„Ramadan drohte mir mit dem Tode"

Henda Ayari hat sich dazu entschlossen, Ramadan anzuzeigen.
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Henda Ayari ist die Tochter einer Tunesierin und eines Algeriers, geboren in Frankreich. Mit 18 wurde sie zwangsverheiratet mit einem Salafisten. Nach 20 Jahren brach sie aus der Ehe aus. 2016 veröffentlichte sie ihr Buch „J‘ai choisi d'être libre“ (Ich habe mich entschieden, frei zu sein). Darin berichtet sie u.a. von einer Vergewaltigung, anonymisierte jedoch den Täter. Am 20. Oktober nannte Henan auf ihrer Facebook-Seite den Mann, den sie beschuldigt, beim Namen: Tariq Ramadan. Am 24. Oktober erstattet sie Anzeige. Damit löste sie eine Welle der Empörung aus, auf beiden Seiten. Jetzt spricht Henda zum ersten Mal selber: mit der französischen Frauenzeitschrift ELLE. 

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Warum haben Sie nicht schon vorher Anzeige erstattet?
Weil ich Angst hatte. Wenige Tage, nachdem Tariq Ramadan mich vergewaltigt hatte, habe ich ihn angerufen, um ihm zu sagen, wie unmöglich sein gewalttätiges Verhalten war, und dass ich schockiert und außer mir sei. Er hat mir verboten, über ihn zu sprechen und mir mit den Worten gedroht: „Henda, ich weiß alles über dich. Nimm dich in Acht. Ich bin nicht alleine. Ich habe viele Menschen um mich herum, die mich unterstützen. Du möchtest doch nicht, dass dir oder deinen Kindern ein Unglück passiert?“ Ich war außer mir, aber diese Drohungen haben mir eine schreckliche Angst gemacht. Dennoch habe ich damals einigen mir nahestehenden Menschen davon erzählt. In meinem Buch habe ich in dem Kapitel, in dem ich über die Vergewaltigung schreibe, seinen Namen nicht genannt. Um mich und meine Kinder zu schützen. Ich wollte auch keinen Prozess wegen Verleumdung riskieren. Er ist so bekannt und so mächtig.

Hatten Sie eine Beziehung mit Tariq Ramadan?
Nein. Ich habe ihn nur einmal gesehen. Ich habe Kontakt zu ihm aufgenommen, wie viele andere Frauen und Männer auch, weil er als eine große religiöse Autorität gilt, ein islamischer Gelehrter. Das war die Zeit, in der ich mich von der salafistischen Doktrin zu lösen begann und mir viele Fragen in Bezug auf die Religion stellte, Antworten suchte. Und ich war auch, wie so viele Frauen, fasziniert von diesem sehr charismatischen Mann. Wir hatten uns zum Abendessen in seinem Hotel verabredet, nach seiner Konferenz. Aber als er im Hotel ankam, hat er mich direkt gebeten, mit in sein Zimmer zu kommen. Er hat mir orientalische Patisserien angeboten, und nach zwei, drei Minuten hat er mich geküsst. Ich war wie versteinert und habe gesagt: „Das geht aber zu schnell.“ Er hat versucht, mich auszuziehen und wurde sehr heftig. Doch je stärker ich ihm widerstand, umso stärker schlug er mich. Er hat mich vergewaltigt. Ich dachte, ich sterbe. Dann ist er aufgestanden, um zu duschen. Ich blieb wie gelähmt in einer Ecke des Zimmers sitzen. Ich fühlte mich verraten und beschmutzt von einem Mann, der eine große religiöse Autorität ist. Dann hat er 50 Euro auf meine Handtasche gelegt. Ich hatte noch die Kraft, ihm zu sagen, dass ich keine Prostituierte sei… Er hat mir verboten, auch nur ein Wort über das zu sagen, was passiert war – sonst würde ich ihn nie wiedersehen. Ich war sprachlos. Ich hatte auch ein schlechtes Gewissen und sagte mir: Es war mein Fehler, dass ich zu der Verabredung gegangen bin. Ich dachte auch, dass man mir niemals glauben würde, dass mein Wort so viel weniger wiegen würde als seines. Er kann so gut reden, er ist so bekannt, er wird ins Fernsehen eingeladen, er wird geschätzt als großer islamischer Intellektueller und behandelt wie ein Heiliger. Ich hatte keine Beweise, keine medizinische Untersuchung danach gemacht. Ich sagte mir: Es ist sinnlos, Anzeige zu erstatten. Ich fühlte mich allein, wie alle Opfer von Vergewaltigungen, schuldig und traumatisiert zugleich. Ich schämte mich und hatte Angst.

Tariq Ramadan. © Imago / Pacific Press Agency
Tariq Ramadan. © Imago / Pacific Press Agency

Hat Tariq Ramadan reagiert, als 2016 Ihr Buch „J’ai choisi d'être libre“ erschien, in dem Sie über die Vergewaltigung berichten, ohne seinen Namen zu nennen?
Nicht direkt, aber indirekt. Als mein Buch rauskam, hat er mich umgehend in den sozialen Netzen blockiert. Und Menschen haben mich anonym kontaktiert und gefragt, wer denn die Person sei, über die ich da geschrieben hatte. Man hat mir Geld angeboten, wenn ich den Namen des Täters sagen würde. Das habe ich selbstverständlich nicht akzeptiert. Ich habe mich gefragt, ob das eine Falle ist, die Sympathisanten von Tariq Ramadan mir stellten.

2012 haben Sie keine Anzeige erstattet aus Angst, dass niemand Ihnen glaubt. Warum sollte das heute anders sein?
Ich hatte seit Jahren Lust, ihn anzuzeigen, und habe das immer mit mir getragen. Als ich jetzt die Stimmen von all den Frauen las, prominenten wie unbekannten, die in dem Hashtag #verpfeifdeinschwein den Mut hatten zu reden, da konnte auch ich nicht länger schweigen. Auch ich wollte endlich sagen, wer „mein Schwein“ war. Ich gebe zu, dass ich, nachdem ich endlich seinen Namen auf meiner Facebook-Seite gepostet hatte, vor Angst schlotterte. Ich habe mir gesagt: „Was hast du getan?“ Aber tief im Inneren wusste ich, dass ich es hatte tun müssen. Ich spürte, wie befreiend und stark das war. Ganz in dem Geiste hatte ich ja schon 2015 den Verein „Liberatrices“ (Befreierinnen) gegründet – der allerdings leider niemals staatlicherseits unterstützt wurde. Meine Anwälte, Jonas Haddad und Grégoire Leclerc, haben am 24. Oktober die Klage eingereicht und die Staatsanwaltschaft hat ein Verfahren eingeleitet wegen „Vergewaltigung und Todesdrohung“. Vielleicht haben ja auch andere Frauen, die mit ihm dasselbe erlebt haben wie ich, Beweise gegen ihn. Ich vertraue der Justiz.

Haben Sie Drohungen erhalten, seit Sie Tariq Ramadan angezeigt haben?
Ja. Anonyme Anrufe. Hassmails der Art: „Du bist nur eine Hure, wir werden dich erwürgen und in die Hölle schicken“ oder „Du wirst für deine Lügen von den Juden bezahlt“ und „Du willst nur Werbung machen für dein Buch“. Man hat sogar an meiner Tür geklingelt. Woher kennen diese Leute meine Adresse? Der Mann, den ich beschuldige, hat eine Armee von blinden Groupies hinter sich. Frauen wie Männer. Für sie ist er ein Halbgott, sie sind bereit, alles für ihn zu tun. Er manipuliert sie und nährt seinen Persönlichkeitskult nach der Methode perverser Narzissten. Aber ich habe auch viel Unterstützung erfahren, von Frauen wie Männern. Dank dieser Unterstützung halte ich durch, trotz der Drohungen.

Am 27. Oktober hat eine zweite Frau Anzeige erstattet. Und weitere haben Sie kontaktiert.
Ja, ein Dutzend Frauen haben mir berichtet, dass auch sie Opfer von Tariq Ramadan sind. Die meisten haben Angst, öffentlich zu reden oder Anzeige zu erstatten. Nicht zuletzt, weil sie sich schämen. Die Vergewaltigung ist ein enormes Tabu in unserer Community wie unserer Religion. Alle diese Opfer sagen dasselbe: Dass er sehr gewalttätig gewesen sei und voller Hass, dass er total die Kontrolle verloren habe und wollte, dass die Frauen ihn mit „Maître“ (Gebieter) ansprechen. Tariq Ramadan ist ein Betrüger, ein Hochstapler.

Was meinen Sie damit?
Er missbraucht seine religiöse Autorität, um Frauen so zu behandeln. Damit konnte keine rechnen. Auch ich nicht. Ich bin Muslimin und ich verleugne nicht meine Religion. Ich bin für einen Islam des Friedens, der Toleranz. Für einen Islam, der die Frauen respektiert. Ich bin gegen die Islamisten, die die Religion instrumentalisieren für ihre politischen, finanziellen oder sexuellen Interessen. Ich möchte die Doppelmoral dieser intellektuellen Muslime entlarven; diese Hochstapler, die, ganz wie mein Aggressor, vorgeben, die Frauen zu respektieren, sie aber in Wahrheit grauenvoll und extrem gewalttätig behandeln. Viele Muslime beschimpfen mich jetzt, weil ich Tariq Ramadan infrage stelle. Dabei habe ich noch nie den Islam an sich infrage gestellt. Gewalt gegen Frauen gibt es bei gläubigen Katholiken, Juden, Protestanten oder bei Atheisten. Diese Gewalt existiert auch bei den Muslimen, wie überall. Warum soll man nicht darüber sprechen dürfen?

In welcher Verfassung sind Sie heute?
Ich habe meine Angst überwunden und meinen Aggressor entlarvt, obwohl er so mächtig und berühmt ist. Und ich bin entschlossen, diese ganze Hypokrisie, seine und die der anderen, zu entlarven! Ich bin nicht stolz auf mich. Ich habe den Fehler gemacht, ihm zu vertrauen. Aber ich will nicht länger ein Opfer sein. Das Risiko, ihn anzuzeigen, habe ich nicht nur für mich auf mich genommen, sondern für alle Musliminnen. An ihnen, jetzt in Gang zu kommen! Ihre Angst zu überwinden und das Tabu, damit ihr Leiden an der sexuellen Gewalt endlich gesehen wird.

Das Gespräch erschien zuerst auf ELLE online, Frankreich.

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Henda Ayari: „J‘ai choisi d'être libre“ (Edition Flammarion)

Jürg Altwegg war für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung in Rouen und hat Henda Ayari getroffen. Sein Porträt über die Frau erlaubt einen tiefen Blick in die Welt der Salafisten.

 

 

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Tariq Ramadan: ein Vergewaltiger?

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Tariq Ramadan ist in der Welt des Islam das, was Harvey Weinstein in Hollywood war: ein sehr, sehr mächtiger Mann. Der schillernde und vor allem bei Jugendlichen beliebte Schweizer ägyptischer Herkunft ist der intellektuelle Star der Islamisten-Szene. Doch wo Hollywood-Boss Weinstein immer schon für „sexuelle Libertinage“ gestanden hat, plädierte der mit einer Konvertitin verheiratete „Reform-Salafist“ (wie er sich selber nennt) und Vater von vier Kindern für sexuelle Enthaltsamkeit außerhalb der Ehe.

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Der Islamologe korrespondierte zunächst über religiöse Fragen.

Die erste, die das Schweigen brach, ist Henda Ayari. Die mit 18 mit einem Salafisten zwangsverheiratete Tochter einer Tunesierin und eines Algeriers war nach 20 Jahren Ehe ausgebrochen. Sie hat 2016 ein Buch veröffentlicht: „J‘ai choisi d'être libre“ (Ich habe mich entschieden, frei zu sein). Darin berichtete sie bereits von einer Vergewaltigung 2012 in einem Pariser Hotel, hatte aber bisher den Namen des Täters nicht genannt. Am 20. Oktober erklärte Ayari auf ihrer Webseite, sie habe sich jetzt entschlossen, Ramadan anzuzeigen. Am 24. Oktober reichte sie die Klage ein. Die Affäre Weinstein wird sie ermutigt haben.

Ramadans Anwalt drohte prompt mit der Ankündigung, er werde Henda Ayari wegen „Verleumdung“ verklagen. Doch dann folgte ein langes Schweigen.

Eine Woche später, am 27. Oktober, ging eine zweite Frau an die Öffentlichkeit: eine 42-jährige französische Konvertitin, die in den Medien bisher das Pseudonym Christelle hat. Ihre Anschuldigungen klingen noch bedeutend schwerer, haben jedoch dasselbe Muster wie die von Ayari geschilderten Vorkommnisse.

Der Islamologe pflegte zunächst per Email mit den tiefgläubigen Frauen über religiöse Fragen und Konflikte zu korrespondieren. Sodann bestellte er die Frauen in eine Hotellobby, lenkte das Thema auf sexuelle Fragen und schlug vor, doch in sein Zimmer zu gehen, um ungestörter reden zu können.

Christelle ließ ihren Anwalt berichten, dort habe er sich plötzlich mit den Worten: „Du hast mich warten lassen, das wirst du mir büßen!“ von hinten überfallen. Er habe sie geschlagen, anal penetriert, an den Haaren durch das Zimmer geschleift, sexuell erniedrigt. Sie habe geweint und geschrien, er solle aufhören. Vergeblich. Die Kleidung der Frau, die aufgrund eines Beinleidens nur eingeschränkt beweglich ist, habe er so gehangen, dass sie sie kaum erreichen konnte. Erst gegen Morgen, als Ramadan im Bad gewesen sei, hätte sie fliehen können.

Ayari Henda
Henda Ayari hat sich dazu entschlossen, Ramadan anzuzeigen.

Das alles soll sich im Januar 2009 zugetragen haben. Christelles Anwalt Morain wies darauf hin, dass seine Mandantin in einem starken Abhängigkeitsverhältnis zu Ramadan gestanden habe, den sie bewunderte, „wie in einer Sekte“. Gleichzeitig kündigt er an, weitere Opfer von Ramadan hätten sich bei ihm gemeldet.

Auch Henda Ayari hatte von einer extremen Gewalt gesprochen. Sie habe den „Irrsinn“ in Ramadans Augen gesehen und Angst um ihr Leben gehabt. Ayari warnt heute Frauen dringlich vor dem radikalen Islam, „der Frauen im besten Fall zu Bürgern zweiter Klasse macht und im schlimmsten zu einem Objekt, das den Kindern Gewalt und Hass auf andere beibringt – der fruchtbare Boden, auf dem Terrorismus gedeiht“ (berichtet die Basler Zeitung). Christelle war nach der Nacht mit Ramadan ins Krankenhaus gegangen, wo man schwere Verletzungen konstatierte, an denen sie bis heute leidet. Es folgten damals Depressionen und ein Selbstmordversuch.

Tariq Ramadan hat auch darum eine besondere Autorität in orthodoxen islamischen Kreisen, weil er der Enkel des Gründers der Muslimbrüder, Hasan al-Banna ist, die die Keimzelle des politisierten Islams sind. Sein Vater, Said Ramadan, ein militanter Muslimbruder, musste Nassers Ägypten verlassen, Tariq kam in Genf zur Welt. In Ägypten sind die Muslimbrüder heute wieder als „Terror-Organisation“ verboten.

Tariq Ramadan gilt in Europa als eine der großen islamischen Autoritäten. Er ist ein gern gesehener Gast an Universitäten und in Talkshows, unterrichtet in Oxford und Katar und ist u.a. Mitglied der EU-Kommission „Gruppe der Weisen für den Dialog der Völker“ und in Kommissionen für den „Dialog mit Muslimen“.

Dann bestellte er die tiefgläubigen Frauen in eine Hotellobby ...

Jüngst rechtfertigte Ramadan in blumigen Worten die Genitalverstümmelung von Mädchen und weigerte sich in einer Talkshow, sich von der von seinem Bruder, einem Iman in Genf, gutgeheißenen Praxis der Steinigung von Frauen bei „Ehebruch“ zu distanzieren.

Die französische Presse berichtet jetzt breit über die Enthüllungen: von den linksliberalen Gazetten Marianne, Le Monde und Libération bis hin zu dem Boulevardblatt Le Parisien.

Nach der ersten Klage von Ayari war in Ramadans Kreisen noch von einer „zionistischen Verschwörung“ die Rede gewesen. Seit Christelles Klage schweigen Ramadan und sein Anwalt. Auch seine Entourage ist verstummt. Es wird mit weiteren Enthüllungen gerechnet.

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