Lesbische Mütter in Angst

In "Carol" verliert Clate Blanchett das Sorgerecht für ihre Tochter. Foto: Wilson Webb
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Es war im März 2015, als Kirsten Plötz nach einem Vortrag im queeren Zentrum „Bar jeder Sicht“ in Mainz von einer Frau angesprochen wurde. Die Frau, etwa Mitte sechzig, sagte: „Mir haben sie damals bei der Scheidung mein Kind weggenommen.“ Die Geschichte, die diese lesbische Mutter der Historikerin Plötz dann erzählte, brachte den Stein ins Rollen.

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Denn Kirsten Plötz begriff, dass sie es hier womöglich mit einer der schlimmsten Diskriminierungen homosexueller Frauen in der Geschichte der Bundesrepublik zu tun hatte. Ein UngerechtigUnrecht, das in seinem Ausmaß bis dato niemand kannte. Auch die Historikerin nicht, und das, obwohl sie seit Jahrzehnten zu lesbischer Geschichte forscht.

Die Frau, nennen wir sie Frau Schmidt, berichtete Folgendes: Sie hatte Ende der 1960er sehr jung geheiratet. Als Mädchen hatte sie gelernt, dass „man nicht viel verlangen und schön brav sein soll“. Man brauche „einen Versorger“ und solle „dann möglichst schnell Kinder kriegen, das war ja die Aufgabe“. Ihr Mann habe sie „wie eine Gefangene gehalten“ und irgendwann auch „das Brüllen und das Schlagen angefangen“. Nach zehn Jahren Ehe, in denen sie zwei Töchter bekam, verliebte sich Frau Schmidt in eine Frau. Noch blieb sie bei ihrem Mann. Doch als der bei einem gemeinsamen Urlaub im Sommer 1980, zu dem sie sich hatte überreden lassen, „so ausgetickt ist, dass er mir den Hals zudrückte“, flieht sie mit den Kindern noch in derselben Nacht. Jetzt trennt sie sich endgültig und zieht mit ihrer Freundin zusammen.

Der Mann beantragt die Scheidung. Er schreibt böse Briefe ans Gericht. „Und er ist herumgerannt in der Nachbarschaft und hat Unterschriften gesammelt auf seinem Pamphlet, dass mir die Kinder weggenommen werden müssten. Die Nachbarinnen, die mir immer ihre Kinder zur Betreuung gegeben hatten, haben unterschrieben.“

Aus der guten Ehefrau ist durch die Trennung die böse Lesbe geworden

Für Frau Schmidt ist selbstverständlich, dass die beiden Töchter bei ihr leben werden. Schließlich war sie bisher die Hauptbezugsperson für die Kinder gewesen – und ihr Mann gewalttätig. Doch das sieht die Richterin am Familiengericht Mainz ganz anders. Sie gibt dem Antrag des Ehemannes statt und spricht ihm das Sorgerecht für die ältere Tochter zu. Die jüngere will er gar nicht bei sich haben. „Es ging ihm ja nicht um die Kinder, sondern darum: Wie kommt er auf null bei den Unterhaltszahlungen?“ Obwohl das Jugendamt und ein Gutachter eine „große Not“ und eine „schwere Betroffenheit und Verletzung des Kindes“ feststellen und sich dafür aussprechen, dass beide Töchter bei ihrer Mutter leben sollten, erklärt die Richterin: „Eine Rückführung des Kindes zur Antragsgegnerin ist unter keinem Gesichtspunkt im Interesse der Kinder. Die Antragsgegnerin, nach der das Kind Heimweh hat, gibt es so nicht mehr, wie das Kind die Mutter vor deren Ausbruch aus der Ehe erfahren hat.“ Die habe schließlich „ihre lesbischen Beziehungen fortgesetzt“. Will heißen: Aus der guten Ehefrau ist die böse Lesbe geworden.

Von der Gewalttätigkeit des Vaters steht im Urteil: nichts. „Bei ihm hat man unter den Tisch fallen lassen, was er gemacht hat. Es hat keinen Menschen interessiert. Der konnte einen schlagen und mehr – wichtig war, dass ich lesbisch war!“ Die „schockierte“ Frau Schmidt zieht aus dem Verfahren einen Schluss: „Dann halte ich jetzt möglichst still, sonst holen sie dir auch noch das andere Kind weg. Bloß nicht auffallen! Nicht sichtbar sein!“

Kirsten Plötz ist ebenfalls schockiert, auch, weil ihr klar wird, dass Frau Schmidt mit Sicherheit kein Einzelfall ist. Wie sind Behörden und Justiz nach 1945 eigentlich mit Müttern umgegangen, die im Laufe ihrer oft sehr früh geschlossenen und so manches Mal erzwungenen Ehe feststellten, dass sie eigentlich Frauen lieben? Hat man ihnen systematisch die Kinder weggenommen? Und wie oft sind Frauen in ihren unglücklichen Ehen geblieben, damit genau das nicht passiert? Und wenn sie doch gingen: Wie oft mussten sie sich in Scheidungsverfahren von ihren Männern erpressen lassen? Motto: „Wenn du nicht auf das Haus verzichtest, sage ich, dass du jetzt mit einer Frau lebst – und dann verlierst du die Kinder?“ Das will die Historikerin Plötz jetzt wissen. „Das Thema hat mich nicht mehr losgelassen.“ Sie macht sich an die Forschungsarbeit.

Was lesbischen Müttern und ihren Kindern noch bis in die 1990er Jahre widerfuhr, war „ein Skandal“, erklärt Historikerin Plötz.

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