Frauen schlafen anders!
Eva ist ausgezogen. Aus dem Ehebett. Seitdem schläft sie deutlich besser. Aber bis dahin war es ein weiter Weg.
Ihr Mann Martin hat immer schon geschnarcht. Als Eva auf die 50 zuging und ihr eigener Schlaf schlechter wurde, hat sie die Geräuschkulisse einfach nicht mehr ausgehalten. Eva schickte Martin irgendwann in ein Schlaflabor. Dort hat der Schlafmediziner nicht nur Martin, sondern auch Eva behandelt und ihr – angesichts der nächtlichen Dezibel-Zahl von nebenan – geraten, aus dem gemeinsamen Bett auszuziehen. „Mein Mann hat das anfangs als Kriegserklärung für unsere Beziehung verstanden“, sagt Eva. Sie schläft heute im früheren Kinderzimmer ihrer Tochter in einem 90er Bett – und findet es super. Es ist nicht nur die Ruhe, die ihr guttut, es ist auch der eigene Raum. Und da ist noch etwas. „Martin wollte öfter Sex als ich. Er hat mich nicht bedrängt, aber ich habe mich doch manchmal bedrängt gefühlt. Wenn ich Sex möchte, gehe ich heute zu ihm ins Bett. Wenn ich in meinem Zimmer verschwinde, weiß er, dass nichts läuft. Eigentlich ist unsere Beziehung jetzt sogar besser“, strahlt sie. Und sie verrät: „Auch die Lust auf Selbstbefriedigung ist zurückgekommen.“
Bei Sabine (64) ist nicht der Mann das Problem, zumal sie mit einer Frau verheiratet ist. Meistens fährt sie gegen vier Uhr nachts aus dem Schlaf hoch, manchmal hat sie Herzrasen, manchmal schwitzt sie. Ein bis zwei Stunden liegt sie wach da. Dann ist ihr die ganze Welt zu viel. Sie macht sich Sorgen über das Alter. Manchmal denkt sie in diesen Stunden über den Tod nach. Wie der wohl sein wird? Wenn es langsam hell wird, geht es ihr besser. Dann schläft sie ein wie ein Stein und quält sich um 8 Uhr unausgeschlafen aus dem Bett. Mal einmal tief und fest durchschlafen können, danach sehnt sie sich von Nacht zu Nacht.
So wie Eva und Sabine geht es vielen Frauen. Je älter sie werden, desto heiliger wird ein guter Schlaf. Ist es „nur“ der schnarchende Ehemann, ist die Lösung nah – sollte frau meinen. „Ganz so einfach ist es nicht. Männer schlafen nämlich besser, wenn ihre Frau neben ihnen liegt. Die wollen sie darum dabehalten. Die Frauen schlafen so aber eher schlechter. Der Auszug aus dem Ehebett ist also ein hochsensibles Thema“, weiß Christoph Schöbel, der erste Professor für Schlaf- und Telemedizin in Deutschland. Er behandelt und forscht am Essener Universitätsklinikum. „Bei manchen Paaren schaffen wir es auch, sie wieder ins gemeinsame Bett zu bekommen. Aber eigentlich sollten Beziehungen es aushalten, wenn die Nächte getrennt verbracht werden. Dafür ist ein guter Schlaf zu wichtig“, sagt der Schlafforscher.
In der Tat. Wir verschlafen ein Drittel unseres Lebens. Im Schlaf regenerieren sich die Zellen. Durch das Schlafen erhalten wir unser psychisches und emotionales Gleichgewicht. Auch Vitalität und Resilienz werden im Schlaf gemanagt.
Wer dauerhaft schlecht oder wenig schläft, schadet seinem Körper und seiner Psyche erheblich. Schlafentzug ist Folter.
Studien zeigen, dass insgesamt rund sechs Millionen Deutsche unter Schlafproblemen leiden. Damit gemeint ist weder die „senile Bettflucht“, also das frühzeitige Aufstehen älterer Menschen, noch das Gefühl, „mal“ schlecht geschlafen zu haben. Es geht um langanhaltende Schlafprobleme, die den Organismus beeinträchtigen. Und die treffen Frauen doppelt so häufig wie Männer. Die Insomnie, eine chronische Ein- und Durchschlafstörung, betrifft ebenfalls doppelt so viele Frauen wie Männer.
Der Schlaf von Frauen ist generell oft leichter und empfindlicher als der von Männern. Rein biologisch betrachtet, spielen dabei Hormone die größte Rolle. Bei der Menstruation, in der Schwangerschaft, Mutterschaft und in den Wechseljahren schlagen sie durch. Vor und während der Menstruation sinkt der Progesteronspiegel, was die schlaffördernde Wirkung verringert. In der Schwangerschaft bringt der starke Progesteron-Anstieg den kompletten Schlafrhythmus durcheinander. Östrogene beeinflussen die Tiefe und Struktur des Schlafs. Gleichzeitig können sie die Bildung von Melatonin — ein schlaffördernder Stoff — hemmen, was Ein- und Durchschlafprobleme verstärkt.
Ungefähr ab Mitte 40 produziert der Körper weniger Östrogen und Progesteron. Die hormonelle Umstellung ist für zwei Drittel der Frauen neben anderen Problemen, wie Hitzewellen, mit Schlafstörungen verbunden: Einschlafstörungen, nächtliches oder zu frühes Wachwerden. Sorgen und emotionale Belastungen können sie schlechter ablegen, auch Depressionen und Angstzustände treten bei ihnen häufiger auf.
„Unser Schlaf ist auch genetisch bedingt“, weiß Schlafforscher Schöbel. Den eigenen „Chronotypen“ zu kennen, kann hilfreich sein. Der Chronotyp beschreibt den individuell biologisch verankerten Schlaf-Wach-Rhythmus. Gängige Chronotypen sind „Lerchen“ (Frühaufsteher) und „Eulen“ (Spätaufsteher), wobei die meisten Menschen dazwischenliegen und zu den „Normaltypen“ zählen. „Das Wissen darum kann helfen, den Tagesrhythmus, wenn möglich, an die innere Uhr anzupassen. Dann schläft man manchmal besser“, rät Schöbel.
Wann aber nehmen Schlafstörungen pathologische Züge an? „Wenn die Schlafprobleme an mehr als drei Nächten pro Woche und länger als drei Monate anhalten, obwohl man dem Schlaf genügend Raum und Zeit gibt. Dann sollte man zum Schlafmediziner gehen“, empfiehlt Schöbel. In einem Schlaflabor wie dem seinen werden Hirnströme gemessen und wird der gesamte Biorhythmus überwacht. Neuerdings geht das mit Sensoren auch von zuhause aus, wo PatientInnen meist besser schlafen als im Labor. Schöbel: „Jeder Schlaf ist individuell. Wir müssen herausfinden, welche Therapie passt.“ Zu ihm kommen Menschen mit chronischer Tagesmüdigkeit, mit Ein- und Durchschlafstörungen, mit Restless-Legs-Syndrom, Menschen, die schnarchen, Schlafwandeln oder an Narkolepsie leiden, jener Krankheit, die zu plötzlichen Schlafattacken während des Alltags führt.
Das eigentliche Ziel der Schlafforschung aber ist Prävention, sodass es gar nicht erst zu chronischen Schlafstörungen kommt. Schlafforscher raten zuerst zu Schlaf-Routinen: „Wir müssen abends runterkommen. Dazu brauchen wir Rituale. Am besten in der immer gleichen Reihenfolge. Nicht zu spät zu schwer essen, das Licht runterfahren, Zähneputzen, lesen, etc. Da muss jeder Mensch seinen eigenen Weg finden“, empfiehlt Schöbel. Der eine schlafe besser stockduster, der andere brauche einen Lichtspalt. Er selbst zum Beispiel.
Schwieriger wird es, wenn die Schlafprobleme psychischer Natur sind. Wer eine posttraumatische Belastungsstörung oder gerade einen Menschen verloren hat, der kann diese Belastungen auch im Schlaf nicht mal eben ablegen. Depressionen und Schlafstörungen beeinflussen sich gegenseitig. Schlafmedizin und Psychologie gehen daher Hand in Hand.
Wie tief unser Schlaf mit unserer Psyche verbunden ist, ergründet auch die Schlaf-Coachin und Dozentin Thea Herold. 2011 hat sie das damals erste präventive Expertennetzwerk, die „Schlafakademie Berlin“ mitaufgebaut. Vor allem werden dort präventive Programme für Betriebe, Schulen und öffentliche Einrichtungen erarbeitet. Seit 1996 ist Thea Herold vom Thema Schlaf und der Frage „Wer sind wir nachts?“ fasziniert. „Schlaf gilt als Seismograph unseres Gesundheitszustandes. Das, was wir am Tag erleben, nehmen wir mit in die Nacht. Probleme erscheinen nachts oft noch größer als am Tag. Unser Schlaf ist nur so gut wie unser Tag war“, weiß sie.
Für sie hat das Schlafen auch eine philosophische und mythologische Dimension: „In der griechischen Mythologie wurde der Schlaf als der kleine Tod bezeichnet, den wir jede Nacht sterben müssen. Hypnos, der Gott des Schlafes, war der Zwillingsbruder von Thanatos, dem Gott des sanften Todes. Sie waren Söhne von Nyx, der Göttin der Nacht. Daher auch das Wort ‚entschlafen‘“, erzählt Herold. Auf die Frage, warum der Mensch überhaupt schläft, welcher Mechanismus ihn einschlafen lässt, darauf gibt es letzten Endes keine Antwort“, resümiert Herold.
Bekannt aber ist: Der Schlaf regeneriert uns nicht nur körperlich, sondern auch mental. Er ermöglicht einen Zuwachs der Erkenntnisse, die wir tagsüber erlangen. Das Einordnen von bereits Erlerntem findet im Schlaf statt. Er baut uns synaptische Brücken, er sorgt für neuronale Plastizität und lässt uns morgens klüger aufwachen als wir abends zu Bett gehen.
Thea Herold verweist auf die REM-Phasen (REM = Rapid Eye Movement), die durch schnelle Augenbewegungen bei geschlossenen Liedern gekennzeichnet sind. Im REM-Schlaf ist das Gehirn besonders aktiv, und die meisten lebhaften Träume entstehen in dieser Zeit. „In den Traumschlafphasen haben wir die Fähigkeit und Möglichkeit, ganz bizarre und kreative Prozesse in Gang zu setzen und durchzuspielen“, erklärt Herold.
J. Allan Hobson, der Pionier der REM-Schlafforschung der 1960er Jahre, sagte in einem Interview mit Thea Herold kurz vor seinem Forschungsende: „Zu Anfang meiner Forschung dachte ich, wir verarbeiten Erlebtes in unseren Träumen. Heute denke ich, wir nehmen etwas vorweg. Wir leben auf Probe. Es kann gut sein, dass wir nachts, wenn wir schlafen, eine Zukunftsversion von uns selbst sind.“
Ob es so weit geht, ist nicht bewiesen. Sicher aber ist, dass Traumschlaf Ansätze für das Lösen von Problemen bietet. Der Rat „Schlaf‘ mal eine Nacht drüber“ ist folglich kein inhaltsleerer Spruch. Viele PatientInnen schlafen angstbehaftet. „Träume sind oft negativ. Sie sind von Angst, Flucht, Verteidigung und Aggression gezeichnet. Aber das ist eigentlich gut so. Wir alle haben negative Facetten in uns und die müssen wir auch ausleben können, sonst wären wir nicht im psychischen Gleichgewicht“, sagt Christoph Schöbel. Was sowohl er als auch Thea Herold beobachten, ist, dass der Schlaf bei vielen Menschen heutzutage zur Obsession geworden ist.
„Wer auf dem Selbstoptimierungstrip ist, möchte auch den eigenen Schlaf verbessern“, so die ExpertInnen. Das funktioniere aber nur bedingt. Viele Menschen, die ihren Schlaf mit Schlafmitteln und Präparaten verbessern wollen, landen oft in einer Sackgasse oder gar in der Sucht, etwa von Schlaftabletten. Weil sich Körper und Gehirn an ihre Wirkung gewöhnen und eine Toleranz entwickeln, wodurch die Wirkung nachlässt und die Dosis gesteigert werden muss.
Und natürlich wird mit Schlaf auch Geld verdient. Welches Bett, Oberbett, welche Matratze und welcher Lattenrost es sein soll, sind mittlerweile Glaubensfragen. Schlaftracker und Sensormatten analysieren Schlafzyklen, Herzfrequenz und Schnarchen. Lichtwecker simulieren Sonnenauf- und -untergang, um das Einschlafen und Aufwachen zu erleichtern. Digitale Schnarchstopper, Masken und Anti-Schnarchgurte sowie Schlafwesten sollen Schnarchen bekämpfen. Neuerdings sind „thermoregulierende Matratzen“ im Trend, die die Körpertemperatur während des Schlafs ausgleichen. Überschüssige Wärme wird abgeleitet, bei Kälte wird Wärme gespeichert. Kosten: Ab 1.300 Euro aufwärts. Und dann wären da noch unzählige Schlafmittel, CBD-Öle, Kräutertees, Melatonin- und Lavendelprodukte sowie Duftstoffe, Entspannungsmusik und Traumschlafreisen im Angebot.
Schöbel und Herold plädieren dafür, den eigenen Schlaf nicht so dogmatisch zu sehen. „Unser Körper holt sich schon, was er braucht. Mit einer entspannteren Grundhaltung schläft es sich meistens am besten.“ Viele PatientInnen müssten einfach das Vertrauen in den eigenen Schlaf zurückgewinnen.
Die Beschäftigung mit dem Schlaf ist also auch ein Wohlstandsphänomen der modernen Welt. Wer körperlich schwer arbeitet und abends auf die Matratze kracht, hat selten Einschlafprobleme. Eltern von Kleinkindern könnten manchmal im Stehen einschlafen. Besonders Mütter kämpfen in den ersten Lebensjahren ihres Kindes mit Dauermüdigkeit.
Heutige Schlafstörungen haben oft mit der Verdichtung und Digitalisierung des Alltags zu tun. „Die Konturen zwischen Arbeit und Feierabend verschwinden, soziokulturelle Veränderungen greifen in unsere Schlafkultur ein. Wie zum Beispiel die Angst, etwas zu verpassen“, weiß Thea Herold. „FOMO“ heißt das Phänomen, „Fear of Missing Out“. Das ist eine Folge der Globalisierung und Digitalisierung, die durch Auswüchse wie Social Media mehr und mehr zunimmt.
Dabei ist der größte Eingriff in den menschlichen Schlaf schon vor über 140 Jahren passiert. Als Thomas Alva Edison 1879 die Glühbirne und damit das erste stabile, elektrische Licht erfand. Die Elektrifizierung der Welt hat unseren Schlaf umgekrempelt. Sie machte die industrielle Revolution und damit das Arbeiten in Schichten überhaupt erst möglich.
Manchmal kann es schon helfen, um all diese Dinge zu wissen. Bei Sabine ist das so. Seit sie weiß, dass ihre „Grübelphase“ gegen vier Uhr normal ist und viele Menschen betrifft, kann sie besser damit umgehen. Denn um die Zeit verringert sich das Schlafhormon Melatonin und das wachmachende Stresshormon Cortisol steigt allmählich an, damit wir langsam wach werden. Viele Sorgen nehmen wir in dieser Zeit deutlich schlimmer wahr, als sie eigentlich sind.
Sabine hat sich im Schlaflabor beraten lassen. Sie hat keine Angst mehr vor der Nacht. Und hin und wieder schläft sie sogar tief und fest durch.
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