Queer durch Berlin

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Treffpunkt mit der Fotografin Bettina Flitner in Charlottenburg. Ziel der Mission: In einer Nacht so viele queere Locations wie nur möglich heimzusuchen und queeres Berliner Nachtleben einzufangen. "Und, wo fahren wir jetzt hin?" fragt Bettina. "Wir fangen im Norden an, arbeiten uns nach Süden weiter vor, und fahren dann Richtung Westen. Mal sehen, wie viel wir schaffen." Also auf zum Zoo und mit der U2 Richtung Prenzlauer Berg.

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Im Waggon nebenan entdecke ich eine Transe. Bei der nächsten Station steigen wir um und sprechen sie an. Sie versteht überhaupt nicht, was wir wollen. Sie ist Bulgarin. "Spricht hier jemand Bulgarisch?" fragen wir die Fahrgäste. Amüsiert schütteln sie den Kopf. Mit Händen und Füßen mache ich mich verständlich. Knips-knips-Foto-du-Magazin-blätter-blätter-groooßes Magazin. "Ahhh", sie hat verstanden und schmeißt sich in Pose.

Ein Mädchen steigt zu – queer gestylt, verwuschelt gegelte Kurzhaarfrisur, ärmellose Weste, tief angesetzte Hüfthose. Annelie ist mit einer Freundin auf dem Weg zu einer Party. "Geht ihr in eurem Alter überhaupt noch aus?" fragt sie uns. Sehen wir schon so alt aus?! "So war das doch nicht gemeint", rudert Annelie zurück. "Wo geht ihr denn so hin?" fragt sie ablenkend. Ich zähle auf: Sonntags-Club, Silverfuture, Rauschgold, SchwuZ, WirrWarr … Kennen die beiden nicht. "Was ist für dich queer?" frage ich. Annelie: "Durchgedreht, verrückt und nicht volkstümlich", sagt sie.

Wir rattern weiter Richtung Prenzlauer Berg. Ich erzähle Bettina vom Sonntags-Club, unserer ersten Station: Dort "arbeiten Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle unter einem Dach und sie arbeiten, was nicht immer selbstverständlich ist, zusammen". Das Ergebnis ist eine gelungene Mischung aus Feiern, Kultur, Veranstaltungen, Beratung und Netzwerk. Ziel ist, "queeren Menschen einen Schutzraum anzubieten, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen und mit ALLEN 'draußen' ins Gespräch zu kommen, z.B. durch eine historische Ausstellung über Schwule und Lesben in Pankow (2010) oder Schulveranstaltungen".

Der Club ist offen für jede/n, auch für Gruppen, wie z.B. Lesben 45plus, Schwule in den 30ern, junge Trans*Gruppe oder TransAnders. Die BesucherInnen danken es mit großem Zulauf, den hat sich der Sonntags-Club – entgegen massiver Widerstände noch zu DDR-Zeiten – über Jahrzehnte hart erarbeitet. Die großen Fenster sind einsehbar, kein Verstecken, kein Verhängen. Eine bunt gemischte queere Truppe, alt und jung, sitzt in gemütlicher Runde an den mit Miniflaggen dekorierten Tischen. Eine der OrganisatorInnen des Sonntags-Club sorgt dafür, dass vor dem Fotografieren eine offizielle Ansage an das Publikum erfolgt. Wir fühlen uns wohl, die Gäste auch.

Weiter geht’s, mit der S-Bahn nach Neukölln ins Silverfuture. Das Kollektiv, das die Location betreibt, formuliert seine klare Ansage auf einem Zettel am Tresen: "Congratulations: Hier endet der heteronormative Sektor". Nicht geduldet werden "sexismus, homophobie, transphobie, antisemitismus, rassismus, nationalismus, antiziganismus, antizionismus und aggressives, gewalttätiges oder ignorantes verhalten". Auf dem Bild an der Wand (Erbstück des Dragfestivals Berlin 2008) reckt eine "Superheldin" mit behaarten Beinen kämpferisch die Faust.

Ich bin froh, dass Raoul heute Abend hier ist, denn er kann mir sagen, ob sich das Plenum für oder gegen das Fotografieren entschieden hat. "Wir haben schlechte Erfahrungen mit der Presse gemacht. Die kommen einfach rein und fotografieren ohne zu fragen." Doch Bettina darf fotografieren. Micky und Lola, unsere Models, wollten "heute Abend eigentlich zu Hause bleiben", aber "mit diesem silbernen Kleid in der Einkaufstüte ging das einfach nicht". Für das Publikum ist des Silverfuture "die beste queere Location der Stadt". Bei allem Spaß am Posieren und queeren Ausgehen weisen die beiden nachdrücklich darauf hin, "dass wir das für die EMMA gerne machen. Aber noch wichtiger ist uns der Hinweis auf die aktuelle Situation des AHA und des SO36."

Die AHA (Allgemeine Homosexuelle Arbeitsgemeinschaft e.V.) "ist mit 35 Jahren der älteste, noch bestehende queere Verein Deutschlands. In den Anfängen rein schwul, wurde er mehr und mehr zu einem Hafen für Transgenderprojekte, wie das Wigstöckel oder die Drag Kingz of Berlin. Ende 2008 musste die Aha ihre Räume aufgeben und ist seitdem on the road. Das AHA-Inventar lagert im Keller des befreundeten Vereins TransInterQueer e.V. Die Mitmachshow wanderte aus ins Silverfuture. Ab Herbst 2009 hofft die AHA wieder eigene Räume beziehen zu können: "Unter den nichtkommerziellen Projekten in Berlin gibt es eine tolle queere Solidarität!"

Nicht nur queere, sondern jede Art von Solidarität benötigt derzeit die Kreuzberger Kulturlegende SO36. Betreiber der Halle ist der Verein Sub Opus 36 e.V., der sich selbst als "kulturfördernder Initiator" versteht. Als solcher bietet er auch Raum für Café Fatal, Kiezbingo oder die Gayhane-House of Halay-Party. Das SO36 könnte dieses Jahr entspannt sein 30-jähriges Bestehen feiern, wäre da nicht ein Nachbarschaftskonflikt eskaliert. Mittlerweile fordert das Bezirksamt bauliche Schallschutzmaßnahmen, die der Verein nicht bezahlen kann. Dem SO36 droht nun die Schließung. Das wäre ein Kahlschlag, der Berlin kulturell nur ärmer und nicht sexier machen würde. (Infos www.so36.de)

Es ist spät. Wir hetzen zum WirrWarr und stehen leider vor verschlossenen Türen. Weiter geht es zur Galerie Studio St.St. Mittlerweile ist es weit nach Mitternacht, es gießt in Strömen. Die Show ist zwar schon vorbei, doch Juwelia freut sich trotzdem, dass wir gekommen sind. Ihre "Transidreaming"-Lounge ist detailreich aufgeplüscht und aufgerüscht, fast so schön wie der Queer-Klassiker Roses. Juwelia stellt hier ihre Kunstwerke aus und am Wochenende tritt sie mit Zsa Zsa und Beverly auf: Show ("Schönheitswahn mit Apfelkompott"), Chanson und Theater.

"Ich bin ja so verliebt in mich, hach ist das anstrengend", seufzt Juwelia in ihren Fummel, platziert sich à la Diva auf ihrem Bühnensofa und wippt verführerisch mit den Pantoletten. Extra für uns trällert sie ein Liedchen. Wir danken und rasen weiter zum Mehringdamm, einem der queeren Zentren der Stadt.

Dort angekommen, gönnen wir uns im pink-goldenen Ambiente des Drama eine Atempause. Hier lässt sich es auch tagsüber trefflich schauen, staunen, plaudern. Mega charming und lecker wie der Kaffee ist hier das gesamte Service-Team. Nachts ist das Drama ein Erholungsknotenpunkt zwischen SchwuZ und Rauschgold.

1977 gegründet ist das SchwuZ eine feste Größe im queeren Berlin. Durch die Räume des SchwuZ-Cafés Melitta Sundström gehen wir in den Keller, wo sich Tanzwütige austoben – schwule Männer zu Techno auf dem einen, queeres Jungvolk zu Independent auf dem anderen Dancefloor. Schade, dass heute Nacht nicht die Disco-Kracher-Party "Bump" stattfindet. Und siehe da, da ist die Transe, die ich vorhin in der U-Bahn aus den Augen verloren hatte.

Ticktack ticktack, wir müssen unbedingt noch rüber ins Rauschgold. Mit einem "Haaaach, wie schöööön, dass ihr hier seid" fällt mir Sally Morell um den Hals. "1.500 Tage Rauschgold" werden hier seit gestern gefeiert. Eine Geburtstagsparty für vier Jahre scham- und hemmungslose Shows, schrille Schlampenbar-Events und schräge Walk of Fame-Karaokes. Hier brennt auch heute Nacht der Tresen, wenn Sally Morell "I am what I am" schmettert.

Die Schwulen rufen "Bauch einziehen", ein verliebtes Lesbenpärchen knutscht. Anmutig performed Estelle "What’s going on", die Leute klatschen, singen mit. Ein rauschendes Fest. Sally liebt ihr feierwütiges Publikum. Zusammen mit Estelle zieht sie ihr Programm durch, bis der Morgen dämmert. Irgendwann stöckeln die beiden nach Hause. Draußen vor der Tür glänzt die regennasse Fahrbahn.

www.sonntags-club.de
www.silverfuture.net
www.aha-berlin.de
www.dramabar.de
www.schwuz.de
www.rauschgold-berlin.de

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