"Wir kannten keine Rabenmutter"

Foto: Jürgen Blume/epd-Bild/imago images
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In der Verfassung der DDR von 1949 wurde die Gleichberechtigung festgeschrieben: „Mann und Frau sind gleichberechtigt“ und „Gesetze und Bestimmungen, die der Gleichberechtigung entgegenstehen, sind aufgehoben“. In der Verfassung war auch festgelegt, dass „durch Gesetz der Republik Einrichtungen geschaffen werden, dass die Frau ihre Aufgabe als Bürgerin und Schaffende mit ihren Pflichten als Frau und Mutter vereinbaren kann“.

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Die Förderung der Erwerbsarbeit von Frauen war die Basis der Frauenpolitik. Bereits 1950 waren 45 % der Frauen erwerbstätig, 1989 waren es knapp 90 % und meist handelte es sich dabei um Vollzeiterwerbstätigkeit. Zum Vergleich: In Westdeutschland waren 1990 54% der Frauen erwerbstätig, in der Regel in Teilzeit.

https://www.youtube.com/watch?v=mK6dVR1a6L0

Natürlich hatte die Förderung der Frauenerwerbsarbeit vor allem ökonomische Gründe. Der Staat brauchte dringend die Arbeitskräfte und die Familien das zweite Einkommen. Aber das Wichtigste bleibt doch: Die Frauen haben ihre ökonomische Unabhängigkeit und die Partizipation an der Erwerbsarbeit schätzen gelernt. Sie haben in die berufliche Ausbildung investiert, hatten den gleichen Bildungsgrad wie die Männer. Und sie nahmen auch in den frauenuntypischen technischen Berufen einen Platz ein, ohne dass es als Besonderheit angesehen worden wäre.

Erwerbstätige galten nicht als Rabenmütter, mussten sich nicht rechtfertigen. 90 % der gebärfähigen Frauen hatten 1990 mindestens ein Kind. Die Geburtenrate ging nach der Wiedervereinigung dramatisch zurück.

In der DDR mussten sich erwerbstätige Frauen nicht rechtfertigen

Ja, in den Leitungspositionen der Wirtschaft waren Frauen auch in der DDR unterrepräsentiert. Das Gleiche gilt für die höchsten politischen Ämter. Und ja, auch die Familienarbeit war den Frauen vorbehalten, hier war Ost und West schon immer fröhlich vereint.

Fest steht jedoch: Die breite gesellschaftliche Akzeptanz der Erwerbsarbeit von Frauen ist ein Gleichstellungsvorsprung im Osten Deutschlands gewesen. Und entscheidend war: Frauen fühlten sich gleichberechtigt. Ich sage aus eigener Erfahrung: Das war kein schlechtes Gefühl.

Und noch immer ist die Erwerbsarbeit und vor allem die Vollzeiterwerbsarbeit von Müttern in den neuen Bundesländern voll akzeptiert und auch bis heute höher als in den alten Bundesländern. 

Wir sind mit sehr unterschiedlichen Frauen- und Familienbildern zusammengekommen. In kaum einem anderen Bereich lagen die Erfahrungen bei der Wiedervereinigung so weit auseinander. Dennoch finden wir in nahezu allen Berichten über die frauen- und familienpolitischen Entwicklungen ausschließlich den westdeutschen Blick. Die ostdeutsche Sicht ist häufig eine andere, kommt aber nicht vor.

Die ostdeutsche Sicht ist häufig anders, kommt aber nicht vor

Wenn man sich vor Augen hält, wieviel die Erwerbsarbeit für Ost-Frauen bedeutete und bedeutet, dann wird klar, wie stark sie der Verlust dieser Selbstverständlichkeit traf. Ich war in den 90er-Jahren Arbeitssenatorin in Berlin und habe erlebt, wie Frauen nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes gekämpft haben, sich wieder und wieder qualifiziert haben, weil ihre Berufsabschlüsse nichts mehr galten.

Und plötzlich musste auch um den Erhalt der Kinderbetreuung gekämpft werden. Und dann war ihre hohe Erwerbsneigung noch die Ursache für die hohen Arbeitslosenquoten. Diese Erfahrungen sitzen tief.

Christine Bergmann, 1939 in Dresden geboren, ist gelernte Apothekerin, war die letzte Präsidentin der Berliner Stadtverordnetenversammlung, Bürgermeisterin von Berlin, von 1991 bis 1998 Berliner Senatorin (SPD) und von 1998 bis 2002 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Die ganze Rede im Wortlaut

 

Christine Bergmann im Bundestag zur 100-Jahr-Feier des Frauenwahlrechts im Reichstag sprach Christine Bergmann über ihr Leben als Frau in der DDR: „Das war kein schlechtes Gefühl.“
Christine Bergmann zur 100-Jahr-Feier des Frauenwahlrechts im Reichstag über ihr Leben als Frau in der DDR: „Das war kein schlechtes Gefühl.“

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Bundestag feiert Frauenwahlrecht

Christian Spicker/Imago
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Alle waren gekommen. Der Bundespräsident, die Kanzlerin, die Abgeordneten, die Parteichefs und -chefinnen (nur FDP-Lindner fehlte, unentschuldigt). Es redeten über Frauenrechte: Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble, Ex-Parlamentspräsidentin Rita Süssmuth, die den großen Bogen schlug von 1919 bis 2019, und Ex-Frauenministerin Christine Bergmann. Alle sagten so Treffliches über Frauenrechte, wie der über ihnen schwebende Bundesadler es wohl selten zu hören bekommt. Die mangelnde Repräsentanz von Frauen und die Notwendigkeit der Parität zog sich durch die Reden beider Politikerinnen.

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Es blieb dann Bergmann vorbehalten, geradeheraus die Parität zu fordern. Und sie wies sogar explizit auf das parteiübergreifende Manifest pro Parität des Deutschen Frauenrates hin, das seit gestern online steht.

Und es blieb auch Bergmann vorbehalten, auf die entscheidende Rolle der Frauenrechtlerinnen beim Kampf um das Frauenwahlrecht hinzuweisen. Sie zitierte Louise Otto-Peters, Hedwig Dohm und Minna Cauer. Die in der DDR aufgewachsene, selbstbewusste Politikerin wagte sogar, den Elefanten im Wohnzimmer zu benennen: Sie sprach das Wort „Frauenbewegung“ aus und deren Verdienste an.

Übrigens: Die SPD-Frauen waren alle in Weiß erschienen. Mindestens mit weißer Bluse (wie Andrea Nahles, der das vortrefflich stand). Eine Referenz an die Suffragetten und ihre Märsche in Weiß.

Eingangs hatte eine Schauspielerin Auszüge aus der legendären ersten Rede einer weiblichen Abgeordneten im hohen Haus vorgelesen: Marie Juchacz am 19. Februar 1919.

Da murmelte eine Frau auf der Gasttribüne: „Die Rede könnte man noch heute wörtlich so halten.“ Wohl wahr. Fast. Der Fortschritt ist eine Schnecke, aber es geht voran. Mit großen Schritten. Das zeigte nicht zuletzt diese Stunde des Stolzes im Bundestag.

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