Alice Schwarzer schreibt

Das Ende des (Ver)Schweigens

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In den Jahren nach dem Krieg ist es noch Thema. Dann legt sich jahrzehntelang ein (Ver)Schweigen darüber. Erst 30 Jahre später erscheint das Buch einer amerikanischen Jüdin in Deutschland, das erste Schlaglichter auf die Problematik wirft und sie im historischen und internationalen Kontext analysiert: Susan Brownmiller benennt in ‚Gegen unseren Willen‘ Vergewaltigungen – bis dahin „Kavaliersdelikt“ oder Tat von „Perversen“ – als Instrument der Männerherrschaft und vergisst dabei auch die Vergewaltigungen 1945 in Deutschland nicht. 1989 erscheint ein erster Bericht in EMMA darüber am Beispiel Tübingen. 1993 analysiert die Militärsoziologin Ruth Seifert in EMMA anlässlich der aktuellen Massenvergewaltigungen im Krieg in (Ex)Jugoslawien die Vergewaltiger als „Vorhut im Krieg der Geschlechter“ und der Völker.

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Ein Jahr zuvor erscheint der Film und die Dokumentation ‚BeFreier und Befreite‘ von Helke Sander. Nach fast einem halben Jahrhundert ist die feministische Filmemacherin die erste Deutsche, die dem Ausmaß und den Folgen der Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen der Besiegten durch die Sieger nachspürt. Der Film wird gezeigt und erschüttert ein breites Publikum. Sander spricht nicht nur mit den Opfern – die oft zum allerersten Mal in ihrem Leben darüber reden – sondern auch mit Tätern sowie mit Kindern, die aus den Gewalttaten entstanden. Und sie nennt als erste fundierte Zahlen.

Wir müssen heute davon ausgehen, dass mindestens zwei Millionen Frauen vergewaltigt wurden (allein in Berlin mindestens 100.000). Etwa 300.000 Frauen wurden schwanger und mindestens jede Zehnte hat diese Schwangerschaft ausgetragen.

Heute leben also Zehntausende zwischen Herbst/Winter 1945 und Sommer 1946 geborene Frauen und Männer unter uns, die aus diesen Gewalttaten entstanden. Was das auch für die Kinder bedeutet, ahnen wir; und wie es das Verhältnis der heimkehrenden "Helden" zu ihren eigenen Freundinnen und Frauen geprägt hat, dass sie Frauen wie ein Stück Beute, wie Vieh behandelt haben, ebenfalls. Von den Folgen für die vergewaltigten Frauen gar nicht zu reden.

Zwei Jahre nach Erscheinen schlug dem Film von Helke Sander plötzlich eine scharfe Kritik entgegen. Vor allem an amerikanischen Universitäten. Der Film sei „antisemitisch“, „revisionistisch“ und „revanchistisch“, hieß es nun. Denn er würde, statt die Taten vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus zu sehen, vor allem die deutschen Frauen als Opfer darstellen und die Russen zu Tätern stempeln. Ausgelöst worden war die Kritik von der deutschen Filmtheoretikerin Gertrud Koch, die 1992 einen Artikel des Tenors in der Frankfurter Rundschau veröffentlichte und einen zweiten 1994 in der feministischen Theoriezeitschrift Frauen und Film (‚Blut, Sperma, Tränen‘).

Das polemische Abwehren des Dramas, das Sander und andere endlich dem Schweigen entrissen hatten, tönt heute in einem so starken Maße ideologisch voreingenommen, dass die Texte jetzt wohl kaum noch so veröffentlicht würden. Damals jedoch reichte das, um ausgerechnet diesem so besonders mutigen und differenzierten Film das Etikett ‚umstritten‘ zu verpassen.

Als ‚rassistisch‘ konnte da noch verleumdet werden, wer die schlichte Tatsache benannte, dass die meisten Vergewaltigungen im russischen Sektor und durch marokkanische Truppen in der französischen Zone verübt worden waren. Dabei war es so und hatte es Gründe.

Die Sowjetunion hatte im Hitlerkrieg zehn Millionen Menschen verloren, deutsche Soldaten waren brandschatzend und vergewaltigend durch das Land gezogen. Und das kommunistische Sowjetregime war – im Gegensatz zu den zukünftigen „amerikanischen Freunden“ – ein politischer Gegner der zukünftigen Bundesrepublik (und in der DDR der Freund, der ‚sowas‘ nie getan hatte). Vor diesem Hintergrund forderte damals Chefideologe Ilja Ehrenburg die russischen Soldaten in den ersten Tagen und Wochen regelrecht auf: „Schändet die Frauen des Feindes!“

Und die Väter und Männer dieser vergewaltigten Mädchen und Töchter? Die waren tot. Oder abwesend. Oder gebrochen. Oder feige. Nur selten wagte es einer, sich schützend vor die Frauen zu stellen – und manchmal sogar mit Erfolg.

Was im sowjetischen Sektor die Massenvergewaltigungen waren, war im amerikanischen die Massenprostitution – wenn auch nicht mit ganz so blutigen Folgen. Doch später, als die überlebenden Soldaten aus dem Krieg zurückkamen, kursierte der böse Spruch: „Der deutsche Mann hat im Feld fünf Jahre widerstanden – die deutsche Frau zu Hause nur fünf Minuten.“

Hunderttausende deutsche Frauen warfen sich in den ersten Nachkriegsjahren den strahlenden, mit Zigaretten, Nylonstrümpfen und Schokolade bewaffneten Siegern „an den Hals“ – aus Hunger oder ganz einfach aus Sehnsucht nach ein bisschen Luxus nach all den bitteren Kriegsjahren. Das ist vielleicht das noch größere Tabu. Bis heute ist darüber nur wenig gesagt und geschrieben worden, die Frauen selbst schweigen ganz.
Was mag das alles für diese Generation bedeuten? Was das für ihre Sexualität, ihr Verhältnis zu Männern und ihr Selbstwertgefühl? Millionen vergewaltigt oder prostituiert – und nie darüber geredet. Aber ohne Worte weitergegeben. Und alles verdrängt. Aber jetzt, im hohen Alter, so präsent, als sei es gestern gewesen. Und – auch dieser Frage ist noch nicht wirklich nachgegangen worden: Was bedeutet es für die Töchter?

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