Taliban: Der Terror eskaliert
Die afghanische Regierung soll vom sogenannten Tugendgesetz ziemlich überrascht worden sein. So erzählt es ein gut vernetzter Beobachter in Kabul. Demnach stellte der Taliban-Anführer Haibatullah Akhundzada von Kandahar aus das Kabinett in Kabul vor vollendete Tatsachen. Das kommt öfter vor, auch bei vielen Verordnungen, die Akhundzada ohne vorherige Konsultationen verkündet hat. Dieses Vorgehen sagt einiges über die Machtverhältnisse in Afghanistan aus.
Der Anführer lebt zurückgezogen im Kreis seiner Vertrauten im Süden, umgibt sich mit Mullahs und übergeht die Minister in der Hauptstadt.
Sogar im Haus sollen Frauen so leise sein,
dass sie draußen nicht gehört werden
Das sogenannte Tugendgesetz hat international vor allem deshalb für Empörung gesorgt, weil es über alle schon erlassenen Verbote hinaus Frauen nun auch noch verbietet, laut zu singen, vorzulesen oder zu rezitieren. Im Gesetzestext heißt es zur Begründung, so solle verhindert werden, „dass Frauen fremde Männer verführen“. Selbst innerhalb ihres Hauses sollen Frauen nur so laut sein dürfen, dass sie draußen nicht gehört werden. Wenn Frauen das Haus verlassen, sollen sie ihre Stimme „bedecken“. Was genau das bedeutet, ist unklar.
Das Staatsfernsehen gab kurz nach der Veröffentlichung des Gesetzes einen ersten Hinweis darauf, welche konkreten Auswirkungen das Verbot haben könnte. Während einer Pressekonferenz, die live übertragen wurde, blendete der Sender die Frage und das Gesicht einer Journalistin aus. Die Antwort des Taliban-Funktionärs wurde dann wieder übertragen. Der Journalistin war aber nicht verboten worden, an der Pressekonferenz teilzunehmen oder eine Frage zu stellen.
Das Gesetz enthält nicht nur Einschränkungen für Frauen. Es verbietet auch Glücksspiele und bestimmte Kampfsportarten für Männer. Es verlangt, dass Händler und Bauern sich am Gemeinschaftsgebet in der Moschee beteiligen. Es verbietet Männern das Rasieren und Autofahrern das Musikhören. Und Frauen gleichgeschlechtliche Beziehungen. Allen afghanischen MuslimInnen ist untersagt, „Freundschaften zu Ungläubigen zu pflegen, ihnen zu helfen und ihr Aussehen oder ihr Verhalten nachzuahmen“.
Freundschaften mit "Ungläubigen" oder Hilfe für sie sind nach dem neuen Gesetz verboten
Besonders weit geht das Verbot, sich Fotos und Videos auf dem Smartphone anzuschauen. Selbst Medien sollen „keine Bilder von Lebewesen veröffentlichen‘. Wenn das konsequent durchgesetzt würde, müssten alle Fernsehsender und Websites geschlossen werden. Danach sieht es allerdings vorerst nicht aus.
Viele der genannten Verbote galten im Reich der Taliban bereits schon vorher. Sie waren in Verordnungen enthalten oder ungeschriebene Gesetze. Das Tugendgesetz hat sie nur kodifiziert.
Eine Folge, die von den Taliban vermutlich nicht intendiert war, ist, dass Verstöße der Taliban gegen das Völkerrecht damit nun leichter juristisch verfolgt werden können. Intendiert war wohl eher, die unterschiedlichen Teile des Machtapparats auf Akhundzada und seine kruden Islaminterpretationen zu verpflichten. Denkbar ist auch, dass damit der Propaganda der Terrormiliz „Islamischer Staat“ entgegengewirkt werden sollte, wonach die Taliban gar kein islamisches Regime eingeführt hätten.
Mit dem Tugendgesetz verändern sich vor allem die Kompetenzen des sogenannten „Ministeriums für die Förderung der Tugend und die Verhinderung des Lasters“. Deren Funktionäre haben nun das Recht, Menschen bis zu drei Tage zu inhaftieren, ohne Zustimmung der Polizei, eines Richters oder Staatsanwalts. Sie können auch Strafen verhängen, “die sie für angemessen halten“. Außerdem dürfen sie Medien wie Fernseh- und Radiosender oder Verlage beaufsichtigen.
Funktionäre dürfen nun selbst Strafen verhängen, die sie für "angemessen" halten
Das Gesetz schafft also Parallelstrukturen zu bestehenden Behörden. Das Tugendministerium wird damit zu einer Art Superministerium erhoben. Das hat vermutlich auch damit zu tun, dass Akhundzada vielen seiner Minister nicht traut, insbesondere dem Innenminister Siradschuddin Haqqani, der über eine eigene Machtbasis verfügt. Der Tugendminister ist hingegen ein enger Vertrauter Akhundzadas.
Das Regime appelliert derzeit permanent an die Einheit des Landes. Das wäre wohl nicht notwendig, wenn es keine Spannungen innerhalb des Apparats gäbe.
Aus Protest gegen das frauen- und menschenverachtende Tugendgesetz haben in den vergangenen Wochen manche Frauen im Internet Videos von sich veröffentlicht, in denen sie (mit verhüllten Gesichtern) singen. Wie strikt das Gesetz angewendet wird, bleibt abzuwarten. Der Beobachter in Kabul bezweifelt, dass die Taliban die personellen Ressourcen haben, um die Verbote flächendeckend durchzusetzen. Zudem glaubt er, dass die Vorgaben je nach Provinz unterschiedlich ausgelegt werden. Doch es ist natürlich ein Damoklesschwert, das permanent über allen schwebt.
So verbietet das Gesetz auch Taxifahrern, Frauen ohne männlichen Verwandten mitzunehmen. In der Praxis geschieht das in der Hauptstadt Kabul aber weiterhin. Vorerst zumindest. In vielen Lebens- und Arbeitsbereichen haben Frauen sich trotzalledem gewisse Freiräume erkämpft, die nach den Regeln der Taliban nicht erlaubt sind. Das gilt zum Beispiel für die vielen Untergrundschulen, in denen Mädchen über 14 Jahren unterrichtet werden, obwohl das eigentlich verboten ist. Auch im Innen- und im Gesundheitsministerium arbeiten trotz des offiziellen Arbeitsverbots weiterhin viele Frauen.
Trotz des Verbots arbeiten noch viele Frauen im Innen- und im Gesundheitsministerium
Das heißt nicht, dass die Tugendwächter nicht willkürlich und harsch vorgingen. Fast jeder Kabuler kann von persönlichen Erlebnissen berichten, in denen die Kader in den weißen Kitteln ihnen Gewalt angetan oder Strafe angedroht haben. Laut einer Studie der UN-Frauenorganisation fühlen sich zwei von drei Frauen "überhaupt nicht sicher", wenn sie allein das Haus verlassen. Im Januar hatten die Tugendwächter bei Razzien in Kabul und Daikundi etliche Frauen und Mädchen wegen „Verstößen gegen den Verschleierungszwang“ vorübergehend festgenommen. Freigelassen wurden sie erst, nachdem männliche Verwandte sich für sie verbürgten.
Die Taliban drohen auch Männern mit Konsequenzen, wenn ihre weiblichen Verwandten mit Verstößen auffallen. Das erhöht den Druck auf die Frauen innerhalb der Familien. Selbst kurze Festnahmen können für Frauen zudem schlimme Folgen haben, weil sie mit dem Stigma des Ehrverlusts einhergehen. So können selbst begrenzte Strafen Angst und Schrecken verbreiten. Aus Kabul heißt es, die Zahl der Frauen auf den Straßen habe innerhalb des vergangenen Jahres merklich abgenommen. Doch noch immer zeigen viele Frauen zumindest Teile ihres Gesichts: Sie tragen Corona-Maske und Kopftuch.
Es sei gelungen, zumindest "den Geist" des neuen Gesetzes zu ändern, so Zuhra Bahman
Auf lokaler Ebene gebe es eine gewisse „Flexibilität“, sagte Zuhra Bahman, die Landesdirektorin der Organisation "Search for Common Ground" kürzlich im Podcast Global Dispatches. Sie verweist etwa darauf, dass 30 Prozent der MitarbeiterInnen in der humanitären Hilfe noch immer Frauen seien – so wie zu Zeiten der Republik, die im August 2021 gestürzt wurde. Viele dieser Frauen arbeiteten nun von zuhause aus. Vom Verbot für Frauen, für Nichtregierungsorganisationen zu arbeiten, gebe es „Ausnahmen, und sie nehmen zu“, sagt Bahman. Den aktiven Frauen sei es zwar nicht gelungen, „den Wortlaut des Gesetzes zu ändern, aber dessen Geist“.
Zum Zeitpunkt der Machtübernahme der Taliban im August 2021 war die Expertin für Peace Building außer Landes. Sie kehrte freiwillig ins „Islamische Emirat“ nach Kabul zurück. Von vielen Aktivistinnen im Exil wird sie kritisiert, weil sie die Taliban nicht rundheraus verurteilt, sondern sie als „Teil des Landes“ bezeichnet.
Aktivistin Bahman plädiert für eine "kontinuierliche Interaktion" mit den Taliban
Bahman nahm im Juli in Doha an einem Treffen mit den Afghanistanbeauftragten mehrerer Länder teil. Auch dafür wurde sie von manchen kritisiert. Die Taliban hatten sich geweigert, gemeinsam mit den eingeladenen Frauen an einer UN-Konferenz teilzunehmen. Die Vereinten Nationen beugten sich der Forderung der Islamisten, um zu verhindern, dass die Taliban das Gesprächsformat nicht boykottierten. Die Organisatoren luden die Aktivistinnen deshalb einen Tag später ein. Manche der Eingeladenen sagten aus Protest gegen das Arrangement ab. Bahman kam.
Sie plädiert für „vertrauensbildende Maßnahmen“ und eine „kontinuierliche Interaktion“ mit den Taliban, weil diese nun einmal das Schicksal von 40 Millionen Afghanen in der Hand hätten. Sie sagt, dass die Mitarbeiterinnen humanitärer Organisationen nicht nur mit den Einschränkungen der Taliban zu kämpfen hätten, sondern auch mit schwindender finanzieller Unterstützung durch westliche Geber. Das neue Tugendgesetz dürfte allerding die Bereitschaft westlicher Regierungen, sich in Afghanistan zu engagieren oder mit den Taliban zu sprechen, nicht gerade fördern.
FRIEDERIKE BÖGE