In der aktuellen EMMA

Die große Einsamkeit

KUSAMA mit YELLOW TREE. © YAYOI KUSAMA, Courtesy of Ota Fine Arts, Victoria Miro, David Zwirner
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Wer ist einsamer – Männer oder Frauen? Theoretisch müssten es doch die Männer sein. Schließlich sind Frauen die sozialeren Wesen. Sie kümmern sich öfter um Kinder und Eltern, engagieren sich stärker in gemeinnützigen Projekten, arbeiten häufiger mit Menschen, sind kommunikativer und hilfsbereiter. Frauen sind also näher dran am Leben, oder?

Ja, sind sie. Aber all das schützt sie nicht vor Einsamkeit. Wer von vielen Menschen umgeben ist, ist zwar nicht allein, kann aber innerlich sehr einsam sein. 

Alleinsein ist ein objektiver Zustand. Allein ist, wer niemanden um sich hat. Einsam zu sein, ist ein subjektives Gefühl. ExpertInnen sprechen von „innerer Einsamkeit“ oder vom „Alone-in-the-crowd“-Phänomen. Und das trifft Frauen doppelt so häufig wie Männer.

Ein aktueller Bericht der WHO belegt, dass Frauen sich global gesehen doppelt so häufig einsam fühlen wie Männer – obwohl sie sozial oft stärker eingebunden sind. Sie fühlen sich innerhalb ihres Lebenskontexts nicht wahrgenommen, nicht anerkannt, nicht wertgeschätzt. Ihnen fehlt das Erleben von echter Verbundenheit. Innere Einsamkeit charakterisiert eine tiefe Unzufriedenheit mit den Beziehungen, die bestehen. Selbst Paarbeziehungen sind kein Schutz davor. 

Dies zeigt sich besonders in Zeiten von Umbrüchen. Sobald das Berufsleben endet oder Kinder das Haus verlassen, haben viele das Gefühl, nebeneinanderher statt miteinander zu leben.

Der WHO-Bericht ist der erste weltweite Überblick zum Ausmaß und den Folgen von Verein­samung. Der Report zeigt, dass global gesehen alte Menschen mehrheitlich die einsamsten sind, die Frauen darunter noch einmal stärker. Auch alleinerziehende und arbeitslose Frauen sind besonders betroffen. 

Einsamkeit ist nicht nur traurig, sie kann auch tödlich sein. 880.000 Menschen sterben jedes Jahr, weil sie einsam sind. Denn Einsamkeit sorgt für Stresshormone im Blut. Das wiederum hat Auswirkungen auf Blutdruck und den Blutzucker, die Verdauung, Wachstum und die Immunabwehr. Entzündungsprozesse im Körper werden gefördert. Menschen, die chronisch einsam sind, erkranken häufiger an Depressionen, an Demenz, an Herz-Kreislauf-Problemen. Laut WHO ist chronische Einsamkeit schädlicher als Übergewicht, schädlicher als 15 Zigaretten am Tag.

Jemand ist körperlich anwesend, aber geistig abwesend, weil er nur aufs Handy schaut

Soziologische Daten belegen, dass Einsamkeit in den Industrieländern in den letzten Jahren rapide zugenommen hat. Nur ein Beispiel: Die Zahl der Single-Haushalte hat sich in Deutschland seit 1991 verdoppelt und liegt aktuell bei 42 Prozent. (1970 lag der Wert bei 20 Prozent.)

Neben den Frauen sind es vor allem die Jugendlichen, die seit Corona unter Einsamkeit leiden. Besonders, weil die Restriktionen durch die Pandemie sie in die digitale Welt getrieben haben. Fast die Hälfte aller jungen Menschen zwischen 16 und 30 fühlt sich einsam. Sie fühlen sich verlassen, von anderen isoliert. Insgesamt entspricht das rund 2,5 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Mädchen fühlen sich häufiger einsam als Jungen. Tausend Followe­rInnen auf Instagram, aber keine einzige echte Freundin. „Einsamkeit geht häufig mit einem Gefühl mangelnder Selbstwirksamkeit einher und untergräbt das Vertrauen junger Menschen in die Politik“, heißt es in einer Einsamkeits-Studie der Bertelsmann-Stiftung. Langfristig drohe deshalb nicht nur der Rückzug aus zivilgesellschaftlichem Engagement, sondern auch eine wachsende Anfälligkeit für politische Entfremdung, Radikalisierung und Demokratieverdruss.

Das Gefühl, einsam zu sein, haben sogar schon Kinder. Die Kinder, die von 2010 bis 2025 geboren wurden, sind die erste Generation, die in einer vollständig digitalisierten Umgebung aufgewachsen ist. Diese Generation wird von außen bespielt wie keine zuvor. Viele Kinder verlernen es, Muße zu haben. Viele entwickeln zu wenig Empathie. Für Kinder ist es mittlerweile völlig normal, ChatGPT zu fragen, bevor sie ihre Eltern oder Großeltern fragen. Das Wissen der „Alten“ wird immer weniger wert.

Das Handy nimmt beim Thema Einsamkeit eine spezielle Rolle ein. Denn es ist verantwortlich für das Phänomen, das in der Fachwelt „Ambigous Loss“ genannt wird, zu Deutsch: uneindeutiger Verlust. Die bekannte Psychotherapeutin Esther Perel beschreibt es wie folgt: „Jemand ist körperlich anwesend, aber nicht präsent, weil das Handy in seiner Hand seine gesamte Aufmerksamkeit verschlingt. Mit so einem Menschen zusammenzuleben, kann einsam machen.“ Ein Phänomen, dass in Restaurants immer wieder zu beobachten ist. Da sitzen sich zwei gegenüber, aber sie sehen sich nicht an. Sie sprechen nicht miteinander. Sie schauen auf ihr Handy.

Mehr EMMA lesen! Die Januar/Februar-Ausgabe gibt es als Printheft oder eMagazin im www.emma.de/shop
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Für Esther Perel ist dieser „uneindeutige Verlust“, diese emotionale und psychische Abwesenheit von Menschen, die anwesend sind, mit Schuld an der Pandemie der Einsamkeit. „Gerade Frauen kennen dieses Phänomen sehr gut. Sie wollen Dinge mit ihrem Ehemann besprechen. Aber er hört einfach nicht zu. Er schaut in sein Handy. Er will sich nicht auf sein Gegenüber einlassen. Manche Menschen können das schon gar nicht mehr“, klagt Esther Perel. Ihrer Meinung nach gehe vielen die Fähigkeit der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht verloren, was auch sie selbst in die Einsamkeit manövriere. 

Dass aber nicht nur zwischenmenschliche Beziehungen, sondern wir als Gesellschaft alle tiefgreifend unter Einsamkeit leiden, hat niemand grundsätzlicher erforscht als Robert D. Putnam. Der US-amerikanische Politwissenschaftler und Harvard-Professor hat 1995 so etwas wie die Bibel der Einsamkeitsforschung geschrieben, „Bowling alone“ (dt. „Alleine bowlen“). Das Buch ist heute aktueller denn je.

Darin analysiert Putnam den dramatischen Verlust von sozialem Kapital in der amerikanischen Gesellschaft, der sich in einem Rückgang von Gemeinschaft, Vereinsleben und sozialem Engagement äußert. Putnam zeigt, wie sich solidarische Gemeinschaftsstrukturen, gegenseitiges Vertrauen und gemeinschaftliches Verantwortungsgefühl seit den 1960er Jahren in den USA stark abgeschwächt haben. Und zwar flächen­deckend und in jeder Gesellschaftsschicht. 

Angefangen hat all das mit einer einfachen Beobachtung. Putnam ist in den 1970ern aufgefallen, dass zwar immer mehr AmerikanerInnen zu ihrem heißgeliebten Volkssport, dem Bowling gehen, es aber immer weniger in Vereinen oder Gruppen tun.

Was waren die Ursachen? Putnam nennt Knappheit an Zeit und Geld, die Entfremdung von der Arbeit, lange Wege zwischen Wohnen und Arbeiten. Aber eine Sache stellt alles andere in den Schatten: die Folgen des Fernsehens, der elektronischen Unterhaltung. Sie hat die Menschen in ihrer Freizeit isoliert, sie einsam gemacht. Weniger Gespräche in der Familie, unter Nachbarn, weniger Zusammenkünfte an öffent­lichen Plätzen, weniger Ausgehen. Eine Isolation, die fundamental auf die Strukturen des Gemeinwesens übergriff: weniger Engagement im eigenen Ort, in der Kommunalpolitik, weniger Beitritte in Sportvereine, weniger Kirchenbesuche, weniger Besuche von Konzerten, weniger Engagement in Wohltätigkeitsorganisationen. Fehlen die Menschen an Orten des Gemeinwesens, verein­samen auch die Orte und verschwinden irgendwann. Ein Teufelskreis.

Durch das Fernsehen haben die Menschen ihrem Nachbarn nicht mehr vertaut

Putnam hat nicht nur die Tatsache analysiert, dass die elektronische Unterhaltung die Menschen einsam gemacht hat, er hat auch analysiert, wie sie sie verängstigt hat. 

Angstsituationen und bedrohliche Szenarien in den Medien schaffen eine Atmosphäre der Unsicherheit und des Misstrauens, die den sozialen Zusammenhalt schwächen. Nicht zuletzt zeigen Krimis von Anbeginn den Frauen, was ihre Rolle ist: Die der Leiche. Putnam: „So haben die Menschen angefangen ihrem Nachbarn nicht mehr zu vertrauen.“

Auch Kriegspropaganda funktioniert auf diese Weise. Vereinsamung, Extremismus und das Entstehen von Gruppen, die sich abkapseln, weil sie sich bedroht fühlen, sind das Ergebnis. Auch hier ein Teufelskreis: Die Angst sorgt für eine stärkere Rückzugstendenz und vermindert soziale Bindungen, was wiederum das Gefühl gesellschaft­licher Unsicherheit und Isolation erhöht.

Nicht nur das Fernsehen und das Internet, sondern vor allem Social Media und die voranschreitende Digitalisierung des öffentlichen Lebens machen die Menschen einsam. Aktuell verändert künstliche Intelligenz die Welt und unsere Beziehungen. Wahrscheinlich in einem Ausmaß, das noch niemand so wirklich begriffen hat. „Affective Computing“, eine Unterhaltungssparte der KI-Forschung, zielt beispielsweise darauf ab, künstlichen Systemen Emotionalität zu geben und sie in die Lage zu versetzen, die Gefühle eines Menschen zu erkennen und auf sie zu reagieren. Schon jetzt glauben viele Menschen, die mit einer KI kommunizieren: So höflich und wertschätzend habe ich mich schon lange nicht mehr unterhalten! 

Alte Menschen werden abgehängt, weil sie mit der Digitalisierung nicht mithalten können

Alte Menschen werden abgehängt, weil sie mit der Digitalisierung nicht Schritt halten können. Wer kein Smartphone besitzt, hat schon Probleme ein Parkticket zu ziehen.

Was immer mehr fehlt, sind Gemeinschaften und die Möglichkeit dazu, sie zu leben. Wo und was sind die Orte, an denen Menschen jeden ­Alters, Geschlechts und Hintergrundes noch zusammenkommen können? Die Kirche hat ihr ­Vertrauen verspielt, Vereine sterben, Feste und Veranstaltungen werden wegen Sicherheitsbeden­ken vor Terroranschlägen zusammengestrichen, wie zuletzt die Weihnachtsmärkte. Verbindende kulturelle Traditionen sterben ab. Es wird kaum noch miteinander geredet. Viele Menschen wissen nicht, wen sie wählen sollen. Übrigens ein Umstand, den Donald Trump genutzt hat. Dazu Putnam: „Trump hat den Menschen, die ihn wählen sollen, Gemeinschaft gegeben. Sie tragen die gleichen MAGA-Mützen und T-Shirts, hören die Musik, die er gut findet. Sie fühlen sich einander zugehörig, weil sie alle zusammen gegen die ­anderen sind. Trumps Auftritte sind immer ein gewaltiges Get-Together.“

Und das in Zeiten, in denen ein „Zusammenkommen“ immer schwieriger wird. Der öffent­liche Raum wird zunehmend unsicherer und noch dazu vernachlässigt. Frauen haben in den letzten Jahren einen leisen Rückzug angetreten, meiden aus Angst vor sexueller Gewalt – die seit 2015 zugenommen hat – öffentliche Verkehrsmittel, verzichten aufs Freibad. Spielplätze verrotten, öffentliche Sportanlagen und Parks ebenso. Eltern, die es sich leisten können, bauen ihren Kindern den Spielplatz, das Schwimmbecken und das Trampolin in den eigenen Garten. Die anderen haben Pech gehabt. So werden Kinder isoliert. 

Was also tun? „Die Mediennutzung herunterfahren und Beziehungen zu anderen Menschen suchen“, wird Putnam nicht müde zu predigen. Es sei das einzige Mittel. Er möchte dazu animieren, in lokale Vereine zu gehen, die Nachbarschaft aufleben zu lassen, Gemeinschaften aufzubauen, die Bürgergesellschaft zu stärken und vor allen Dingen, Kindern und Jugendlichen das Handy aus der Hand zu nehmen. 

Je vitaler eine Gesellschaft ist, umso besser sind Gesundheit, Bildung und Prosperität

Begegnungsstätten, Plätze für Sport, Parks, Biblio­theken müssten zurückerkämpft werden. „Je vitaler eine Gesellschaft ist, je mehr Gemeinsinn sie hat, desto besser stehen die Chancen für gute Gesundheit, Bildung, innere Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität. Desto schlechter sind die Aussichten für Kriminalität, Drogenkonsum oder Arbeitslosigkeit“, sagt der Experte und führt Italien als Beispiel an. 

Dort ging der Amerikaner der Frage nach, warum das Land in einigen Kommunen bestens funktionierte und in anderen so gar nicht. Er stieß auf Gesangsvereine: Je mehr es davon in einer Gegend gab, umso besser waren Politik und Verwaltung. Putnam: „Soziales Kapital, ein gutes gesellschaftliches Miteinander, hat eine immense Bedeutung für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft!“ 

Dass Einsamkeit ein weltweites Problem ist, ist längst klar. Es gibt vereinzelte Projekte und Initiativen des Widerstandes. In einigen Großstädten entstehen zum Beispiel „Superblocks“, in denen sich nicht mehr alles ums Auto dreht. Im Kern geht es darum, Nebenstraßen, die als Umfahrung genutzt werden, zu sperren – mit beweglichen Blöcken, daher der Name. Der Verkehr soll auf der Hauptstraße bleiben, den Menschen gehören die Nebenstraßen. 2003 wurde der erste Superblock in Barcelona im Viertel Gracia umgesetzt. Die Grünflächen verdoppelten sich, es gab nahezu keine Verkehrsunfälle mehr, die Stickstoffdioxidbelastung sank um 33 Prozent und die Lärmbelästigung verschwand. Was auch passierte: Die Menschen leben wieder auf ihrer Straße. Kinder spielen dort Ball und fahren Fahrrad, NachbarInnen treffen sich zum Kaffeetrinken oder Grillen. Plötzlich sehen sich die Menschen, die auf einer Straße wohnen – und freunden sich an. 

Auch in Leipzig ist jüngst so ein Raum für Begegnung, Austausch und gemeinschaftliche Nutzung entstanden. Weitere Superblocks sollen folgen. In Berlin sind rund 50 „Kiezblocks“ geplant. Die Bewegung „Changing cities“ möchte Städte wieder lebens- und liebenswerter machen.

„Die Initiative für solche Projekte kommt fast immer aus der Bevölkerung“, sagt Putnam. Er ist sich sicher: „Wir müssen unseren Gemeinsinn wiederbeleben. Sonst sind wir verloren!“   

PS: Weil die EMMA ihr Habitat in Köln hat, möchten wir eine Sache nicht unerwähnt lassen. Köln gilt laut „World’s Loneliest Cities Index 2025“ weltweit als die Stadt mit dem geringsten Einsamkeitsrisiko. Dies liegt laut ExpertInnen an einer Kombination aus starker sozialer Infrastruktur und ausgeprägter sozialer Mentalität, die durch Karneval und Brauchtum gefördert wird. Oder wie wir sagen würden: Kölle, du bes e Jeföhl! 

ANNIKA ROSS

FOTO: © KUSAMA mit YELLOW TREE / Living Room an der Aichi Triennale, 2010 © YAYOI KUSAMA, Courtesy of Ota Fine Arts, Victoria Miro, David Zwirner

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