Veronika Dankeschön

Es war nicht immer nur Hunger - es war auch manchmal Hunger nach Leben.
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"Hat die deutsche Frau versagt?“ Diese Frage stellte der Stern auf einem Titel im Nachkriegsjahr 1948 – und löste damit eine Lawine von Leserbriefen aus. „Diese Frage muss tausendmal bejaht werden!“ schrieb ein Kriegsheimkehrer und forderte: „Diese schwarzen Schafe müssen aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen werden.“ Und auch auf Flugblättern, die zwischen den Trümmern die Runde machten, wurde Empörung laut: „Die deutsche Frau treibt’s in schamloser Weise mit Ausländern! Wir haben keine Zigaretten und keine Butter, der Ausländer hat Kaffee und Zucker. Du scherst dich nicht um seine Hautfarbe, solange er dir eine Tafel Schokolade anbietet. Wir hoffen, dass du recht viel Spaß hast und bald den Russen in die Hände fällst!“ Und schließlich: „Es dauerte sechs Jahre, um die deutschen Soldaten zu besiegen – aber nur fünf Minuten, um eine deutsche Frau rumzukriegen!“

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Ganze Familien lebten davon, dass sich die Frauen verkauften.

Sicher, es gab auch andere Stimmen, aber die waren viel, viel seltener. So schrieb ein Landser im Stern: „Liebe Kriegskameraden, habt ihr so schnell vergessen, dass beim Rückzug im Osten russische Frauen mit eurer Einheit mitmuss­ten? Wisst Ihr noch, wie ihr in den Bordellen von Le Havre, von Lille und Besançon Schlange standet?“ Nein, daran erinnerten sich die meisten Kameraden nicht mehr. Und wenn doch – was hatte das alles denn mit ihren Frauen zu Hause zu tun? Man war sich einig: Sie hatte versagt, die deutsche Frau. Die Mutterkreuzträgerin des Tausendjährigen Reiches war innerhalb weniger Wochen zum „Besatzer-Liebchen“ verkommen, zur „Tommy-Braut“, zur „Ami-Hure“.

Bis heute hat kaum eine darüber gesprochen. Dabei ist 60 Jahre danach klar: Es sind viele gewesen, sehr viele. Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen Frauen, die gegen das „Fraternisierungsverbot“ der Besatzer verstießen und mit „dem Feind ins Bett“ gingen. In einer Absteige oder im eigenen Schlafzimmer, für Zigaretten, die Ersatzwährung in den Noch-Reichsmark-Zeiten; für Kaffee oder Nylons. Für Schutz vor den Soldaten­trupps, die auch in den West-Sektoren Frauen aus den Kellern zerrten, wenn auch seltener als „der Russe“, und weil ein einzelner Offizier im Bett immer noch besser war als alkoholisierte Horden im Keller. Weil nach den Jahren der Entbehrungen Schokolade und Tanzen verlockend schien; weil die Ehemänner nicht zu Hause waren und in den Trümmern die Frauen ihren Mann standen – und sich folglich in Sachen ‚Moral‘ nichts mehr vorschreiben lassen wollten.

Das Spektrum der Motive für die Gelegenheitsprostitution reichte vom Hunger nach Brot bis zum Hunger nach Leben. Die am stärksten betroffene Region war der amerikanische Sektor, weil die GIs die reichsten unter den Besatzern waren. Franzosen und Briten, die von Hitlerdeutschland überfallen worden waren, hatten selbst Not. Fakt ist: In den Nachkriegsjahren hat es in Deutschland nicht nur Massenvergewaltigungen gegeben, sondern auch Massenprostitution.

„Die Kriegswitwen haben seit langem keine Pensionsgelder mehr erhalten – im letzten März wurde ihnen zum letzten Mal das magere Monatsgeld von hundert Mark ausbezahlt“, berichtet die Schweizer Zeitung Die Tat im Juli 1945. „Schon jetzt kann man beobachten, dass diese Frauen sich jedem Mann hingeben, der ihnen nur einen Laib Brot oder eine Büchse Fleisch verschaffen kann. Während die Lebensmittellage sich verschlechtert – dies wird im nächsten Winter besonders spürbar sein – wird sich die Zahl der Prostituierten in Deutschland erschreckend erhöhen.“ Diese Prognose sollte sich in den kommenden Jahren bewahrheiten. So sind im Jahr 1949 in Frankfurt, einem Hauptstationierungsort der Amerikaner, zwar nur 183 „gewerbsmäßige Dirnen“ bei der Polizei aktenkundig. Dazu kommen aber rund 20.000 „wilde Prostituierte“, die teils lange Fahrten aus den umliegenden Orten auf sich nehmen, um ihre Körper gegen Essbares zu tauschen. Der Luftbrückenbasis Celle macht bald das Ruhrgebiet Konkurrenz, wo es neben Soldaten jetzt auch junge, neu angeworbene Bergarbeiter gibt. Die ‚Hauptstelle gegen Suchtgefahr’ in Paderborn schätzt die Zahl der „wilden Prostituierten“ dort auf 20.000. Ganze Familien leben davon, dass sich die Mütter, die Töchter oder die Schwestern verkaufen.

In manchen Regionen waren über die Hälfte der GIs infiziert.

Die Behörden versuchen, der Massenprostitution durch Razzien Herr zu werden. Doch: „Der Kampf, den die Beamten führen, ist fast aussichtslos. Einmal, weil die Zahl der Fälle viel zu groß geworden ist. Zum anderen aber auch, weil die Mittel unzulänglich und im Grund an der wirklichen Ursache vorbeigehend sind: Wohnungsnot, wirtschaftliches Elend, ins Wanken geratene moralische Grundsätze“, klagt die Neue Ruhrzeitung im Februar 1949. „In Wirklichkeit ist die Massenprostitution nur ein Zeichen der Zeit, und mit der Änderung der Verhältnisse erst wird sich wieder eine Besserung ergeben.“

Der Kampf, den die Besatzer führen, gilt weniger dem ‚moralischen Verfall‘ oder dem Verstoß der eigenen Soldaten gegen das Fraternisierungsverbot, als den sich massenhaft ausbreitenden Geschlechtskrankheiten. Sie sind es, die den Frauen einen weiteren, nicht minder verächtlichen Beinamen einbringen: „Vero­nika Dankeschön“. Eine Anspielung auf die „Veneral Diseases“, kurz VD. Sie sind ein ernsthaftes Problem in der Truppe. So ernst, dass die amerikanischen Behörden in den Kasernen Fotos und Namen der infizierten Frauen aushängen. Nachts rast in der amerikanischen Zone ein cremefarbener Mannschaftswagen, den die Frauen sarkastisch den „Weißen Traum“ nennen, durch die Straßen. Jede, die verdächtig aussieht, und das sind viele, wird in den Wagen gezerrt, in die Ambulanz gebracht und auf Geschlechtskrankheiten untersucht. In den Straßen warnen Plakate: „VD walks this road tonight“ – VD geht heute Nacht diese Straße entlang.

Selbstverständlich sind von dem Generalverdacht auch Frauen betroffen, die sich nicht prostituieren. Die Massenprostitution machte in diesen Jahren jede deutsche Frau in einem gewissen Alter zum „Fräulein“. In manchen Regionen sind über die Hälfte der GIs infiziert. Von den Frauen ganz zu schweigen. Unterernährt, sind sie nun auch noch an Tripper oder Syphilis erkrankt. Die medizinische Versorgung ist katastrophal, und wenn sich eine infiziert hat, dann stehen Scham und die Angst, dass „es“ herauskommen könnte, einem Arztbesuch im Wege.

Die Soldaten-Väter waren frei von jeglicher –auch finan­zieller - Verpflichtung.

Und dann sind da noch die Schwangerschaften. 2.000 bis 3.000 Kinder von amerikanischen Vätern verzeichnen die – offiziellen – Statistiken pro Jahr. Darunter so manche, die der Hoffnung der Mutter in spe entsprang, vom Sieger geheiratet und ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten entführt zu werden. Eine Hoffung, die oft enttäuscht wurde, denn eine amerikanische Heeresverordnung hatte für diesen Fall vorgesorgt: Die Soldaten-Väter waren frei von jeglicher – auch finan­zieller – Verpflichtung.

Die deutschen Frauen, die sich dem Sieger an den Hals geworfen hatten, traf blanke Verachtung. „Zur Sperrstunde, wenn man nicht einmal den Kopf aus dem Fenster stecken durfte, rollte ein Jeep vor Haus Nummer fünf. Ein schicker Kerl mit weißem Hemd, weißem Koppel, weißen Handschuhen, überaus sauber, adrett und gut genährt verschwand in der schnell geöffneten Tür. Talaskas Helga ist ein Amiflittchen geworden, sagten die Frauen. Vor dem versammelten Gemeinderat behauptete der alliierte Stadtkommandant, deutsche Frauen hätten keine Ehre, sie verführten seine GIs, täten alles für ein paar Zigaretten“, erzählt die 1933 geborene Journalistin Irene Böhme, bei Kriegsende zwölf Jahre alt, in einem 1994 erschienenen Essay. Er ist einer der raren Texte über die „Kollaboration“ der Frauen mit dem Feind.

Die Frauen, die sich in diesen Jahren prostituieren, wurden von allen verachtet: von den Frauen, die „widerstanden“ hatten, von den Sieger-Freiern und den heimgekehrten Männern, die sich noch einmal gedemütigt fühlten: weil sie besiegt worden waren, weil ihre Frauen sich dem Sieger „an den Hals geworfen“ hatten, weil statt ihrer nun die Frau die Familie ernährte. Und dann die Selbstverachtung. Die, die die Russen vergewaltigt hatten, waren ganz eindeutig Opfer gewesen. Was aber ist mit denen, die sich freiwillig in die Schlange vor der Kaserne gestellt hatten? Oder ihre 16-jährige Tochter in den Tanzclub geschickt hatten?

Als der Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder kamen, blieben die Frauen wieder zu Hause. Ihr schlechtes Gewissen machte sie zu besonders guten Hausfrauen. Doch die Erinnerung an diese Zeit kriecht gerade jetzt, mit der Bilderschwemme aus der Nachkriegszeit und dem sich verstärkenden Langzeitgedächtnis, hoch. Was fühlen diese Frauen? Und wie weit haben sie diese Gefühle – ohne Worte – an ihre Töchter weitergegeben?

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