In der aktuellen EMMA

Nicole Dill: Hat gesiegt!

Nicole Dill zog für mehr Opferrechte vor den Europäischen Gerichtshof, mit Erfolg. Foto: Silas Zindel
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Fast genau 18 Jahre hat ihr Kampf gedauert. Dann bekam Nicole Dill, 56, im April 2025 endlich Recht: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) rügt die Schweiz, weil sie den Datenschutz eines Mörders höher gewichtete als das Recht von Nicole Dill auf Unversehrtheit.

Es war die Nacht vom 19. auf den 20. September 2007, die alles veränderte. Der Mann, mit dem die damals 38 Jahre alte Nicole Dill kurz eine Beziehung hatte, versuchte sie zu töten. Der Fall machte wegen seiner Brutalität über die Schweiz hinaus Schlagzeilen. 

Ihr Ex-Partner drang in Dills Wohnung ein, entführte sie, versuchte, sie mit Abgasen zu ersticken, vergewaltigte sie, schoss ihr mit der Armbrust in den Oberkörper, zweimal in die Lunge, der dritte Pfeil streifte das Herz. Dann fesselte er sie und fuhr mit ihr im Kofferraum stundenlang durch die Stadt Luzern. Schwer verletzt über­redete sie ihn frühmorgens, seinen Psychologen anzurufen. Als dieser vor Ort eintraf und das blutüberströmte Opfer sah, alarmierte er die Polizei. 

Zwei Tage später nahm sich der Täter in der Untersuchungshaft das Leben. Nicole Dill überlebte, kämpfte sich zurück. Aber seitdem ist nichts mehr, wie es einmal war. 

Dass sie sich wieder verlieben konnte, heiratete und einen Sohn bekam, war nur dank intensiver Therapie möglich. Bis heute braucht sie psychologische Betreuung und erinnern sie die Narben am Oberkörper täglich daran, dass man sie im Stich gelassen hat. Denn der Mann, der sie zu ermorden versuchte, war einschlägig vorbestraft: Er hatte schon einmal eine Frau getötet und war deswegen zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Nur ein Jahr, bevor er Nicole Dill kennenlernte, war er gegenüber seiner damaligen Partnerin erneut straffällig geworden. Er sei gefährlich, hielt ein Gutachten fest, besonders für Personen, mit denen er eine intime Beziehung unterhalte. 

Nicole Dill erfuhr von all dem erst im Spital. Es war ein Schock. 

Die Polizei hatte sie nicht gewarnt, obwohl sie mit ihr in Kontakt stand, da ihr Ex-Partner sie nach der Trennung stalkte. Und niemand wollte schuld sein an dem, was ihr deswegen widerfuhr. Nicole Dill klagte gegen den Kanton Luzern, aber alle Schweizer Gerichtsinstanzen, bis hinauf zum Bundesgericht, argumentierten gleich: Die Behörden hätten richtig gehandelt, sie hätten keine Auskunft geben dürfen. Jedes neue Urteil bestätigte Nicole Dill, dass ihre Unversehrtheit weniger wert war als die Persönlichkeitsrechte eines verurteilten Mörders. 

Einige kleine Fortschritte in Sachen Opferschutz gibt es seither in der Schweiz. So hat der Kanton Luzern 2016 die Möglichkeit der sogenannten Gefährderansprachen eingeführt. Damit kann die Polizei „potenziell gewaltbereite Personen frühzeitig direkt ansprechen oder Maßnahmen wie Wegweisungen erteilen”. Auch landesweit hat sich einiges getan: Im Juni entschied das nationale Parlament, dass Stalking auf Antrag strafrechtlich verfolgt werden kann. 

Nicole Dill genügt das nicht. Sie sieht in ihrer Anlaufstelle für Gewaltopfer „Sprungtuch“ zu viele Frauen, die sich auch heute noch so alleine gelassen fühlen wie sie damals. Deshalb empfindet sie den Sieg in Straßburg nicht als Abschluss, sondern sagt: „Definitiv gewonnen habe ich erst, wenn die Schweiz die Rüge des Gerichtshofs ernst nimmt und etwas ändert.“ Immer noch ginge der Täterschutz zu häufig vor, es müsse endlich der dringend nötige Opferschutz umgesetzt werden. „Das erwartet auch die Bevölkerung“, sagt Dill, der nach ihrem Sieg eine riesige Solidaritätswelle entgegenbrandete. Sie hat nicht vor, locker zu lassen: „Ich habe überlebt, um für all diejenigen zu kämpfen, die es nicht mehr können oder die keine Kraft dafür haben.“ 

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verpflichtet die Schweiz, Nicole Dill die zugesprochene Entschädigung von 52.000 Franken zu bezahlen; darüber hinaus muss sie dem Ministerkomitee des Europarats innerhalb von sechs Monaten über die Umsetzung des Urteils Bericht erstatten. 

Nicole Dill wird sehr genau hinschauen. Und nicht nur sie. 

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