien des Herkunftslandes oder deutsche Medien nutzt. Drittens interethnische soziale Kontakte: Hat jemand deutsche Freunde, Nachbarschaftsbekannte und Familienmitglieder? Und viertens die ­Auffassung über die Rolle der Frau. Und wenn wir diese Faktoren mit einbeziehen, dann finden wir fast keine Unterschiede mehr zwischen dem Arbeitsmarkterfolg von ­Muslimen und Nicht-Muslimen. 

Ihre Studie heißt: „Funktioniert Assimila­tion?“ Assimilation gilt ja als „böses Wort“, weil es suggeriert, die Migranten sollten ihre kulturellen Wurzeln kappen.
Die historische Ursache für den schlechten Ruf des Begriffs ist, dass man zum Beispiel in Australien bei den Aborigines oder in den USA bei den Indianern versucht hat, die Kultur dieser Gruppen zu zerstören. Das ist natürlich aus guten Gründen in Verruf geraten. Und das habe ich selbstverständlich nicht gemeint. Der wesentliche Aspekt für den Erfolg von Integration ist nicht, dass man seine eigene Kultur aufgibt, sondern dass man sich die Kultur des Wohnlandes aneignet. Wenn aber zum Beispiel türkische Kinder mit ihren Eltern zu Hause Türkisch sprechen, darüber hinaus den ganzen Tag türkisches Fernsehen läuft und die Kinder auch nur mit anderen türkischen Kindern spielen, dann können sie, wenn sie mit sechs in die Schule kommen, oft einfach kein gutes Deutsch. Und es ist sehr schwierig, das wettzumachen. 

In den Medien war die Rede davon, Sie würden Migranten eine Art „Selbstdiskriminierung“ unterstellen.
Das Wort würde ich selbst nicht benutzen, weil natürlich niemand sich selbst bewusst schaden würde. Vielmehr haben wir Mi­granten über Jahrzehnte die falsche Botschaft eingeprägt, dass kulturelle Assimilation unwichtig und unerwünscht sei. Die Botschaft kam sowohl von Konservativen aus den Herkunftsländern wie der türkische Präsident Erdoğan, als auch von Anhängern des Multikulturalismus in den Einwanderungsländern. Wir sehen in Deutschland und auch in den Niederlanden die Tendenz, Migranten als Opfer wahrzunehmen, die nicht wirklich entscheidungsfähig sind und die wir folglich nicht wirklich ernst nehmen müssen. Und wir haben auch die Neigung, die Ursachen für Integrationsprobleme zu einseitig bei der aufnehmenden Gesellschaft zu suchen. Ich glaube, dass ­erfolgreiche Integration erst mal die Ver­antwortung der Person selbst ist, die eine Menge dafür tun kann. Und viele Migranten tun das auch. Dazu gehört der Spracherwerb, das Aufbauen von Kontakten zur Mehrheitsgesellschaft, sich nicht abzuschotten und auch die Übernahme bestimmter Auffassungen – zum Beispiel über die Emanzipation der Frau. Das ist ein Prozess, der in vielen Zuwanderergruppen stattfindet. Aber bei den Muslimen findet er langsamer statt und zum Teil stagniert er sogar. 

Warum? 
Das hat etwas mit der größeren kulturell-religiösen Barriere zu tun. Nehmen wir mal die Auffassungen über die Rolle der Frau. Die Vorstellung, dass Frauen ins Haus gehören, war ja auch bei uns lange religiös begründet, und der Islam ist da auch heute nicht sehr fortschrittlich. Und das erklärt zu einem großen Teil die geringe Arbeitsmarkt-Partizipation muslimischer Frauen. Nicht nur im Vergleich zu Frauen aus der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch im Vergleich zu Frauen aus ­anderen Migrantengruppen. Die haben nämlich zum Teil sogar eine höhere ­Arbeitsmarkt-Partizipation als deutsche Frauen, die ja in dieser Hinsicht auch nicht die fortschrittlichsten sind. Konservative religiöse Ansichten führen auch dazu, dass es weniger soziale Kontakte mit der Mehrheitsgesellschaft gibt als bei ­anderen Migrantengruppen. Wenn man zum Beispiel nicht möchte, dass verheiratete Frauen Kontakt haben mit Männern außerhalb der Familie, oder dass die eigenen Töchter mit fremden Jungs in Kontakt kommt, dann führt das zwangsläufig in die soziale Abschottung. Solche Integrationsbarrieren sind bei Muslimen leider weit verbreitet. Genauso wie Rechtsradikalismus nicht begrenzt ist auf ein paar Extremtäter, sondern bis in die Mitte der Gesellschaft reicht, so reicht auch der islamische Fundamentalismus bis in die Mitte der muslimischen Community.

Aber die Politik tut sich sehr schwer damit, das Problem zu benennen. Warum?
Weil die Realität nicht in das ideologische Weltbild von der bösen Aufnahmegesellschaft und den armen Migranten als diskriminierten Opfern passt. Da gibt es so eine neokolonialistische Idealisierung von Mi­granten als „edle Wilde“, denen dauernd geholfen werden muss, weil sie selbst keine Verantwortung tragen können. Der zweite Grund ist ein strategischer, nämlich die Vorstellung, dass man, wenn man das Problem benennt, alle Muslime stigmatisiert und gerade damit eine weitere Radikalisierung fördert. Das ist zum Beispiel die Linie in der Politik von Obama, der niemals das Wort Islam verwendet, sondern immer nur ganz allgemein von „Terrorismus“ spricht. 

Ist da nicht was dran?
Nicht viel. In der ganzen Integrations­debatte der 1980er und 1990er Jahre war der Islam überhaupt kein Thema. Da ging es um Nationalitäten oder in manchen Ländern auch um die Hautfarbe, um Türken oder Schwarze. Der Islam ist erst ein Thema geworden, nachdem in Kenia und Tansania die ersten Anschläge verübt wurden. Und dann kam der große Boom mit 9/11. Erst dann haben Leute wie Geert Wilders in den Niederlanden angefangen, den Islam als großes Problem zu definieren. Es ist also nicht so, dass die Radikalisierung der Muslime und das weltweite Aufkommen von Fundamentalismus eine Reaktion ist auf Islamfeindlichkeit. Die Islamfeindlichkeit ist eine Reaktion auf das Aufkommen von Fundamentalismus und Radikalisierung. 

Und wie sehen Sie die Rolle der muslimischen Verbände wie DITIB oder den Zentralrat der Muslime?
Diese sind Vertreter der großen Verneinungsthese: Fundamentalismus und Radikalisierung hätten mit dem Islam nichts zu tun und fänden in den muslimischen Gemeinschaften überhaupt keine Unterstützung. Stattdessen sollten sie anerkennen, dass sie ein massives Problem in den eigenen Reihen haben und aktiv dafür kämpfen, dem einen anderen, modernisierten Islam entgegen zu setzen. Das tut man nicht, in dem man das Problem verneint und die Schuld auf die Islamophobie und den Westen schiebt. Dabei gibt es sowohl in den muslimischen Communitys in Europa als auch in der muslimischen Welt insgesamt eine Polarisierung: Auf der einen Seite gibt es eine bisher noch viel zu wenig sichtbare Modernisierungsbewegung und auf der anderen Seite die Fundamentalisten, die lautstark das öffentliche Bild vom Islam prägen. Das ist typisch, denn Fundamentalismus ist immer einer Reaktion auf Modernisierung. Und da diese Modernisierung vor allem etwas ist, das von außen kommt, nämlich vom Westen, geht das fundamentalistische Weltbild einher mit einer großen Feind­seligkeit gegenüber dem Westen.

Der Nationalsozialismus war ja auch eine Reaktion auf die Moderne.
Genau. Der Nationalsozialismus war in dem Sinne ja auch eine fundamentalistische Bewegung, nur eben völkisch-nationaler und nicht religiöser Art. Ebenfalls mit einem ­reaktionären Geschlechterbild. Das findet man übrigens auch bei der AfD. Auch der Erfolg der AfD ist eine Reaktion auf einen Modernisierungsprozess: die Globalisierung. Die Flüchtlinge sind nur ein kleiner Teil davon, aber eben der, der am greifbarsten und am ehesten beeinflussbar scheint. Aber was ist mit den weltweiten Kapitalströmen und dem, was an der Börse und mit den Banken passiert und was niemand versteht? Die Wählerschaft der AfD gehört eher nicht zu den Gewinnern der Globalisierung. Das sind nicht zwingend nur Arbeitslose. Das ist auch die ältere Generation, die nicht so gut Englisch spricht. Leute in den ländlichen ­Regionen und ohne Hochschulabschluss, die nicht mal eben durch die Welt fliegen oder für einen Job ins Ausland gehen. Und wenn dann die Flüchtlinge kommen und mit jemandem, dessen Job gerade nach China verlegt wurde, um die gleichen Arbeitsplätze und Wohnungen konkurrieren, dann konzentriert sich das Schlachtfeld auf die Flüchtlingsfrage. Die ganze Diskussion ist emotional und moralisch extrem aufgeladen. Es ist ein Konflikt zwischen Gut und Böse. Das macht die Debatte manchmal extrem frustrierend für einen Wissenschaftler, der versucht, einen sach­lichen Beitrag zu leisten.

Sie gehören für manche eindeutig zu den „Bösen“. Zum Beispiel für einige Ihrer Studenten, die Ihnen vorwerfen, mit Ihren Studien „den Nährboden für antimuslimischen Rassismus“ zu liefern. 
Mit den Studenten in meinen Seminaren, in denen meine Studien Thema waren, gab es überhaupt keine Probleme. Erst als ich mit den Studien in den Medien war, haben andere Studenten ein Pamphlet auf Facebook veröffentlicht. Aber es ging offenbar nicht darum, eine sachliche Diskussion zu führen, was ja an einer Uni üblich wäre: Wenn du nicht einverstanden bist mit dem, was ein Prof publiziert, dann sprichst du ihn an oder lädst ihn zu einer Diskussion ein. Dafür sind Universitäten doch da. Stattdessen haben sie ihre Kritik der Welt kundgetan und Interviews gegeben, ohne auch nur ein einziges Wort mit mir gesprochen zu haben. Am 9. November wird die Diskussionsveranstaltung, die wir gleich am Anfang hätten führen können, nun stattfinden. 

Ihre Studienergebnisse wurden in der Tat ausgerechnet in Deutschland lange ignoriert.
Eher linksgerichtete Medien wie die Süddeutsche, die Frankfurter Rundschau oder der Tagesspiegel haben bis heute nicht über meine Forschung berichtet. Erst als die Kritik von ein paar Studenten aufkam, haben sie das Thema plötzlich aufgegriffen. Es gibt also links durchaus eine gewisse Tabuisierung. Die Debatte um das Burkaverbot ist ein Beispiel dafür. Statt einem Austausch von Argumenten für und dagegen, wird da sofort gesagt: „Das ist verfassungsfeindlich!“ Das vergiftet aber die Debatte, weil man den Befürwortern eines Verbots unterstellt, sie seien keine Demokraten. Dabei haben unsere Nachbarstaaten Frankreich und Belgien ein solches Verbot und sind immer noch funktionierende Demokratien. Was nicht heißt, dass ich für ein allgemeines Burkaverbot bin, aber ich finde schon, wir sollten darüber diskutieren können, ohne den anderen gleich zu unterstellen, er sei ein Rassist oder Verfassungsfeind. 

Interessiert sich die Politik inzwischen für Ihre Erkenntnisse? 
Seit der Flüchtlingskrise habe ich verstärkt Einladungen von Ministerien oder Parteien bekommen. Die Grünen haben mich allerdings noch nie eingeladen. Doch, früher einmal. Aber was ich gesagt habe, hat ihnen, glaube ich, nicht gefallen.

Sie sind ja selbst früher Mitglied bei den niederländischen Grünen gewesen.  
Ja, und ich verstehe mich weiterhin als Linksliberaler. Ich verstehe nur manchmal die Linksliberalen nicht mehr. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der eine kritische Haltung gegen religiöse Orthodoxie zum Inbegriff von „links“ gehörte. Und die Verteidigung der Rechte von Frauen und Homosexuellen oder die Opposition gegen antisemitische Tendenzen scheint mir ebenfalls Teil eines linken Weltbilds zu sein. Aber ein Großteil der Linken verteidigt heute religiöse Konservative, die sie ein paar Jahrzehnte vorher, als es christliche Konservative waren, noch angegriffen hatten. Das ist für mich einfach unverständlich. 

Sie sind selbst mit einer Türkin verheiratet.
Meine Frau bestätigt mich in meiner Haltung. Sie kommt aus einer religiös liberalen alevitischen Familie und die ist über die fundamentalistischen Tendenzen in der Türkei sehr besorgt.

Das Gespräch führte Chantal Louis. 

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Mozn Hassan: Universelle Probleme

Mozn Hassan: "Wir sind eine feministische Bewegung!" - Foto: Roger Anis/Right Livelihood Award Foundation
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Keine Frage: Doria Shafik, die große ägyptische Frauenrechtlerin, die 1948 die erste Frauenrechtsorganisation Ägyptens gründete, wäre stolz auf ihre Nachfolgerin Mozn Hassan. Die wurde für ihren Kampf für Frauenrechte gerade mit dem "Right Livelihood Award", dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Die Preisträgerin konnte den Preis allerdings nicht persönlich entgegennehmen. Denn sie steht zurzeit in Kairo vor Gericht und die Behörden verweigern ihr die Ausreise. Der Vorwurf: Ihre Organisation "Nazra for Feminist Studies" werde illegal vom Ausland finanziert.

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"Wir sind eben keine nette, akzeptable Frauenorganisation, die Entwicklungsarbeit betreibt", sagt Mozn Hassan. "Wir sind eine feministische Bewegung!" Seit 2007 kämpft die 37-Jährige mit "Nazra" für Frauenrechte: Während des "Arabischen Frühlings" und der sexuellen Gewalt nicht nur auf dem Tahir-Platz in Kairo, organisierten Mozn und ihre Mitstreiterinnen medizinischen, psychologischen und juristischen Beistand für die Opfer. "Nazra" sorgte dafür, dass die sexuelle Belästigung ein Straftatbestand wurde.

"Der Right Livelihood Award würdigt nicht nur die Arbeit von Nazra, sondern ein ganzes Jahrhundert an feministischem Aktivismus in Ägypten. Aktivismus, der uns inspiriert hat, und den wir mit unserer ganzen Kraft fortsetzen werden", sagt Mozn Hassan, die sich am Abend der Preisverleihung per Videobotschaft meldete. Vielleicht sorgt die internationale Anerkennung ja dafür, dass Mozn Hassan nicht im Gefängnis landet, sondern sich weiter für Frauenrechte einsetzen kann.

So wie in diesem Artikel über die Silvesterübergriffe in Köln. Darin zieht die Ägypterin die Parallele zwischen Tahrir-Platz und Hauptbahnhof. Und sie bezichtigt so manche westliche Feministin der "Komplizenschaft mit dem Patriarchat". Hier ihr (gekürzter) Text:

Von Ägypten nach Deutschland
Eine feministische Perspektive auf die Attacken in Köln

Wir sind überzeugt, dass feministische Solidarität ein universelles, grenzüberschreitendes Konzept ist. Deshalb glauben wir, dass es unsere Verantwortung ist, sexuelle Gewalt anzuprangern, wo immer sie auftritt, und solidarisch mit den Opfern zu sein, wer und wo immer sie sind.

Das Dilemma westlicher Feministinnen im Hinblick auf die Silvesternacht in Köln (und in acht weiteren deutschen Städten) erinnert uns an unsere eigenen Erfahrungen mit den massenhaften sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen rund um den Tahrir-Platz. Als der „arabische Frühling“ begann, haben auch wir bei den demokratischen Kräften heftige Widerstände beobachtet, zuzugeben, dass es diese sexuellen Attacken auf Frauen gab - bei Demonstrationen und generell im öffentlichen Raum. Dabei hatten diese Attacken schreckliche Formen angenommen, von Massen-Überfällen bis hin zu Vergewaltigungen mit scharfen Gegenständen.

Für die Weigerung, das Problem zu benennen, gab es mehrere Gründe: Erstens gilt sexuelle Gewalt nicht als politisches Problem. Also werden Frauenrechte beiseite gefegt, zugunsten von Problemen, die man größer und wichtiger findet, zum Beispiel „die Revolution“ oder die Rechte von Migranten. Und so wie viele die Augen vor den Übergriffen auf dem Tahrir-Platz verschlossen haben, aus Angst, den Ruf der Revolution zu untergraben, so befürchteten viele, dem Ruf von Flüchtlingen und Migranten zu schaden, wenn sie die Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof verurteilten.

Die Kölner Silvesternacht erinnert uns an unsere eigenen Erfahrungen

Haben diese Übergriffe etwas mit der arabischen oder muslimischen Herkunft der Täter zu tun? Wie können wir diese Attacken verurteilen und ihre – unter anderem kulturellen – Wurzeln benennen, ohne in die Falle zu tappen, zu verallgemeinern oder gar rassistisch zu werden? Oder zum Erstarken rassistischer Bewegungen beizutragen.

Als ägyptische Feministinnen, die in den letzten fünf Jahren mit vielen Aktionen gegen sexuelle Gewalt gekämpft haben, schauen wir auf die Verbrechen von Köln mit Blick auf unsere Gesellschaft und unsere Realität, in der wir fast täglich Opfer sexueller Gewalt werden. Wir schauen auf Köln mit einer feministischen Perspektive, die einhergeht mit unserem festen Glauben an die Rechte von Flüchtlingen und unserem Kampf gegen Rassismus. Aber diese Perspektive bedeutet nicht, dass wir Frauenrechte gegen diese Prinzipien aufrechnen.

Die Frage, um die es hier geht, ist zuerst und vor allem eine Geschlechterfrage. Diese Übergriffe nicht zuallererst als einen Fall von sexueller Gewalt auf Frauenkörper zu sehen, ist Komplizenschaft mit patriarchaler Gewalt. Natürlich brauchen Flüchtlinge und Migranten Schutz vor Rassismus und Diskriminierung. Aber Frauen haben auch das Recht, vor Männergewalt geschützt zu werden. Deshalb sollte nichts, auch keine politische Rücksichtnahme, eine höhere Priorität haben als das Recht der angegriffenen Frauen. Die Tatsache, dass sie von Mitgliedern einer ebenfalls unterprivilegierten Gruppe angegriffen wurden, macht das Verbrechen nicht weniger abscheulich.

Eine Debatte, die die Angriffe rechtfertigt oder verschleiert, indem sie die Täter selbst als „Opfer“ oder „Unterprivilegierte“ betrachtet, ist - auch wenn sie auf den ersten Blick das Gegenteil zu sein scheint - in Wahrheit erniedrigend für Migranten. Wenn man Rassismus entgegentreten will, indem man die schwierige Lage arabischer Flüchtlinge und Migranten romantisiert, läuft das auf maskierten Rassismus hinaus. Denn man tut so, als könne man an diese Männer niedrigere ethische Standards anlegen als an andere. Wir denken hingegen, dass Flüchtlinge und Migranten für ihre Handlungen verantwortlich sind.

Das Patriarchat ist ein weltweites Phänomen, kein exklusiv arabisches

Es geht hier weder darum zu behaupten, dass alle Araber und Muslime gewalttätig gegen Frauen sind, noch darum, der Behauptung vom „Clash der Kulturen“ zu folgen, wonach die östliche Kultur von Natur aus rückwärtsgewandt ist und die westliche von Natur aus fortschrittlich. Das Patriarchat ist ein weltweites Phänomen, kein exklusiv arabisches oder muslimisches. Die Diskriminierung von Frauen wird nicht ausschließlich von Männern aus dem Mittleren Osten begangen.

Trotzdem ist es unmöglich zu ignorieren, dass die Mehrheit der Täter in Köln entweder arabische Flüchtlinge waren oder deutsche Bürger arabischer und muslimischer Herkunft. Und es gibt keinen Zweifel, dass viele politische Rechte von Frauen und ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung in unseren Gesellschaften nicht garantiert werden - und dass die meisten Frauen in westlichen Gesellschaften solche Rechte und Freiheiten genießen. Zum Beispiel das Recht, sich frei zu bewegen; das Recht, sich zu kleiden, wie man möchte; oder das Recht auf freie Partnerwahl. Rechte, um die wir noch kämpfen.

Es kann ebenfalls nicht bestritten werden, dass sexuelle Gewalt ein grassierendes Phänomen ist, das wir in vielen arabischen Ländern und Ländern des Mittleren Ostens täglich erleben. Eine große Rolle dabei spielt die „private“ Gewalt. Dabei geht es nicht nur um krasse Formen wie Häusliche Gewalt oder Genitalverstümmelung, sondern auch um die eingeschränkte Bewegungsfreiheit von Frauen und die Kontrolle von Männern über Frauen und ihre Sexualität. Diese Überwachung befördert die Vorstellung, dass Frauen nicht im Vollbesitz ihrer selbst sind, sondern Männern „gehören“ – dem Vater, dem Bruder, dem Ehemann. Sexuelle Gewalt im öffentlichen Raum ist eine Fortsetzung dieser patriarchalen Vorstellung, in der das Auftreten von Frauen in der Öffentlichkeit nicht gern gesehen wird und die es Männern leichtmacht, solche Frauen als Freiwild zu betrachten. Gleichzeitig fordert der Staat keinen Respekt gegenüber Frauen ein und toleriert Gewalt gegen Frauen, indem er sich entweder weigert, entsprechende Gesetze zu erlassen oder bestehende Gesetze anzuwenden.

Natürlich gibt es Ausnahmen und die Situation der Frauen ist von Land zu Land unterschiedlich. Und manchmal gibt es auch Fortschritte zu verzeichnen, die Frauen erkämpft haben. Dennoch müssen wir der Tatsache ins Auge blicken, dass der vorherrschende Trend in unseren Gesellschaften der ist, die Freiheit der Frauen immer weiter zu beschneiden.

Der Trend geht dahin, die Freiheit der Frauen immer weiter zu beschneiden

Jahrzehntelang war der Postkolonialismus ein wichtiger Bestandteil der feministischen Bewegung, die den Klischees vom Mittleren Osten als „rückständig“, „reaktionär“ und „barbarisch“ etwas entgegensetzen wollten. Die Grundidee dabei war der Multikulturalismus: Die europäische Lebensart und Werte sollten den anderen Gesellschaften nicht als „besser“ aufgezwungen werden, Fortschritt sollte nicht zwingend an das europäische Vorbild gebunden sein. Die Kultur anderer Länder sollte als „anders“ betrachtet werden, nicht als rückständig.

Obwohl diese „postkolonialistische“ Position irgendwann einmal ihre Relevanz hatte, als es darum ging, kolonialistischen Vorurteilen zu bekämpgen, ist sie jetzt für uns hochproblematisch. Denn für die Art der Unterdrückung, mit der wir es heute zu tun haben und gegen die wir kämpfen, ist sie kontraproduktiv.

Sicher, kulturelle Vielfalt und verschiedene Lebensformen sollten respektiert werden. Aber es gibt universelle Werte, die die Grundlage für Rechte und Freiheit sind. Und zu diesen Werten gehört ganz sicher nicht, Frauen ihr Recht auf Bewegungsfreiheit zu beschneiden; ihr Recht einzuschränken, anzuziehen, was sie wollen oder über ihre Sexualität zu bestimmen.

Ein großes Problem ist, dass diese Art Postkolonialismus, den manche westliche Feministinnen heute vertreten, arabischen Feministinnen einen Maulkorb verpasst, indem man sie als Sprachrohr des Kolonialismus betrachtet, wenn sie sich gegen die patriarchale Gewalt in ihren Ländern wenden und wenn sie die universellen Werte verteidigen, die manche als „westlich“ bezeichnen. Es scheint, dass wir die patriarchalen Gepflogenheiten im Mittleren Osten verurteilen dürfen, zuerst bedenken sollen, was Europäer über unsere Proteste denken könnten – und das dann für wichtiger befinden sollen als die Rechte und die Sicherheit von Frauen. So bestimmen die Postkolonialistinnen, worüber arabische Feministinnen sprechen dürfen - und worüber nicht.

So manche westliche Feministin hat sich zur Komplizin der Täter gemacht

Konsequenterweise ist die erste Reaktion dieser Feministinnen, wenn europäische Frauen von arabischen Männern attackiert werden, ihre Komplizenschaft mit den Tätern. Komplizenschaft heißt in diesem Fall nicht, dass sie die Übergriffe nicht verurteilen, sondern dass sie darauf bestehen, dass sie absolut nichts mit dem kulturellen Hintergrund der Täter zu tun hätten. Als ob wir Frauen im Mittleren Osten nicht jeden Tag unter dieser Art Gewalt leiden würden. Und als ob es keine sexuelle und andere Gewalt gegen Frauen in den Flüchtlingsunterkünften gäbe.

Dass das Problem von Rassisten instrumentalisiert wird, ist auch deshalb möglich, weil es ihnen zu lange überlassen wurde. Die „Befreiung“ unserer Gesellschaften ist nicht nur eine Befreiung von Diktatoren und Imperialismus, sondern auch von extremistischen und fundamentalistischen „Werten“. Europäische Feministinnen sollten uns in unserem Kampf unterstützen, anstatt ihn als „imperialistisch“ abzutun.

Mozn Hassan

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