Prostitution: Sie bleibt empört!
Es ist die Empörung, diese fassungslose und nicht nachlassende Empörung, die einen bei Cathrin Schauer-Kelpin überrascht. Nach über 30 Jahren Sozialarbeit für Frauen in der Prostitution müsste die doch schon alles gesehen haben, denkt man. Aber plötzlich bleibt sie mitten auf der Straße stehen und schaut einen kopfschüttelnd an. Und sagt in ihrem weichen Sächsisch: „Ist das nicht unfassbar? Kannst du dir sowas vorstellen?“ Als sähe sie alles zum ersten Mal.
Seit ein paar Tagen bin ich mit Cathrin in den Terminwohnungen der Umgebung unterwegs, in Hof und Plauen. Und gleich kommen wir an unserem nächsten Ziel an. Kaum sind wir in die Straße in diesem gediegenen Wohnviertel mit den schönen Altbauten im bayerischen Hof eingebogen, spüre ich, wie sie neben mir hochwachsam wird. Schlagartig ist sie still und beginnt systematisch und mit größter Aufmerksamkeit die Umgebung abzuscannen. Die Häuser, die Menschen, die Nummernschilder der Autos. „Hier“, sagt sie und macht eine kaum merkliche Kopfbewegung nach links zu einem parkenden schwarzen Van aus Litauen mit verdunkelten Scheiben. „Da vorne steht noch einer“, murmelt sie. Die Autos der Zuhälter.
Wir bleiben vor Haus Nummer 18 stehen. „Hier muss es sein“, sagt Cathrin und schaut die Fassade hoch. Alle anderen Häuser wirken frisch renoviert, dieses hier ist ziemlich heruntergekommen, die Briefkästen sind zerbeult. Cathrin legt den Kopf in den Nacken und lächelt. Lächelt in die kalt glänzende Videokamera, die von oben auf uns herunterschaut. Dann drückt sie bei „Sommer“.
Kurze Zeit später summt der Türöffner, und wir betreten den dunklen Hausflur. Ganz am Ende sehen wir zwei schmale Gestalten, neben einer geöffneten Tür. Es sind zwei junge Frauen Anfang 20, die uns misstrauisch entgegenblicken. „Hallo“, ruft Cathrin fröhlich und fährt mit ihrem sächsischen Singsang fort: „Ich komme von Karo, wisst ihr, der Verein, und ich wollte mal schauen, ob ihr was braucht, und ob es euch gut geht.“ Die beiden entspannen sich, lächeln und bitten uns nach einem kurzen Zögern in gebrochenem Deutsch herein.
Immer wieder werden wir an kalten Videokameras vorbei in dunkle Hausflure laufen, und immer wieder wird es Cathrin innerhalb von Sekunden schaffen, dass die Frauen, die in diesen Wohnungen anschaffen, ihr vertrauen. Cathrin steht einfach vor der Tür und leuchtet. Mit ihren roten langen Haaren, sorgfältig geschminkt und in knallbunten Klamotten, mit dazu passendem Ohr- und Armschmuck steht sie da und strahlt die Frauen an.
Als wir die stickige Wohnung mit den mit Alufolie abgeklebten Fensterscheiben 15 Minuten später wieder verlassen, hat Cathrin Gleitcreme, Kondome, Schokolade und Duschgel hinterlassen. Und kleine Flyer in verschiedenen Sprachen, auf der die Adresse und die Telefonnummer von KARO e. V. steht.
Wenig später sitzen wir in Plauen im Besprechungsraum von Karo e. V., diesem Verein, den Cathrin vor über 20 Jahren gegründet hat und der 1993 als Ein-Frau-Projekt begann. Wenn man Cathrin nach ihrem Leben fragt, besteigt man eine Achterbahn. Eigentlich wollte sie Hebamme werden, nach ihrem Krankenschwesterstudium in Plauen, Anfang der 1980er Jahre. Und das hätte sie auch werden können. Wenn. Ja, wenn sie in die Partei eingetreten wäre. Das hatte ihr der medizinische Direktor der Fachschule dringlich nahegelegt.
Cathrin, am 1. Mai, am Tag der Arbeit im Jahr 1963 geboren, hätte damals einen klassischen Weg in der DDR einschlagen können. Ihr Vater und ihre Mutter, er Deutsch- und Mathelehrer und dazu noch Schuldirektor, sie Verkäuferin in einem Intershop, rieten Cathrin dringlich, SED-Mitglied zu werden wie sie selbst. Aber die Tochter weigerte sich. Es wurde nichts aus der Säuglingsschwester und Cathrin arbeitete als normale Krankenschwester im Bezirkskrankenhaus.
Dann kam die Wende. Und mit ihr nahm Cathrins Leben in Plauen so richtig Fahrt auf. Sie baute das erste Frauenzentrum in der Stadt mit auf und arbeitete ehrenamtlich im Frauenhaus.
Mit der Wende explodierte auch die Prostitution im nur knapp 25 Kilometer entfernten Tschechien. Gleich nebenan, auf der LKW-Route E55, entstand Europas größter Straßenstrich. Gewalt, Elend, HIV, Geschlechtskrankheiten. Frauen und Kinder die Opfer.
Cathrin gründete das erste Streetwork-Projekt, eine Beratungsstelle im tschechischen Cheb. „Eigentlich wollte ich das gar nicht machen“, sagt sie und lacht, „aber ich hatte keine Wahl.“ Denn kurz zuvor hatte sie Marita kennengelernt, „eine wunderschöne Frau, Edelprostituierte“. Cathrin hatte Marita zu einer Lesung ins Frauenzentrum eingeladen, die „Edelprostituierte“ hatte gerade ein Buch geschrieben, Titel „Aids hat mir das Leben gerettet“. Aids als Retter vor der Prostitution. Marita starb kurze Zeit später an dem HIV-Virus, nicht ohne Cathrin eindringlich die Frauen auf dem Strich ans Herz zu legen. Cathrin hielt Wort.
Und wurde überflutet. Von Zwangsprostitution, Menschenhandel, sexueller Ausbeutung von Kindern. „Dass Eltern durch Babykleidung am Fenster signalisieren, dass man ihre Kinder kaufen kann!“, sagt Cathrin empört, „Ist das nicht unfassbar? Kannst du dir sowas vorstellen?“ 2033 gab sie, zusammen mit Unicef, ein Buch heraus: „Kinder auf dem Strich“.
Und dann bekam sie den vollen Gegenwind zu spüren. „Obwohl jeder wusste, dass ich die Wahrheit sage, haben es alle dementiert und gegen mich gewandt. Bis hin zum tschechischen Innenminister, der behauptete, ich hätte den Kindern Geld gegeben, damit sie solche Geschichten erzählen“, erinnert sie sich. Und prompt waren alle Medien vor Ort, und berichteten, bis hin zur New York Times. In der Deutschen Welle hieß es: „Einen solchen Aufruhr um ein Buch hat es Tschechien noch nie gegeben.“ Vor Cathrins Büro in Plauen stand die Pressemeute, sie schlich durch den Hinterausgang aus dem Haus.
Kurze Zeit später erhielt Cathrin einen Anruf aus dem Sozialministerium Sachsen. „Sie bekommen keinen Cent mehr für Ihr Projekt“, sagte die Frau am Ende der Leitung. „Genau in dem Jahr gewann Alice Schwarzer bei ‚Wer wird Millionär‘ 125.000 Euro und spendete sie uns. Das hat uns gerettet.“ Cathrin gründete mit dem Geld den gemeinnützigen Verein Karo e. V. Das kleine Streetwork-Projekt mit einer Mitarbeiterin wurde mit den Jahren zu einem Schutzhaus auf drei Etagen, sonnengelb und gut gesichert, mit 16 MitarbeiterInnen, viele in Teilzeit, aber immerhin. Karo wurde ein Erfolgsprojekt, das hunderten von Frauen aus der Prostitution in ein selbstbestimmtes Leben geholfen hat. Heute finanziert sich der Verein mit Spenden von Netzwerken gegen Kinderprostitution und der Aktion Mensch, aber auch durch zahlreiche Einzelspender. „Da muss man ständig dranbleiben, viele, viele Projektanträge schreiben“, sagt Cathrin.
Gerade geht an der offenen Türe eine Frau vorbei. „Schwer traumatisiert“, sagt Cathrin, „ein Opfer von ritueller Gewalt“. Mehr will sie nicht sagen. Aber das ist wieder so ein Thema, für das sie ordentlich Gegenwind bekommt. Gibt’s nicht, alles Einbildung, schallt es von der anderen Seite herüber. „Ist das nicht unfassbar?“ Und man versteht, dass es diese Empörung ist, diese nie versiegende Empörung, die ihr die Kraft gibt. Cathrin lässt sich einfach nicht unterkriegen. Und sie ist nicht allein, das weiß sie.
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