Brief aus dem Gefängnis
Kurz nach Ausbruch des Krieges gab mir meine Frau Nasrin Sotoudeh ein Dokument: eine Resolution, die der Oberste Justizrat 1986 verabschiedet hat, und die die Sicherheit von Gefangenen gewährleisten sollte. Gemäß dieser Resolution sollten alle in Kriegsgebieten inhaftierten Gefangenen unverzüglich freigelassen werden.
Gleich am nächsten Tag schrieb ich einen Brief an den Leiter der Justizbehörde, in dem ich die Freilassung der Gefangenen forderte. Einige Mitgefangene beriefen sich ebenfalls auf diese Resolution, reichten formelle Anträge ein und forderten die Umsetzung des Gesetzes.
Zwei Tage später gelang es uns nach beharrlichen Bemühungen, ein Treffen mit dem Gefängnisdirektor, dem Vertreter der Staatsanwaltschaft und mehreren hochrangigen Beamten zu vereinbaren. Wir erklärten detailliert alle möglichen Risiken und Szenarien, einschließlich der Gefahr von Luftangriffen auf oder in der Nähe des Evin-Gefängnisses. Wir argumentierten, dass selbst, wenn die Gefängnisblöcke nicht direkt angegriffen würden, die Folgen – Ausfall von Wasser, Strom und Gas, Rauchvergiftung durch Brände, einstürzende Gebäude, explodierende Fahrzeuge – eine tödliche Gefahr für die Gefangenen darstellen würden.
Trotz unserer Bemühungen wurden jedoch keine Maßnahmen ergriffen. Am Montag, dem 23. Juni, wurde das Evin-Gefängnis dann tatsächlich bombardiert.
Wir hatten deutlich gewarnt, dass ein solcher Angriff katastrophale Folgen haben würde, und nun liegt die Verantwortung für den Tod von Gefangenen, Mitarbeitern und anderen Personen eindeutig bei der Gefängnisverwaltung, der Gefängnisorganisation und dem Leiter der Justiz, die das Gesetz und die reale Gefahr wissentlich ignoriert und diese Tragödie zugelassen haben: die Häftlinge, die sich im Gefängnishof aufgehalten hatten oder in Verwaltungsbereichen arbeiteten, und getötet wurden.
Doch nach dem Bombenangriff folgte eine weitere Tragödie. Spät in der Nacht wurde plötzlich bekannt gegeben, dass alle Gefangenen sofort in das große Teheraner Gefängnis verlegt werden sollten. In einigen Gefängnisabteilungen wurde uns nicht einmal das Ziel genannt.
Im Laufe der Jahre hatten die Insassen mit großem Aufwand und enormen Kosten für ihre Familien ein Minimum an persönlichen und gemeinsamen Gegenständen für das tägliche Leben – Kühlschränke, Kochgeschirr, Lebensmittel - zusammengetragen. Unter diesen Umständen war es unmöglich, diese Gegenstände zu transportieren. Ihr materieller Wert ging in zehntausende Euro.
In unserer Zelle wurden wir – unter dem Kommando von Direktor Farzadi und Hayat-al-Gheyb, dem Chef der Gefängnisse von Teheran – mit Handschellen und Fußfesseln paarweise aneinandergekettet. Soldaten richteten ihre Waffen auf unsere Brust.
Nicht ein einziger der Verletzten wurde in ein Krankenhaus gebracht. Statt Ruhe, Sicherheit oder medizinischer Hilfe erlebten wir Ketten, Gewalt und Einschüchterung. Die Behörden hatten es versäumt, die Gefangenen mit dem Nötigsten zu versorgen, doch innerhalb weniger Stunden hatten sie es geschafft, Tausende von Fesseln, Handschellen zu beschaffen.
Jeder von uns hatte nur eine Hand frei. Mit dieser einen Hand mussten wir mehrere große Taschen und Pakete zu den wartenden Bussen tragen, die in großer Entfernung geparkt waren. Das konnten nur einige unserer Habseligkeiten sein. Um 3 Uhr morgens erreichten wir endlich die Busse. Ich musste eine meiner Taschen auf halbem Weg zurücklassen, weil ich einfach nicht alles mit einer Hand tragen konnte.
Wir standen neben den Bussen auf einem Hügel, auf dem sich die Stationen 7 und 8 befinden und von wo aus man Teheran überblicken kann. Plötzlich brachen Flugabwehrgeschütze los und die Luftangriffe wurden wieder aufgenommen. Alle wurden von Angst erfasst. Da wir gefesselt waren, konnten wir weder rennen, noch in Deckung gehen. Ich war an Hand- und Fußgelenken an einem Mithäftling angekettet. Mit jedem Schritt brachten wir uns gegenseitig aus dem Gleichgewicht, und die Fesseln gruben sich tiefer in unser Fleisch.
Unser Bus hatte auf dem Gefängnisgelände eine Panne. Da die Hauptstraße zerstört war, wurden wir über die Mülldeponie des Gefängnisses umgeleitet. Mitten auf dieser Deponie wurden wir aufgefordert, die Fahrzeuge zu wechseln. Mit großer Mühe und wiederholtem Verschütten unserer Säcke wechselten wir erneut das Fahrzeug. Der Gestank war selbst für Sekunden unerträglich, doch wir wurden gezwungen, über eine Stunde lang dort zu bleiben.
Um 4 Uhr morgens machten wir uns auf den Weg zu dem neuen Gefängnis. Als wir an dem zerstörten Haupttor von Evin vorbeikamen, wandte ich mich an meinen lieben Freund und Zellengenossen Reza Valizadeh und sagte: „Evin ist jetzt Geschichte. Die Geier kreisen schon um dieses goldene Stück Land im Norden Teherans.“ Dieses Gefängnis war ein Symbol für Folter, Hinrichtung, Gewalt – und nun ist es zu Ende. Doch Verhaftungen, Folter, Hinrichtungen gehen weiter. Nur der Ort wechselt.
Liebe Freundinnen und Freunde, durch die Art und Weise, wie man uns in der Nacht unter Luftangriffen transportierte, wurden wir Opfer eines Kriegsverbrechens. Die Buskarawanen, eskortiert von Militär- und Polizeifahrzeugen, hätten jederzeit für feindliche Truppenbewegungen gehalten und angegriffen werden können.
Teheran lag in Dunkelheit. Am Horizont, dort, wo wir bald ankommen sollten, flammte Flakfeuer auf. Eine lange Reihe erschöpfter Häftlinge, gefesselt, schwer bepackt, bewegte sich durch die Nacht. Bei jedem Schritt stieß einer von uns einen Schmerzenslaut aus. Bewaffnete Beamte liefen an uns vorbei, schleuderten uns Beleidigungen und Drohungen entgegen.
Das Bild dieser angeketteten und verängstigten Gefangenen ähnelte Szenen aus Nazi-Deutschland und Zwangsarbeitslagern. Gefangene, die Opfer eines Bombenangriffs geworden waren – verletzt, traumatisiert oder getötet –, wurden einer brutalen Gewalt und Demütigung ausgesetzt, anstatt versorgt zu werden. Unsere Menschenwürde wurde mit Füßen getreten.
Wir schritten in eine düstere Zukunft. Das Klirren unserer Ketten war das Menetekel, das noch dunklere Tage ankündigte. Wir waren Gefangene – unschuldige, zu Unrecht Gefangene. In einem Augenblick wurden wir zu Kriegsopfern. Dann wurden wir zu menschlichen Schutzschilden. Und dann wurden wir von unseren eigenen Gefängniswärtern gefangen genommen. Nun sind wir auch noch Kriegsgefangene.
Während dieser ganzen Tortur waren wir Opfer der Rücksichtslosigkeit einer Regierung, die die Träume einer Nation zerstört hat. Eine Regierung, die einst sagte: „Wir kämpfen in Syrien, damit wir nicht auf unserem eigenen Boden kämpfen müssen.“ Ich wage zu behaupten: Kein anderes Regime in der Geschichte hat jemals seinem eigenen Volk so viel Unrecht angetan. Sie haben die Grenzen von Grausamkeit, Unterdrückung und nackter Gewalt neu definiert. Gefangene, die gerade Verletzte gerettet hatten, wurden nun selbst zur Zielscheibe – durch Waffen, die auf ihre Köpfe gerichtet wurden.
Um 8 Uhr morgens kamen wir im neuen Gefängnis von Teheran an. Eine Fahrt, die normalerweise eine Stunde dauert, dauerte sechs Stunden. Neun Stunden lang bekamen wir nicht einmal Wasser.
Wir sind nun seit einigen Tagen in diesem neuen Gefängnis. Noch immer unter dem Schock des Bombenangriffs und der grausamen Verlegung, schlug uns die Hölle der neuen Haftanstalt entgegen. Chaos, Gewalt, Überfüllung, fehlende Hygiene. Bettwanzen, Fliegen, Ungeziefer – überall. Das Wasser ist brackig und riecht wie aus einem Sumpf. Flaschenwasser ist im Gefängnisladen knapp, was die Sommerhitze noch unerträglicher macht. Die Stationen brodeln vor Wut und stehen kurz vor dem Aufstand.
Nachtrag: Nachdem wir im neuen Gefängnis angekommen waren, fand der Busfahrer – ein städtischer Angestellter – ein kleines Stück Papier, das aus der Tasche eines Mitgefangenen gefallen war. Darauf standen ein Name und eine Telefonnummer. Dieser gutherzige Fahrer rief die Nummer an und teilte der Familie des Gefangenen mit, dass er in Sicherheit sei – obwohl er ihn nicht kannte.
REZA KHANDAN, Großes Teheraner Gefängnis, 29. Juni 2025