Der deutsche Sonderweg
Die Prostitution und das sie begleitende Übel des Menschenhandels zum Zwecke der Prostitution sind mit der Würde und dem Wert der menschlichen Person unvereinbar.“ So lautet der erste Satz der „Konvention zur Unterbindung des Menschenhandels und der Ausnutzung der Prostitution anderer“ der Vereinten Nationen, geschrieben im Dezember 1949, also vor 76 Jahren.
Die damals frisch gegründete Weltgemeinschaft zog aus dieser Grundannahme folgende Konsequenzen: „Die Vertragsparteien dieser Konvention kommen überein, jede Person zu bestrafen, die 1. eine andere Person, selbst mit deren Einwilligung, zu Zwecken der Prostitution beschafft, sie dazu verleitet oder verführt; 2. die Prostitution einer anderen Person, selbst mit deren Einwilligung, ausnutzt.“ Außerdem solle jede Person bestraft werden, die „1. ein Bordell unterhält oder leitet oder wissentlich finanziert oder an dessen Finanzierung beteiligt ist; 2. wissentlich ein Gebäude oder eine andere Stätte oder irgendeinen Teil davon zum Zwecke der Prostitution anderer vermietet oder mietet.“
Was ist daraus geworden? Erst einmal lange nichts. Frauenhandel und Prostitution grassierten weltweit, auch in den UN-Staaten. Allen voran in Deutschland, wo es bis heute legal ist, Frauen zu kaufen, wo Zuhälter unbekümmert und Bordellbetreiber ganz normale „Unternehmer“ sind.
Im Jahr 1999 führte Schweden im Rahmen seines Programms „Kvinnofrid“ (Frauenfrieden) die Bestrafung von Freiern und die Entkriminalisierung der Frauen (und Männer) in der Prostitution ein. Seither ist ein Land nach dem anderen diesem sogenannten „Nordischen Modell“ gefolgt. Zuerst alle skandinavischen Länder, Ausnahme: Dänemark. Aber auch dort dürfte es bald so weit sein, denn Ministerpräsidentin Mette Frederiksen ist eine leidenschaftliche Gegnerin des legalen Frauenkaufs. „Ich glaube nicht, dass der Kunde einer Prostituierten danach in der Lage ist, eine Schulklasse zu unterrichten, in einem Gerichtssaal zu urteilen oder Politiker, Polizist oder was auch immer zu sein, in einer Weise, die mit dem vereinbar ist, was wir unter Gleichberechtigung und Respekt zwischen den Geschlechtern verstehen“, erklärte die Regierungschefin bei ihrem Amtsantritt.
Schließlich übernahmen auch Kanada, Israel, Irland, Nordirland und Frankreich das Modell. Die französische Pro-Prostitutionslobby zog gegen das Gesetz vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg – und scheiterte. Die Straßburger RichterInnen erklärten im Juli 2024: Ziel des Gesetzes sei es keineswegs, den Prostituierten zu schaden, im Gegenteil: Es solle dabei helfen, „Menschenhändlerringe zu bekämpfen“ und „prostituierten Personen Unterstützung zukommen zu lassen“.
Genau 75 Jahre nach der UN-Konvention, im Juni 2024, forderte auch die UN-Sonderbericht-erstatterin für Gewalt gegen Frauen und Mädchen, Reem Alsalem, in ihrem Bericht „Prostitution und Gewalt gegen Frauen und Mädchen“ noch einmal unmissverständlich auf: „Staaten müssen Frauen und Mädchen in der Prostitution entkriminalisieren und sie als Opfer behandeln und unterstützen, während gleichzeitig der Kauf sexueller Handlungen kriminalisiert werden muss.“
Es stellt sich also die Frage: Warum hat Deutschland immer noch nicht gehandelt? Rotlichtmeilen wie die Dortmunder Linienstraße oder das Hannoveraner Steintor, das Duisburger Vulkanviertel oder die Hamburger Herbertstraße gibt es nur in Deutschland (und Holland). Mit seiner 2001 von der rot-grünen Regierung verabschiedeten Prostitutionsreform ist Deutschland zum Eldorado für Zuhälter und Menschenhändler geworden, die hier den größten Markt Europas vorfinden. Und zum Einreiseland für Sextouristen.
Die gute Nachricht: Die CDU hatte es inzwischen begriffen und sich die Freierbestrafung 2024 in ihr aktuelles Grundsatzprogramm geschrieben: „Sexuelle Ausbeutung, Menschenhandel und Prostitution sind mit der Würde von Menschen nicht vereinbar. Deshalb unterstützen wir ein Sexkaufverbot und Hilfen beim Ausstieg aus der Prostitution.“ Die CSU stimmte in der Unionsfraktion ebenfalls dafür.
Die schlechte Nachricht: Obwohl die heute mit Abstand größte Fraktion klar für das „Nordische Modell“ eintritt, schaffte es nach den Bundestagswahlen im Februar 2025 nur ein mickriger Satz in den Koalitionsvertrag der Union mit der SPD: Nachdem man immerhin einräumt, dass Deutschland „zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“ ist, heißt es trotzdem nur lapidar: „Im Lichte der Evaluationsergebnisse zum Prostituiertenschutzgesetz werden wir mit Unterstützung einer unabhängigen Experten-Kommission bei Bedarf nachbessern.“ Bitte? Bei Bedarf? Im Ernst?
In Deutschland sind heute mindestens 250.000 Frauen in der Prostitution tätig. Die Anmeldepflicht, die 2017 mit dem sogenannten „Prostituiertenschutzgesetz“ eingeführt wurde, läuft ins Leere – was abzusehen war. Gerade einmal 32.300 Frauen waren Ende 2024 in Deutschland als Prostituierte gemeldet, also nicht einmal jede zehnte. Die restlichen 90 Prozent arbeiten also im „Dunkelfeld“ – was auch das beliebte Argument, mit dem „Nordischen Modell“ würde die Prostitution ins Dunkelfeld abwandern, ad absurdum führt.
Doch auch das „Hellfeld“ schützt nicht vor Gewalt und Ausbeutung. Gerade einmal 564 Ermittlungsverfahren wegen Menschenhandel werden laut BKA aktuell geführt. Ein Witz, wenn man, wie auch die Polizei, davon ausgeht, dass 90 Prozent der Frauen sich nicht freiwillig Tag für Tag von bis zu 20 Männern in alle Körperöffnungen penetrieren lassen. „Das heißt: Nur ein winziger Bruchteil der Opfer wird erkannt“, sagt Helmut Sporer. Der inzwischen pensionierte Oberkriminalrat hat 17 Jahre lang das Augsburger Kommissariat für „Organisierte Kriminalität“ geleitet. Sporer, mehrfach Experte im Rechtsausschuss des Bundestages, klagt heute: „Der Gesetzgeber nimmt also momentan hin, dass der größte Teil der Opfer unerkannt bleibt und die Verbrechen, die an ihnen begangen werden, nicht verfolgt werden.“
100 Freier im Monat muss eine Frau, die sich in einem Laufhaus prostituiert, „bedienen“ (so heißt das im Fachjargon), nur um die 180 Euro Miete (am Tag!) für ein Zimmer zu bezahlen. Es sind in der Regel Osteuropäerinnen, die kaum ein Wort Deutsch sprechen und als „Frischfleisch“ von Bordell zu Bordell gekarrt werden. Dabei ist der Zwang manchmal brutale Gewalt; manchmal gaukelt ein „Loverboy“ der (meist sehr jungen Frau) die große Liebe vor; manchmal schickt die Familie aus dem rumänischen Ghetto, wo Frauen nicht viel wert sind, ihre Tochter nach Deutschland. Die „funktionieren dann wie Geldautomaten für die Familien“, sagt die Sozialarbeiterin und Sisters-Vorsitzende Sabine Constabel. Strafbar ist das in Deutschland nicht.
Und selbst wenn einer Frau der Pass abgenommen und sie von ihrem Zuhälter zusammengeschlagen wird, sind der Polizei die Hände gebunden – denn die braucht für ein Verfahren die Aussage der Frau. Doch die bekommt sie in den allerwenigsten Fällen. Die Frauen haben Angst. Mit Grund.
Vor welche Wände die Polizei rennt, erläuterte eindrücklich der Duisburger Polizeipräsident Alexander Dierselhuis bei einer Anhörung im Familienausschuss im September 2024. Damals hatte die CDU/CSU einen Zwölf-Punkte-Plan in den Bundestag eingebracht, Punkt 1: Die Einführung der Freierbestrafung. Dierselhuis hatte als Staatsanwalt mehrere Verfahren wegen Menschenhandel geführt, darunter eins, in dem schließlich insgesamt sechs Opfer gefunden wurden. Bei allen bewies die Telefonüberwachung, dass sie zur Prostitution gezwungen wurden. „Trotzdem behaupteten vier Frauen, sie würden sich freiwillig prostituieren.“ Wie viel einfacher wäre es, wenn der Frauenkauf als solcher strafbar wäre. Dierselhuis: „Wir hätten dann eine einfach nachweisbare Straftat und damit eine Eintrittstür in die Ermittlungen.“
Das war vor der Bundestagswahl 2025. Danach sah sich die Union in den Koalitionsverhand-
lungen einem Koalitionspartner gegenüber, der offensichtlich immer noch unter dem Einfluss der Pro-Prostitutionslobby steht. Wie kann es sonst sein, dass die 16-Prozent-Partei SPD (wieder einmal) der Bremsklotz ist, um endlich auch in Deutschland das „Nordische Modell“ einzuführen?
Im Jahr 2002 war die fatale rot-grüne Prostitutionsreform in Kraft getreten, die Bordellbetreiber zu „Unternehmern“, Freier zu „Kunden“ und Prostituierte zu „Solo-Selbstständigen“ machte.
2007 kamen mit der EU-Osterweiterung zehn osteuropäische Länder in die Europäische Union und damit Zehntausende Frauen aus den ärmsten Ländern Europas nach Deutschland, um in den neuen Großbordellen, die sich jetzt „Wellnessoasen“ nannten, anzuschaffen. Oder auf dem Straßenstrich, der zum Beispiel in Dortmund derart außer Kontrolle geriet, dass die Stadt ihn 2011 verbot.
2013 lancierte EMMA, die 2001 händeringend vor der Reform gewarnt hatte, den Appell „Prostitution abschaffen!“ 90 ErstunterzeichnerInnen aus Politik, Wissenschaft und Kultur unterschrieben, von Bischöfin Margot Käßmann bis Schauspielerin Maria Furtwängler, von Gewerkschafterin Ursula Engelen-Kefer bis zum Kabarettisten Dieter Nuhr. Über 10.000 UnterzeichnerInnen folgten. Der Appell schlug ein wie eine Bombe und brach die längst überfällige öffentliche Debatte vom Zaun.
Doch als die große Koalition 2017 die Chance gehabt hätte, die fatale Reform von 2002 grundlegend zu reformieren, passierte – nichts. Die SPD verhandelte fast alles, was die Frauen geschützt hätte, wieder heraus, zum Beispiel die Anhebung des Mindestalters auf 21 (Berufsfreiheit!). Das sogenannte „Prostituiertenschutzgesetz“ geriet zum Zuhälterschutzgesetz.
Doch auch wenn im Berliner Bundestag nichts voran ging, an der Basis entstanden nun immer mehr Initiativen gegen den deutschen Sonderweg. Allen voran 2015 Sisters – für den Ausstieg aus der Prostitution (siehe S. 70). Am 27. September 2020 gründeten rund 130 Frauen (und einige solidarische Männer) in Bonn das Bündnis Nordisches Modell (das seit Oktober 2023 als Bundesverband firmiert), mit dabei Sisters, Solwodi oder die Feministische Partei, aber auch viele neue wie Alarm! Gegen Sexkauf und Menschenhandel! in Gießen oder Mannheim gegen Sexkauf!. Ihre Aktivitäten: vielfältig. Die Münchner Initiative Vulvafem hatte eine Online-Interview-Reihe mit ExpertInnen organisiert, das Feministische Bündnis Heidelberg hat ein Buch herausgebracht: „Was kostet eine Frau? Eine Kritik der Prostitution“. Und auch Frauen, die sich selbst prostituiert haben und jetzt für die Ächtung des Frauenkaufs kämpfen, waren in Bonn dabei: so das 2018 von Huschke Mau gegründete Netzwerk Ella. Im Bundestag initiierte die SPD-Bundestagsabgeordnete und Co-Vorsitzende von Sisters, Leni Breymaier, noch zu Zeiten der Ampel einen überparteilichen Arbeitskreis für das „Nordische Modell“. „Die öffentliche Front im Kampf gegen das System Prostitution ist explodiert!“ stellte Alice Schwarzer in ihrer Rede zum Abschluss der Tagung fest. Eröffnet hatte den Tag Per-Anders Sunesson, der schwedische „Sonderbotschafter für die Bekämpfung des Menschenhandels“.
Ebenfalls im Herbst 2020 zeigte eine von der Alice-Schwarzer-Stiftung initiierte Allensbach-Umfrage, dass auch die deutsche Bevölkerung sehr genau weiß, wie gewaltvoll das System Prostitution ist. 70 Prozent der repräsentativ Befragten waren überzeugt, dass „viele Frauen zur Prostitution gezwungen werden“ und sich „Prostitution in der Illegalität abspielt“. Dass die deutschen Gesetze ausreichen, um die Auswüchse zu bekämpfen, glaubten nur 15 Prozent.
Währenddessen forderte auf europäischer Ebene eine Institution nach der anderen die Länder auf, die Freierbestrafung einzuführen. So erklärte im Juni 2024 das Europäische Parlament in einer Resolution: „Das System Prostitution ist von Natur aus gewalttätig, diskriminierend und zutiefst unmenschlich.“ In diesem System spielen die „Käufer eine Schlüsselrolle“. Der Europarat und die OSZE sehen das genauso.
Im Freierparadies Deutschland hatte die Ampelregierung die Tatsache geflissentlich ignoriert, dass ihr Land gleich reihenweise gegen internationale Abkommen verstößt. Umso größer war nach der Wahl die Hoffnung, dass eine Regierung unter Führung der Union nun endlich den Schritt tut, den andere Länder längst getan haben: die Freier bestrafen, die Frauen entkriminalisieren und ihnen Hilfen zum Ausstieg anbieten!
Doch als die lang erwartete Evaluation, die das ganz offenkundig völlig kontraproduktive „Prostituiertenschutzgesetz“ nach fünf Jahren auswerten sollte, am 25. Juni 2025 veröffentlicht wurde, war das Ergebnis, gelinde gesagt, überraschend. Das Gesetz könne „beachtliche Erfolge vorweisen“, behauptete das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN), das 2017 vom damaligen Bundesfamilienministerium mit der Evaluation beauftragt worden war. Auf welcher Basis? Auf der einer unwissenschaftlichen Befragung via Internet.
Nach der Veröffentlichung hagelte es Kritik. „Die Fragebögen waren sprachlich so schwierig, dass wir sie mit unseren Frauen gar nicht ausfüllen konnten“, erklärt Marietta Hageney von Solwodi Baden-Württemberg. Da die Fragebögen in Internetforen veröffentlicht wurden, konnten sie problemlos auch mehrfach von einer Person ausgefüllt werden. So erklärt es sich auch, dass jede zweite der Befragten Deutsch als ihre Muttersprache angab. Dabei liegt der Anteil der Ausländerinnen in der Prostitution bei mindestens 85 Prozent. Marietta Hageney: „Es springt ins Auge, dass die Ergebnisse völlig verzerrt und nicht repräsentativ sind.“ Die Manipulation geht also munter weiter, auf Kosten der Frauen in der Prostitution.
Was nun? Bundesfrauenministerin Karin Prien (CDU) kündigte eine „unabhängige Expertenkommission“ an. Doch wie viele „Experten und Expertinnen“ sollen eigentlich noch berichten, wie erbärmlich es den Hunderttausenden Frauen geht, die sich in deutschen Bordellen, Terminwohnungen und auf dem Straßenstrich Tag für Tag verkaufen? Und wie lange soll es noch dauern, bis auch deutsche PolitikerInnen endlich begreifen, was die Vereinten Nationen schon 1949 unmissverständlich erklärt haben: „Prostitution ist mit der Würde des Menschen unvereinbar.“
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