Maxi Wander: "Guten Morgen, du Schöne"

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Nachfolgend ein Auszug aus einem Text von Christa Wolf zum Tod von Maxi Wander 1977 (Wander wurde mit ihren Protokollen aus dem Leben von Frauen, "Guten Morgen, du Schöne", bekannt).

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Ökonomisch und juristisch sind wir den Männern gleichgestellt, durch gleiche Ausbildungschancen und die Freiheit, über Schwangerschaft und Geburt selbst zu entscheiden, weitgehend unabhängig, nicht mehr durch Standes- und Klassenschranken von dem Mann unserer Wahl getrennt; und nun erfahren wir (wenn es wirklich Liebe ist, was wir meinen, nicht Besitz und Dienstleistung auf Gegenseitigkeit), bis zu welchem Grad die Geschichte der Klassengesellschaft, das Patriarchat, ihre Objekte deformiert hat und welche Zeiträume das Subjektwerden des Menschen - von Mann und Frau - erfordern wird. Immer noch müssen viele Frauen sich verstellen, damit ihre Liebe zum Tauschwert für das unreife Liebesverlangen vieler Männer werden kann (,Man muß den Männern etwas vorspielen, sonst verschreckt man sie').
Obwohl es sehr schwierig ist, finden diese Frauen heraus, daß auch Frauen einander lieben, miteinander zärtlich sein können. Daß sie den Rückzug des im Außendienst starken Mannes auf infantiles Verhalten in ihren Armen nicht mehr decken wollen. Also fliehen sie das ,enge Schlafzimmer', in das sie mit ihrem Mann ,verbannt' sind, finden sich mit der Gefühlsverkrümmung nicht mehr ab, an der viele Männer durch generationenlangen Anpassungszwang an ,zweckmäßige' Verhaltensweisen leiden, verweigern die Mutterrolle und lassen sich scheiden.
Sie zahlen für ihre Unabhängigkeit mit einem schwer erträglichen Schmerz, oft mit Alleinsein, immer mit zusätzlicher Arbeitslast, meist mit schlechtem Gewissen gegenüber Mann, Kindern, Haushalt, Beruf, dem Staat als Über-Mann. Erst wenn wir - unsere Töchter, Enkel - nicht mehr schlechten Gewissens sind, werden wir wirklich gewissenhaft handeln, erst dann werden wir den Männern helfen können, jenen Unterordnungs- und Leistungszwang wahrzunehmen, der vielen von ihnen, historisch bedingt, zur zweiten, verbissen verteidigten Natur geworden ist. Erst dann werden die Männer ihre Frauen wirklich erkennen wollen. ,Ich habe noch keinen gekannt, der dahinterkommen wollte, wie ich wirklich bin und warum ich so bin.' [...]
Und doch: wieviel Solidarität untereinander, wieviel Anstrengung, die eigene Lage zu erkennen, wieviel Spontaneität und Erfinderlust in ihren Selbsthilfeunternehmen, wieviel Phantasie, welche Vielfalt. Ich kann nicht finden, daß wir in der DDR gar nichts davon zu lernen hätten.
Durch viele Anzeichen, nicht zuletzt in diesem Buch, kündigt sich nämlich bei uns ein Ungenügen vieler Frauen an: Was sie erreicht haben und selbstverständlich nutzen, reicht ihnen nicht mehr aus. Nicht mehr, was sie haben, fragen sie zuerst, sondern: Wer sie sind. Sie fühlen, wie ihre neue Rolle sich schon zu verfestigen beginnt, wie sie sich in den Institutionen plötzlich nicht mehr bewegen können; ihre Lebenslust ist groß, ihr Wirklichkeitshunger unersättlich.
Also berühren sie, tastend noch, die neuen Tabus, denn die Veränderungen werden immer da am heftigsten weitergetrieben, wo sie am tiefgreifendsten waren. Die Möglichkeit, die unsere Gesellschaft ihnen gab: zu tun, was die Männer tun, haben sie, das war vorauszusehn, zu der Frage gebracht: Was tun die Männer überhaupt? Und will ich das eigentlich?
So äußert sich ein neues Zeit- und Lebensgefühl (übrigens auch bei jungen Männern). Frauen, durch ihre Auseinandersetzung mit realen und belangvollen Erfahrungen gereift, signalisieren einen radikalen Anspruch: als ganzer Mensch zu leben, von allen Sinnen und Fähigkeiten Gebrauch machen zu können.
Dieser Anspruch ist eine große Herausforderung für eine Sozietät, die, wie alle Gemeinwesen des Zeitalters, ihren Gliedern mannigfache Zwänge auferlegt, zum Teil auferlegen muß; immerhin hat sie selbst, wissentlich oder nicht, diesen Anspruch geweckt; mit Frauenförderungsplänen, mit Krippenplätzen und Kindergeld allein kann sie ihm nicht mehr begegnen; auch damit nicht, glaube ich, daß sie mehr Frauen in jene Gremien delegiert, in denen überall in dieser Männerwelt, auch in unserem Land, die ,wichtigen Fragen' von Männern entschieden werden.
Wir werden uns daran gewöhnen müssen, daß Frauen nicht mehr nur nach Gleichberechtigung, sondern nach neuen Lebensformen suchen. Vernunft, Sinnlichkeit, Glückssehnsucht setzen sie dem bloßen Nützlichkeitsdenken und Pragmatismus entgegen - jener ,Ratio', die sich selbst betrügt: Als könne eine Menschheit zugleich wachsende Anteile ihres Reichtums für Massenvernichtungsmittel ausgeben und ,glücklich' sein; als könne es ,normale' Beziehungen unter Menschen irgendwo auf der Welt geben, solange eine Hälfte der Menschheit unterernährt ist oder Hungers stirbt. Das sind Wahnideen. Es kommt mir vor, daß Frauen, denen ihr neu und mühsam erworbener Realitätsbezug kostbar ist, gegen solchen Wahn eher immun sind als Männer. Und daß die produktive Energie dieser Frauen deshalb eine Hoffnung ist.

Der Text ist ein Auszug aus dem Vorwort von "Guten Morgen, du Schöne" von Maxi Wander.

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