Der Schrecken der Zuhälter
Sie ist so klein und zierlich, dass man sich schwer vorstellen kann, dass die Zuhälter im Stuttgarter Rotlichtviertel Respekt vor ihr haben. Aber der Eindruck ändert sich, wenn man mit Sabine Constabel unterwegs ist und erlebt, wie sie mit größter Selbstverständlichkeit in die Bordelle der Leonhardstraße marschiert. Wie sie in den engen Altstadt-Häusern Kondome und Gleitmittel an die Frauen verteilt; wie sie einer schwangeren Rumänin einen Abtreibungstermin beschafft; und wie sie im engen Treppenhaus einen Freier anzischt: „Verbrecher!“
Um die Ecke der Altstadt-Bordelle liegt das „La Strada“. Jeden Dienstag und Donnerstag macht Constabel Dienst in dem Prostituierten-Café, das sie 1996 gemeinsam mit Schwester Margret gegründet hat. Die Sozialarbeiterin und die Nonne waren sich immer wieder nachts auf dem Straßenstrich begegnet. Beide suchten nach einem Ort, wo es warm ist und sie in Ruhe mit den Frauen sprechen können. Als in der Stuttgarter Altstadt Räume frei wurden, schlugen sie zu. So begann die Kooperation zwischen der Caritas, die die Räume zahlte, und dem Gesundheitsamt, das Sabine Constabel schickte.
Bis heute schaufelt Sabine gewaltige Mengen Essen den meist jungen und dunkelhaarigen Frauen ihre einzige warme Mahlzeit am Tag auf die Teller. Sie verteilt Schokolade und Stoffteddys. Und Wartenummern an alle, die zu der Gynäkologin wollen, die einmal pro Woche im ersten Stock gratis Behandlungen anbietet. Krankenversichert ist hier niemand, dafür grassieren Syphilis und Chlamydien und immer wieder ist hier eine Frau schwanger, von einem Freier.
Und wenn die Frauen, von denen die meisten aus den ärmsten Ländern Europas kommen und sehr oft Roma sind, von Sabine mit Respekt und wie ganz normale Menschen behandelt werden, dann ist der erste Schritt zum Ausstieg aus der Prostitution oft schon getan. Den zweiten können sie mit Sabine Constabel gehen, die einen Deutschkurs, Bürgergeld, einen Job in einer Krankenhaus-Wäscherei oder einem Discounter organisiert – vorausgesetzt, das Interesse und die Entschlossenheit der Frau sind ernsthaft.
„Der Ausstieg ist ein Prozess, der sich über Jahre ziehen kann“, weiß die Sozialarbeiterin. Besonders schwer ist es, wenn die Frau in einer „Beziehung“ ist, sprich: ein Mann von ihr profitiert. Oder wenn, was oft der Fall ist, die junge Frau von der eigenen Familie nach Deutschland geschickt wurde. Ihre Kinder, die sie natürlich nicht mitnehmen kann, seien dann ein beliebtes Druckmittel, damit die Frau möglichst viel Geld nach Hause schickt. „Dann heißt es: Jetzt wird es kalt und wir können deinem Kind keinen warmen Pullover kaufen.“ Manchmal kommt auch ein „Cousin“ nach Stuttgart und kassiert direkt.
Sabine Constabel ist nicht nur für „die Frauen in der Prostitution“, wie sie sagt, seit nunmehr 36 Jahren unermüdlich im Einsatz.
Von Anfang an wollte Constabel nicht nur im Stuttgarter Rotlichtbezirk etwas bewirken, sondern auch in der gesamtdeutschen Politik. Das ist ihr gelungen. Dass sich die CDU 2024 die Freierbestrafung in ihr Parteiprogramm geschrieben hat, daran hat die Sozialarbeiterin Sabine Constabel einen maßgeblichen Anteil. Und auch daran, dass es keine Talkshow mehr gibt, in der die Pro-Prostitutionslobby unwidersprochen und allein ihren Sermon von der „Sexarbeit“ als Akt „sexueller Selbstbestimmung“ verkaufen kann.
Sabine Constabel ist heute 66 und gerade „in den Ruhestand versetzt worden“, so heißt das bei BeamtInnen. Sie hat ihr Büro im Gesundheitsamt aufgeräumt und dabei in alte Ordner geschaut und festgestellt, wie sie seit 1991 unendlich viele Vorträge gehalten hat: Aufklärung über den Alltag der Frauen in der Prostitution, „vor Studentinnen oder in Kirchen, egal, ich hab einfach alles gemacht!“ Es gab Jahre mit hundert Veranstaltungen, viele davon neben ihrer Arbeit mit den Prostituierten. Außerdem bekam Sabine Constabel zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, die sie als alleinerziehende Mutter aufzog. Inzwischen ist sie Großmutter zweier Enkelinnen. Auch für sie ist sie immer da.
Von Anfang an wollte Sabine Constabel eine Stimme sein für die verstummten Frauen in der Prostitution. Die sprachen oft selbst nur ein paar Worte Deutsch und „hätten gar nicht die Kraft gehabt, sich in eine Talkshow zu setzen“. Doch Constabels Stimme wollte nicht jeder hören, schon gar nicht die Zuhälter und Bordellbetreiber, aber auch nicht jene Kolleginnen und Vorgesetzten, die es für fortschrittlich hielten und halten, von „Sexarbeiterinnen“ und der Prostitution als „Beruf wie jeder andere“ zu sprechen. „Es gab immer Gegenwind bis hin zur Dienstaufsichtsbeschwerde“, erinnert sich Constabel. „Aber mir war egal, ob ich gelobt oder ein Eimer Gülle über mich ausgeschüttet wurde. Es gab für mich einfach keine Alternative.“
EMMA berichtete 2007 zum ersten Mal über die unerschrockene Streetworkerin, besuchte sie im „La Strada“, veröffentlichte ihre Appelle. Und irgendwann waren die Zeiten, in denen die Stuttgarter Sozialarbeiterin als Einzelkämpferin unterwegs war, vorbei. Denn immer mehr Menschen hörten ihr zu.
Sie bringt den Landesfrauenrat Baden-Württemberg auf ihre Seite. Sie schreibt Offene Briefe an Fraktionsvorsitzende und an Bundeskanzlerin Merkel (die nicht antwortet) und sitzt 2013 als Expertin im Rechtsausschuss des Bundestages, neben ihrem Mitkämpfer Helmut Sporer, dem Augsburger Kriminalkommissar. Auch dort redet sie Klartext. „Die Frauen erzählen, dass sie die Schmerzen beim Verkehr nicht mehr aushalten, dass sie nicht mehr schlafen können, dass sie Albträume haben, dass sie an Selbstmord denken. Wir haben Frauen, die, wenn sie für einige Tage in ihrem Heimatland waren, mit Tüten voller Schmerzmittel und Psychopharmaka wiederkommen.“
Schließlich saß Sabine Constabel am 27. September 2015 in der Bundespressekonferenz und stellte Sisters e. V. vor. Seitdem kämpft Sabine nicht mehr allein.
Sollte jemand gehofft haben, dass Sabine Constabel im Ruhestand Ruhe gibt – daraus wird natürlich nichts. Zwar holt sie schon länger keine Prostituierten mehr an Weihnachten zu sich nach Hause, wie sie das früher gemacht hat. Aber sie wird weiterhin noch einmal die Woche im „La Strada“ Essen, eine warme Jacke und Termine bei der Gynäkologin verteilen. Plus Empathie und Respekt. „Ich hätte sonst das Gefühl, dass ich die Frauen im Stich lasse.“
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