"Wir stehen vor der Zerreißprobe“

Foto: Marlene Gawrisch
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Frau Bentele, Energiesparen ist das Wort der Stunde. Aber das können nicht alle.
Genau! Die Lebensmittel- und Energie-Verteuerung trifft vor allem die Menschen in voller Härte, die schon lange vor der Inflation und den hohen Gaspreisen sparen mussten. Aber wo sollen Menschen, die sich keine gutsanierte Wohnung oder stromsparende Haushaltsgeräte leisten können, denn ansetzen? Ihnen zu sagen: Jetzt spart einfach mal Energie, ist zynisch.

Das sind vor allem Frauen.
Frauen bilden in der Tat noch immer die größte Gruppe der Geringverdienenden, übernehmen zu über 70 Prozent die Sorgearbeit für Kinder und ältere Angehörige, haben dementsprechend Lücken in der Erwerbstätigkeit und damit in der Rente. Die Alleinstehenden und Alleinerziehenden unter ihnen trifft es oft doppelt so hart. Viele stehen vor dem Absturz in die Armut.

Was halten Sie von der Erhöhung der Minijob-Grenze von 450 auf 520 Euro?
Gar nichts. Das scheint für den Moment okay zu sein, aber es führt nicht in die Zukunft. Jeder verdiente Euro muss eine sozialversicherungspflichte Beschäftigung sein, sonst kommen Frauen aus der Armutsfalle nicht hinaus. Ein Minijob zementiert das nur.

Die Benachteiligung ist strukturell.
Aufgrund der Familienarbeit, für die in Deutschland vorrangig noch immer die Frauen zuständig sind, erhalten sie weniger Leistungen. Etwa weniger Arbeitslosengeld und im Schnitt über 500 Euro weniger Elterngeld als Männer. Genauso ist es beim Krankengeld. 

Was halten Sie von den aktuellen sozialen Maßnahmen zur Energiekrise?
Das Neun-Euro-Ticket ist eine gute Idee, es hilft zum Beispiel vielen Rentnerinnen, mobil zu bleiben. Der Tankrabatt aber hilft in erster Linie den Wohlhabenderen, die eine Benzinkostenerhöhung vielleicht auch ohne Rabatt weggesteckt hätten. Besserverdienende pendeln häufiger mit dem Auto und fahren längere Strecken. Auch die Energiepreispauschale von 300 Euro ist ein Ansatz, doch Rentnerinnen und Studierende bekommen sie nicht, wenn sie nicht arbeiten. 

Warum ist es so schwer, soziale Maßnahmen gerechter zu verteilen?
Das ist eine Frage, die auch unsere Mitglieder auf die Barrikaden treibt. Macht man eine Entlastung mit der Gießkanne, damit man alle irgendwie ein bisschen erwischt, oder macht man sie gezielt für die, die sie am dringendsten brauchen? Weil die Ressourcen in einem Sozialstaat endlich sind, wäre ich eindeutig für gezieltere Maßnahmen. Die Behörde, die am allermeisten über uns weiß, ist das Finanzamt. Eine wirklich sinnvolle Entlastung müsste also über die Steuererklärung laufen. Und da ließe sich auch schnell eine Lösung für die Menschen finden, die keine Steuererklärung machen. 

Was wären weitere konkrete Forderungen des VdK?
Wir haben in Deutschland eine desaströse Situation in der Pflege, die ohne pflegende Angehörige nicht aufgefangen werden kann. Und genau diese Menschen, größtenteils Frauen, laufen Gefahr, in die Altersarmut abzurutschen, weil sie beruflich zurückstecken. Wir brauchen dringend eine Lohnersatzleistung, also Unterstützungsgeld, um entfallendes Gehalt auszugleichen. Die Ampel hat diese Leistung angekündigt und wird sich an der Umsetzung messen lassen müssen. 

Und was noch?
Für Menschen, die Grundsicherung im Alter oder Wohngeld beziehen, müssen die reellen Energiekosten berücksichtigt werden. Der Mindestlohn muss auf 13 Euro erhöht werden, um überhaupt eine Rente über Grundsicherung erreichen zu können. Und generell müssten sogenannte klassische „Frauenberufe“ wie in der Pflege oder Erziehung höher angesehen und damit auch höher entlohnt werden. 

Auch für viele Kinder hat sich die Situation verschlechtert, erst durch Corona, nun durch die Preiserhöhungen. Was muss für sie passieren?
Nichts weniger als eine komplette Drehung des Systems. Im Moment ist es tatsächlich so, dass besserverdienende Familien durch Steuerfreibeträge mehr Förderung für Kinder kriegen als Familien, die wenig Geld haben und Kindergeld bekommen. Nahrung, ein Dach überm Kopf, Kleidung, Bildung, (sozio-)kulturelle Teilhabe – es muss möglich sein, dies alles aus einer Kindergrundsicherung zu finanzieren. Ich halte es für eine gute Idee, auch dies einkommensabhängig zu machen. Je mehr die Eltern verdienen, desto weniger bedarf es einer staatlichen Förderung – und umgekehrt.

Diese Reformen würden wahrscheinlich einiges kosten.
Unser Staat müsste sich endlich stärker um die Einnahmen-Seite kümmern. Große Erbschaften stärker besteuern zum Beispiel, eine globale Lösung dafür finden, dass Konzerne dort Steuern zahlen, wo auch die Gewinne gemacht werden – und nicht, wo der Firmensitz ist. Der Möglichkeiten sind viele.

Wie schauen Sie auf die kommenden Monate?
Es reicht nicht, dass Politikerinnen und Politiker durch Talkshows ziehen, wir brauchen Entscheidungen auf der politischen Bühne. Wir erleben bereits eine soziale Spaltung unseres Landes. Die Gesellschaft empfindet es als Zerreißprobe. Darauf muss die Politik endlich reagieren.

Das Interview führte Annika Ross. 

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