Helene Nestler: Tut Süßes
Berge von Äpfeln, Aprikosen, Nektarinen, Brombeeren, Himbeeren, Orangen und Zitronen türmen sich auf. 40 Frauen flitzen zwischen dampfenden Töpfen und Tischen hin und her. Früchte werden geschnitten, auf mobilen Induktionsplatten eingekocht. 500 Gläser werden gefüllt, verschraubt und beschriftet. Und schließlich werden Paletten gestapelt, abtransportiert und das große Aufräumen beginnt. Die Seniorenbegegnungsstätte der Kaiserstiftung in München wird jeden Dienstag zur Großküche umfunktioniert. Denn am Dienstag, da ist „Einkochtag“ für „Mammalade für Karla“.
Ins Leben gerufen wurde die „Mammalade für Karla“ (ein Wortspiel aus Marmelade und Mamas Lade, in der Süßes liegt. Und Karla ist ein Obdachlosenheim für Frauen in München) vor acht Jahren von Helene Nestler. Die gelernte Bankkauffrau hat ehrenamtlich in dem Frauenobdach „Karla 51“ in München gearbeitet. Die Lebensgeschichten der Frauen dort gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. „Es kann sehr schnell gehen, obdachlos zu werden“, sagt sie im Gespräch mit EMMA. 18, 19-jährige Mädels, die Gewalt in der Familie hinter sich haben oder an den falschen Mann geraten sind. Gestandene Frauen, die „geräumt“ wurden, weil der Mann heimlich Schulden gemacht hatte.
Die Schutzlosigkeit, die diese Frauen auf der Straße erleben, treibt Helene Nestler um. „Ich habe mich gefragt, was ich mit meinen Mitteln ausrichten kann“, sagt sie. Schnell kam eins und eins zusammen. Helene kocht und backt gern und sie ist eine leidenschaftliche Lebensmittel-Verwerterin. Die Wegwerfmentalität findet sie falsch. „All das Fallobst, das einfach so verrottet. All die Lebensmittel, die die Supermärkte am Montag wegschmeißen, wenn die neue Ware kommt (deswegen ist auch am Dienstag Einkochtag bei Mammalade). Da hab’ ich einfach versucht, mit Marmelade Geld zu verdienen“, sagt sie.
Mit einem kleinen Verkaufsstand am Tennisplatz ging‘s los. Mehr und mehr Frauen (und nun auch drei Männer, darunter ihr eigener) haben sich ihr über die Jahre angeschlossen. „Die Idee ist das eine, die Umsetzung das andere. Auf das Engagement und das Pflichtbewusstsein dieser Frauen wäre jedes Unternehmen neidisch! Wir sind ein tolles Team“, schwärmt Helene.
Rund 20.000 Kilo Obst haben die Mammalade-Frauen in den vergangenen Jahren gerettet. Die Marmelade wird mittlerweile an 35 Abnehmer verkauft: regionale Supermärkte, Bäckereien, Cafés, Hotels und die Bayerische Staatskanzlei gehören dazu. Die Frauen selbst verkaufen sie auf Wochenmärkten, Dorf- und Straßenfesten. Seit Vereinsbestehen konnten über 300.000 Euro an „Karla 51“ gespendet werden. Rund 60 Frauen und 15 Kindern geht es dort ein bisschen besser, weil es „Mammalade“ gibt.
Und nicht nur ihnen. Auch die „Mammalade-Frauen“ selbst profitieren davon. Alle sind im Ruhestand, manche bereits verwitwet. „Von uns ist niemand einsam. Wir sind zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengewachsen. Wir helfen uns gegenseitig, tauschen uns aus, wissen, was bei der anderen los ist. Und wir lachen viel! Der Dienstag ist unser Tag, der ist uns allen heilig!“, erzählt Helene. Und über die Wertschätzung, die sie in der Region erfahren, freuen sich die Frauen natürlich auch.
„Frauen gehören immer noch zu den Schwächeren in unserer Gesellschaft. Sie müssen immer noch um vieles kämpfen“, sagt Helene. Das musste sie selbst auch. Ihr Vater war gewalttätig, ihre Mutter schwach. Die vier Kinder bekamen viel ab. Eine Zeit lang war ihr eigener Bruder obdachlos. Als ihre erste Tochter geboren wird, ist Helene alleinerziehend. „Erst mit ihr bin ich stark geworden“, erinnert sie sich.
Und schon immer wollte sie auch anderen Frauen helfen. Sie betreute Gefangene im Frauengefängnis, gründete das Sozialkaufhaus „Klawotte“, von dem es mittlerweile sechs Filialen gibt. Sie engagierte sich auch für Frauen in Afghanistan. Helene Nestler: „Aber eigentlich wollte ich immer für die Frauen vor meiner Haustür was tun. Da muss doch der erste Blick hingehen.“ Das ist ihr gelungen.
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